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Issue:

January/2000

Column:

21–24

Category:

Religious Studies

Author/editor:

Deutscher Bundestag, Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" [Hrsg.]

Title/subheadings:

Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen. Forschungsprojekte und Gutachten der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen".

Publishing Co.:

Hamm: Hoheneck 1998. 525 S. 8. ISBN 3-7781-0895-6.

Reviewer:

Reinhart Hummel

Staatliche Stellen haben lange einen Bogen um die Auseinandersetzung mit jenen Gruppierungen gemacht, die als Sekten, Kulte, Psychogruppen usw. bezeichnet werden. 1996 hat der Deutsche Bundestag schließlich die Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" eingesetzt, die 1998 ihren Endbericht vorgelegt hat (Drucksache 13/10950). Neben anderen Schwierigkeiten hatte die Kommission auch mit dem Mangel an relevanten wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, vor allem in Deutschland, zu kämpfen. Sie hat deshalb selbst Forschungsprojekte und Gutachten in Auftrag gegeben, die nun vorliegen.

Diese Genese ist für das Verständnis der (trotzdem lesenswerten) Publikation wichtig. Sie ist im Ansatz und oft auch im Detail von den Vorgaben der Kommission bestimmt, die ihrerseits an ihren Auftrag gebunden war. (Der Kommissionsbericht ist denn auch von bestimmter Seite kritisiert worden, weil er mit der Einbeziehung des Psychomarkts die Grenzen seines Auftrags überschritten habe.) Diese Grenzen waren mit Art. 4 GG gegeben: Die Kommission durfte keine "Bewertung von Religionen und Weltanschauungen" und keine Prüfung von "Glaubensinhalten" vornehmen, sondern musste sich auf die "Überprüfung und Analyse des Konfliktpotentials" beschränken, wie es im Vorwort zum Endbericht heißt. Es ist bezeichnend, daß zwei der jetzt vorgelegten Forschungsprojekte die umstrittene Scientology-Organisation bewusst ausklammern, wegen ihres ungeklärten Religionsstatus (303) und wegen des möglicherweise zu erwartenden "Ärgers" (241). Wer also wissen möchte, welches die Gruppierungen mit großem Konfliktpotential sind und worin die mit ihnen verbundenen Gefahren bestehen, wird in dieser Publikation vergeblich nach Antwort suchen.

Überhaupt erfährt man kaum etwas über gruppenpsychologische Vorgänge in diesen Gruppierungen und über dadurch möglicherweise ausgelöste Konflikte mit Familien und Umgebung. Vielmehr ist der Ansatz individualpsychologisch, konkret: an narrativ erhobenen Einzelbiographien orientiert, mit dem Ziel, Gründe für Eintritt, Karriere und möglicherweise Austritt aus "neureligiösen und weltanschaulichen Milieus und Gruppen" zu analysieren. Das geschieht im ersten Hauptteil in vier Untersuchungen, davon zwei über christliche Gruppen (W. Veeser und H. Streib), eine über fernöstliche (A. Schöll) und eine über "Psychokulte und Esoterik" (W. Fuchs-Heinritz/R. Kolvenbach/Ch. Heinritz). Teil II (S. Murken) liefert eine Untersuchung der "sozialen und psychischen Auswirkungen der Mitgliedschaft in neuen religiösen Bewegungen" aufgrund der vorliegenden (überwiegend angelsächsischen) Literatur. Teil III (G. Hellmeister/W. Fach) legt eine empirische Analyse des Psychomarktes vor, die die Ergebnisse einer Verbraucherbefragung von Nutzern "unkonventioneller Heil- und Lebenshilfemethoden" zusammenfasst und sensible Fragen nach Qualitätssicherung u. ä. anspricht, ohne sie selbst zu beantworten.

Die Ergebnisse von Teil I (und der anderen Beiträge) sind in den Grenzen der Vorgaben überzeugend: Aus der Perspektive der Probanden gesehen dient die Zeit der Gruppenzugehörigkeit dazu, das jeweils dominierende "Lebensthema" zu bearbeiten; die Dauer der Zugehörigkeit hängt weitgehend von der "Passung" zwischen individueller Struktur und Gruppenkultur ab. Aus mangelnder "Passung" kann beispielsweise der Typ des "akkumulativen Häretikers" erklärt werden, der von einer Gruppe zur anderen wandert. Der Austritt ergibt sich von selbst, wenn die Bearbeitung des Lebensthemas abgeschlossen ist. Die hier angewandte Methode engt zwar das Blickfeld ein und blendet die religiöse Thematik aus, leistet aber einen wertvollen Dienst. Ihre Ergebnisse tragen zur notwendigen Entdämonisierung des neureligiösen Bereichs bei, arbeiten der verbreiteten Sektenhysterie entgegen und widerlegen negative Pauschalurteile.

Es würde freilich nur wenig nützen, wenn diese durch eine ebenso pauschale Verharmlosung ersetzt würden. Ortrun Schätzle, MdB, die Vorsitzende der Enquete-Kommission, hat in ihrem Vorwort (6) einige Ergebnisse der Untersuchungen den populären Vorurteilen der "Sektenkritiker" entgegengestellt:

- Einstieg und Verbleiben in einer dieser Gruppen sind nicht als Ergebnis von Zwang und Manipulation zu verstehen.

- Die Gruppen dürfen nicht generell als "destruktiv", ihre Mitglieder nicht als "prämorbid" charakterisiert werden.

- Es gibt keine typische Sekten-Biographie und keine "Sekten-Persönlichkeit".

Das entspricht zwar einem verbreiteten Konsens, aber bereits die Einzeluntersuchungen drücken sich differenzierter aus als das Vorwort: Laut S. Murken gibt es keine "einheitliche Sektenpersönlichkeit" (327, 339); wohl aber "Hinweise auf einen gehäuften Anteil von Personen mit einer prämorbiden Persönlichkeit" (339). Murken ist überhaupt derjenige Autor, der am stärksten das Bedürfnis nach Differenzierung erkennen lässt: "Die (besorgte) Frage bleibt, ob ... eine Unterscheidung unterschiedlicher religiöser Gruppen möglich ist? Ich denke ja" (341).

Im Urteil des Rez. demonstrieren die Selbstvernichtungsaktionen des "Ordens der Sonnentempler" in den Jahren 1994-1997 die Notwendigkeit einer differenzierten Urteilsbildung und weiterer Forschungsarbeit. Die bisherigen Untersuchungen lassen vermuten: Die Mitglieder dieses Ordens waren ohne nachweisbare Manipulation beigetreten, sie waren überwiegend psychisch stabil, keine typischen "Sektenpersönlichkeiten" und hatten keinen öffentlich sichtbaren Anlass zum Urteil "destruktiv" gegeben. Trotzdem gab es zum Schluss über 70 Tote. Warum? Wenn Psychologen und Sozialwissenschaftler vermeiden möchten, dass "Sektengegner" aus solchen Vorfällen Kapital schlagen, müssen sie selbst überzeugende Erklärungen finden und über Unterschiede zwischen solchen und den "normalen" Gruppen (bzw. Gruppen in "normalen" und "unnormalen" Phasen) nachzudenken bereit sein. Dem zu religiöser Neutralität verpflichteten Staat und der nach seinen Vorgaben arbeitenden Forschung muss man zugestehen, dass sie das nur schwer leisten können. Umso notwendiger ist die Mitwirkung anderer Institutionen und Kräfte, umso unverzichtbarer auch die Frage nach religiösen Inhalten, Autoritäten und Abhängigkeiten. Auch dass sich "kein Zusammenhang zwischen der Art von Konflikten und der Art der beteiligten Gruppen erkennen lasse", wie es im Vorwort heißt, sollte nicht zu einem neuen Dogma werden. Hier ist vielmehr weitergehende Forschungsarbeit erforderlich, die die jeweilige Gruppe beim Namen nennt und ihr Glaubenssystem sowie ihre Praxis berücksichtigt.

Hier liegen auch die Grenzen der beiden Beiträge, die sich mit der sogenannten Sektenberatung befassen. Die Erfahrungen aus dem Bistum Aachen, die von H. Busch/D. Poweleit/ H.-J. Beckers in Teil IV dargestellt und ausgewertet werden, passen sich gut dem biographisch-individualistischen Ansatz des Gesamtbandes ein, zeigen freilich auch die unübersehbare Bedeutung der nichtreligiösen Faktoren in dieser Beratungsarbeit auf: Im Verlauf der Beratungsprozesse trete die Kultproblematik mehr und mehr zurück (402). - B. Roderigo, Leiterin des Informations- und Dokumentationszentrums Sekten/ Psychokulte in Köln, entwirrt in Teil V ein Modell für eine sachgemäße Aufgabenverteilung, in der alle Aspekte zu ihrem Recht kommen: Information und Aufklärung, psychologische Beratung und Therapie, Mediation bei Konflikten. Sie plädiert für eine Anbindung der Sektenberatung an das existierende Netz psycho-sozialer Beratungsstellen in Deutschland.

Die kirchliche Weltanschauungs- und Sektenarbeit sollte die damit gegebene Herausforderung ernstnehmen. Welches sind ihre Mittel und Ziele? Wie kann sie ihre (notwendige!) religiöse Positionalität wahren, ohne sich den Vorwurf zuzuziehen, sie würde unlautere "Antisekten-Beratung" betreiben? Was kann sie zur Verbesserung und Kontrolle (Supervision) ihrer Beratungsarbeit und zur Förderung wissenschaftlicher Forschungsarbeit in diesem Bereich tun? Die staatliche und wissenschaftliche "Konkurrenz", die sich in diesem Buch energisch zu Wort meldet, sollte die kirchliche Arbeit anspornen, ihre eigene Sache neu zu reflektieren und zu gestalten.