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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

615 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schwab, Ulrich

Titel/Untertitel:

Familienreligiosität. Religiöse Traditionen im Prozeß der Generationen.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1995. 293 S. gr.8° = Praktische Theologie heute, 23. Kart. DM 79,­. ISBN 3-17-013929-0.

Rezensent:

Friedrich Schweitzer

Die hier in gekürzter Form veröffentlichte Münchener Habilitationsschrift von 1994 gilt einem aktuellen Thema, das für Religionspädagogik in Schule und Gemeinde gleichermaßen bedeutsam ist: der in den Familien gelebten und vermittelten Religion. Gleichzeitig geht der Autor in methodischer Hinsicht neue, m. E. weiterführende Wege, die das Buch weiterhin empfehlen.

Die Darstellung ist schon vom Aufbau her klar und einleuchtend: Zwei einleitende Teile begründen die Fragestellung sowie die Vorgehensweise der Untersuchung. Die beiden Hauptteile (66-273) enthalten den empirischen Ertrag. Ein Schlußteil faßt thetisch übergreifende Ergebnisse zusammen.

Den weiteren Horizont stellt für den Vf. das neuzeitliche Verhältnis zwischen Theologie, Kirche und Religion dar ­ ein Verhältnis, das besonders im Blick auf den "freien Protestantismus" wesentlich als Frage religiöser Subjektivität angesehen wird. Entsprechend geht es um das Verhältnis zwischen Praktischer Theologie und Subjekt, wie es seit F. Schleiermacher und besonders zu Beginn des 20. Jh.s sowie in unserer eigenen Gegenwart in den Vordergrund rückt.

Den Ausgangspunkt der qualitativ-empirischen Untersuchung stellt vor diesem Horizont dann die verbreitete These vom "Traditions(ab-)bruch" dar, der zufolge sich im Laufe der Generationen "eine deutliche Veränderung" ergeben habe. Da diese These letztlich nur durch einen empirischen Vergleich zu erhärten oder zu widerlegen ist, entscheidet sich der Vf. für eine "Drei-Generationen-Untersuchung": Mit Hilfe von durch vorgegebene Bilder unterstützten Interviews wurden mehr als 100 narrative Interviews mit Angehörigen der Geburtsjahrgänge 1904-1976 (Großeltern, Eltern, Kinder jeweils einer Familie) durchgeführt ­ ein innovatives Untersuchungsdesign, das jedenfalls in der auf Religion bezogenen Sozialisationsforschung fast ohne Parallele ist. Bei der Auswahl berücksichtigt wurden sodann Stadt-Land-Unterschiede, alte und neue Bundesländer sowie unterschiedliche Soziallagen. Die Auswertung der Transkripte folgt den Vorgehensweisen narrativer Interviewinterpretation.

Die beiden Hauptteile des Buches bieten dann unterschiedliche Zugänge zu dem so gesammelten Datenmaterial:

Den ersten Hauptteil bildet ein auf die einzelne Familie bezogener Weg durch die Generationen. Auf diese Weise wird es möglich, Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen den Generationen einer Familie zu verfolgen.

Der zweite Hauptteil bietet eine an der Sozialgeschichte orientierte, auf die jeweilige Generationslage fokussierte Darstellung der lebensweltlichen und der in diese eingelagerten religiösen Zusammenhänge von (Familien-)Leben und religiöser Erziehung.

Der Vf. folgt dabei einem primär historiographisch-beschreibenden Interesse. Immer wieder werden einzelne Passagen aus den Interviews wiedergegeben und interpretiert. Übergreifende Tendenzen sowie vergleichende Betrachtungen beispielsweise zu den in den Interviews immer wieder angesprochenen Themen "Gebet" und "Gottesbild" bleiben hingegen im Hintergrund ­ eine Darstellungsform, die das Lesen manchmal etwas mühsam werden läßt und die, bei allem Respekt für die individuellen Lebenszusammenhänge, vielleicht doch um systematische Ausführungen und Analysen hätte ergänzt werden können.

Der etwas knappe, jedoch sehr interessante Schlußteil (274-281) hebt als Ergebnis hervor, daß "es sich keineswegs so verhält, als wäre die Distanz zur Kirche ein Problem der letzten 20 Jahre" (274). Kirchendistanz sei besonders im bürgerlichen Bereich teilweise eine alte, im bürgerlichen Selbstbewußtsein verankerte Familientradition. Bei Arbeiterfamilien hingegen sei sie auf die seit langem erfahrene Fremdheit der Sozialgestalt von Kirche zurückzuführen. Neu sei jedenfalls nur die Bereitschaft, aus der Kirche auszutreten. Anders als die These vom "Traditionsbruch" erwarten läßt, funktioniere auch die religiöse Sozialisation in der Familie ­ nicht freilich als Vermittlung von Kirchlichkeit, sondern darin, "daß sie die religiöse Selbsttätigkeit des Subjekts weiter vermittelt" (279) ­ ein Ergebnis das übrigens auch in neuesten empirischen Umfragen (J. Zinnecker/R. K. Silbereisen) Bestätigung findet.

Ein besonders durch seine in theoretischer Hinsicht überraschenden Ergebnisse und durch seine methodologisch weiterführende Anlage überzeugendes Buch, dem für Theorie und Praxis gleichermaßen große Aufmerksamkeit zu wünschen ist. Neues Nachdenken über die religiöse Familienerziehung ist erforderlich. Die wohlfeile These vom Traditionsbruch führt allein nicht weiter.