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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

613–615

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Knobloch, Stefan

Titel/Untertitel:

1. Was ist Praktische Theologie? 2. Praktische Theologie. Ein Lehrbuch für Studium und Pastoral.

Verlag:

1. Freiburg/ Schweiz: Universitätsverlag 1995. 268 S. gr.8° = Praktische Theologie im Dialog, 11. Kart. DM 47,­. ISBN 3-7278-1018-1. 2. Freiburg-Basel-Wien: Herder 1996. 383 S. gr.8°. geb. DM 78,­. ISBN 3-451-23965-5.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Stefan Knobloch, seit 1988 Professor für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz, hat binnen Jahresfrist gleich zwei Grundlagenwerke zur Praktischen Theologie vorgelegt. Der erste Band unter dem Titel "Was ist Praktische Theologie?" enthält so etwas wie die Prolegomena einer zeitgemäßen Praktischen Theologie aus deutscher katholischer Sicht; das Lehrbuch der Praktischen Theologie entfaltet darüber hinaus auch eine materiale Praktische Theologie einzelner kirchlicher und gemeindlicher Handlungsfelder. Dabei fällt dem evangelischen Leser dann allerdings sofort auf, daß in dieser Praktischen Theologie die Liturgik fehlt, die in der Enzyklopädie katholischer Theologie entweder von einem eigenen Lehrstuhl vertreten wird oder gar (bis zum Vatikanum II) in den Bereich der Moraltheologie oder des Kirchenrechtes gehörte.

In beiden Bänden sucht K. jedoch explizit die Praktische Theologie von den Prinzipien des 2. Vatikanischen Konzils her zu entfalten. Dies wird etwa an einer der zusammenfassenden Thesen deutlich: "Praktische Theologie ist jene theologische Disziplin, die die institutionellen Grenzen der Kirche nach außen und innen im Geist des 2. Vatikanischen Konzils in Frage stellt und an einer Entgrenzung des Volkes Gottes nach außen und innen arbeitet." (Was ist Praktische Theologie?, 242).

Ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt beider Bände ist die Auseinandersetzung mit dem Amtsverständnis und dem "pastoralen Notstand" (=Priestermangel) in den katholischen Gemeinden. Immer wieder übt K. Kritik an solchen Konzeptionen und kirchenamtlichen Verlautbarungen, welche "nicht Volk-Gottes-zentriert ­ im Sinne der Ekklesiologie des 2. Vatikanischen Konzils ­, sondern priesterzentriert" argumentieren und entscheiden (41). Als dritter charakteristischer Punkt sei die Unterscheidung des "Säkularisierungs- und Evangelisierungsparadigmas" im Anschluß an Norbert Mette genannt. Das Evangelisierungsparadigma ist nicht um die Kirche und ihre Zukunft zentriert, sondern fragt nach den Möglichkeiten, wie Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Nöte durch das kommende Reich Gottes aufgehoben werden können. Es handelt sich demnach um ein der (lateinamerikanischen) Befreiungstheologie unter deutschen Verhältnissen entsprechendes Paradigma von Theologie: "Das ’Heil der Seele’ ersetzt das Evangelisierungsparadigma durch die ’Gerechtigkeit’" (179).

Der Band "Was ist Praktische Theologie"? ist zunächst ein guter Forschungsbericht und als Einführung in den Stand der katholischen Praktischen Theologie gut geeignet. Didaktisch geschickt wird im ersten Kapitel die Notwendigkeit der Praktischen Theologie an Hand von Konflikten (Fall Drewermann, pastoraler Notstand u.a.) entfaltet (17-48).

Im zweiten bis siebenten Kapitel findet sich eine Geschichte der Praktischen Theologie vom Neuen Testament bis in die Gegenwart (wobei sich über eine solche Kapitelüberschrift selbstverständlich streiten läßt!). Hier erfährt man unter anderem, wie im Mittelalter die Moraltheologie und die Weitergabe des für die Beichtpraxis nötigen Wissens als "Praktische Theologie" bezeichnet wurden (59). Der Schwerpunkt liegt jedoch auf der Praktischen Theologie des 20. Jahrhunderts, wobei durchaus auch die evangelische Diskussion sorgfältig diskutiert wird (Gütersloher Handbuch der Praktischen Theologie, Dietrich Rössler, Gert Otto). Schließlich wird im achten und neunten Kapitel (195-237) das Methodenproblem der Praktischen Theologie verhandelt, besonders das Verhältnis zu den Human- und Sozialwissenschaften. Ob allerdings die befreiungstheologische Trias von "Sehen, Urteilen, Handeln" auf deutsche Verhältnisse übertragbar ist, halte ich mindestens für zweifelhaft. Daß man eine hochdifferenzierte Gesellschaft mit einer dualen sozialen Analyse ("eine aus der Perspektive der Herrschenden und eine aus der Perspektive der beherrschten Klasse", 214) erfassen kann, erscheint mir sehr fraglich.

Fragezeichen würde ich darüber hinaus an folgenden Stellen anbringen: Ist es wirklich angemessen, die "Postmoderne" mit der Selbstreflexivität als entscheidendem Kennzeichen zu charakterisieren (176)? Ist es sinnvoll, die Christologie des Chalcedonense für das Verhältnis von Orthodoxie und Orthopraxie ins Feld zu führen (181)? Mit dem Chalcedonense sollte die Praktische Theologie etwas vorsichtiger umgehen. Schließlich scheint mir die Gesprächspsychotherapie von Carl Rogers verzerrt dargestellt zu sein (226).

In dem Lehrbuch "Praktische Theologie" nimmt nahezu die Hälfte der erste Teil ein unter dem Thema: "Der pastorale Notstand. Wo liegt der Schlüssel zur Lösung?" (27-159). Teil 2 enthält die Poimenik unter dem Titel "Der einzelne Mensch" (161-262). Schließlich behandelt Teil 3 ("Die Gemeinde") die Kybernetik (263-358), und auch dieses Buch schließt wie das oben vorgestellte mit einer Ergebnissicherung in Thesen.

Das Kapitel über den pastoralen Notstand läßt sich in der These zusammenfassen, daß die Konzentration auf das hierarchisch und liturgisch verstandene Priesteramt aufgegeben werden muß zugunsten der gleichberechtigten Gemeindearbeit durch die anderen in der katholischen Kirche entstandenen Gemeindeämter (Diakonat und Pastoralassistentur). Das Kapitel ist sehr materialreich, und ich habe als evangelischer Leser eine Menge von Einzelheiten über die durchaus kontroverse Diskussion um das Amt in der katholischen Kirche und Praktischen Theologie erfahren. Im Sinne einer Konzentration hätte es jedoch hilfreich sein können, diesen Teil zu straffen und stattdessen forschungsgeschichtliche Abschnitte des anderen Buches mit in das Lehrbuch aufzunehmen.

Die Poimenik im zweiten Teil ist einem theologisch wie soziologisch konturierten Subjektbegriff verpflichtet, so daß der Schlüsselbegriff etwas überraschend die "mystagogische Seelsorge" ist. "Mystagogie" soll dabei keinesfalls liturgisch oder neomystisch verstanden werden, sondern sie ist verstanden im Sinne der Theologie Karl Rahners: Der Mensch wird an das Geheimnis herangeführt, das er immer schon ist, an "sein Gottesgeheimnis" (188 ). Mystagogische Seelsorge im Sinne des Autors meint den theologisch interpretierten "Prozess der Subjektwerdung" (196-202). Diese Poimenik wird von der "Sorge um das Seelenheil" (194) gerade abgesetzt, weil letztere die einzelne Person in ihrer Subjekthaftigkeit entmündige.

Der Schwerpunkt von K.s spezieller Poimenik liegt auf eher ungewohnten Gebieten: subjektorientierte Seelsorge mit Arbeitslosen und Obdachlosen, mit HIV-Infizierten und AIDS-Kranken, mit Alten und Kranken. Erst danach wird der Umkreis von Ehe, Taufe und Erstkommunion behandelt. Besonders das Kapitel über HIV-Infizierte und AIDS-Kranke ist von großer Dichte und Intensität (215-227). Gänzlich vermißt habe ich in diesem poimenischen Teil allerdings die Bezüge zur Pastoralpsychologie.

Die Kybernetik im dritten Teil berücksichtigt in breitem Maße religionssoziologische Forschungsergebnisse und entwickelt drei mögliche Gemeindeszenarien im Kontext der Moderne: den fundamentalistischen Rückzug, das alternativ-basiskirchliche Szenario und schließlich das Szenario pluriformer Gemeinden. An dieser Stelle setzt sich K. ­ verstehe ich ihn recht ­ von einem befreiungstheologisch-basiskirchlichen Gemeindemodell vorsichtig ab und kritisiert damit implizit seinen Entwurf aus dem Prolegomena-Band (dazu s. oben). Die Präferenz für nur ein einziges Kirchen- und Gemeindemodell wird im Interesse der Pluriformität explizit kritisiert (305), ohne daß der Autor seinem eigenen basisgemeindlich-subjektorientierten Ansatz untreu würde.

Insgesamt wird man demnach trotz der einzelnen Rückfragen über die beiden reichen Bände urteilen können: Obwohl darin eine explizite Homiletik, Liturgik und Religionspädagogik fehlen, liegt ein durchaus eigenständiger Entwurf vor, der nicht zuletzt evangelische Leserinnen und Leser über die gegenwärtige Praktische Theologie in der katholischen Kirche gut und umfassend informiert.