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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

609–611

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bobert-Stützel, Sabine

Titel/Untertitel:

Dietrich Bonhoeffers Pastoraltheologie.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1995. 384 S. 8°. Kart. DM 128,­. ISBN 3-579-02069-2.

Rezensent:

Dirk Schulz

Wenn die Rede auf Dietrich Bonhoeffer kommt, so herrscht landauf, landab die Meinung vor: Ach, der, über den wissen wir doch schon alles... Daß dem nicht so ist, zeigt beispielhaft die 1994 von der Humboldt-Universität zu Berlin angenommene Dissertation von Sabine Bobert-Stützel. Sie liegt seit 1995 unter dem Titel "Dietrich Bonhoeffers Pastoraltheologie" gedruckt vor und enthält erstmals eine umfassende Würdigung des Praktischen Theologen als Leiter des Predigerseminars der Bekennenden Kirche in Finkenwalde bei Stettin in den Jahren 1935-1937.

Die Vfn. versteht ihre Untersuchung "im umfassenden Sinne als einen Beitrag zum Selbstverständnis der Praktischen Theologie" ­ und zwar dadurch, daß in "quellenkritischer Forschung am Beispiel D. Bonhoeffers seine Rezeption der pastoraltheologischen Tradition" aufgearbeitet wird (9). Die historische Analyse leitet hin zu systematischen Überlegungen auf dem Feld der Pastoraltheologie. Bei all dem kommt der Vfn. zugute, daß sie jahrelang an der Edition des entsprechenden Bandes der neuen Ausgabe der "Dietrich Bonhoeffer Werke" ­ Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde 1935-1937, hg. von Otto Dudzus u. Jürgen Henkys (Gütersloh 1996) ­ mitgearbeitet hat und folglich alle verfügbaren Quellen (z. B. Vorlesungsmit- bzw. -nachschriften, Tagebücher, Briefe) zu ihrem Thema sehr genau kennt.

Nachdem in der Einleitung präzise der historische Ort von Bonhoeffers Überlegungen umrissen wird ­ illegale Theologenausbildung der Bekennenden Kirche ­ zeigt die Vfn. auf, daß Pastoraltheologie im Sinne Bonhoeffers durchgängig als "Zurüstung für den Kampf der Kirche" zu bestimmen ist; und zwar genauer als Zurüstung für den Kampf der allein wahren Kirche, die sich in ihrer Lehre und in ihrer Ordnung konsequent an den Beschlüssen der Bekenntnissynoden von Barmen und Dahlem (1934) orientiert, gegen die falsche Kirche auf der Gegenseite: das häretische Kirchenregiment der "Reichskirche" und die entsprechenden landeskirchlichen Konsistorien. Interessant ist hier die herausgestellte Nähe Bonhoeffers und der Finkenwalder vita communis zu Karl Barths entschiedenem Ruf aus dem Juli 1933: "Theologische Existenz heute!" ist auch als "pastoraltheologisches Manifest" zu lesen, das die vielfach verwirrten Geister zur Sache rief und dazu aufforderte, ein "geistliches Widerstandszentrum" zu bilden (11, 14 f.). Die drei prägenden Elemente der lutherischen Pastoraltheologie geben sodann die Gliederung der Darstellung vor: Amt, Person und Funktion des Pfarrers (27).

Aus dem ersten Hauptteil "Amt und Gemeinde" ist vor allem eine durchgehende Linie hervorzuheben: Die von Bonhoeffer vorgetragene trinitarische Ableitung der Ämter in der Kirche führt ihn zu der These von der "gleichursprünglichen Schlüsselgewalt" von Amt und Gemeinde (37). Und seine über die Pneumatologie vermittelte Lehre von den Charismen führt weiter zu der These von der "Gleichursprünglichkeit von geistlichem Amt und allgemeinem Priestertum" (55 ff.). Bonhoeffer zielt folglich darauf, über das Pfarramt hinaus die Fülle der selbständigen Gemeindeämter in den Blick zu nehmen. Alle zusammen sind für rechte Lehre und rechten Wandel in der Gemeinde verantwortlich. Kurz: Bonhoeffer kritisiert das Pfarramt als "Ein-Mann-System" (90) und ermuntert zu beteiligungsorientierten Modellen in der gemeindlichen Arbeit. Dabei weist die Vfn. das gern tradierte Vorurteil zurück, daß bei Bonhoeffer aufgrund seiner entschieden christozentrisch angelegten Theologie ein großes Defizit in der Pneumatologie zu beklagen sei. Man darf sich hier korrigieren lassen (vgl. 38 ff.).

Im zweiten Hauptteil "Die Pfarrer" sind vor allem drei Aspekte herauszustreichen: a) Die Verbindung von Funktionalität und Subjektivität, von Person, Amt und Gemeindebezug wird von Bonhoeffer mit Hilfe des zentralen Begriffs "der Zeuge" (97 ff.) thematisiert. Hier zeigt sich ­ ebenfalls quer zu einem gern wiederholten Vorurteil ­, daß von dem entschiedenen "Wort Gottes"-Theologen Bonhoeffer sehr wohl die subjektiven Eigenschaften des Pfarrers, des Liturgen und Predigers thematisiert und in der Ausbildung zum "Dienst am Wort" geschult worden sind. Das Sprechen im Gottesdienst ist zwar zuerst und vor allem ein "Sprechen als Hören auf die Rede Christi und [insofern] Christi Selbstvergegenwärtigung" (vgl. 104 ff.), aber es ist ebenso ­ und das will beachtet und gelernt sein! ­ "ein Sprechen als Dienst an der Gemeinde" (110 f.). "Demut" und "Sachlichkeit" gilt es folglich nach Bonhoeffer einzuüben.

b) Ausführlich beschreibt die Vfn. die in der Finkenwalder Kommunität eingeübte praxis pietatis als gemeinsames Einüben in die bruderschaftliche Existenz des Theologen, denn: "extra communionem nulla pietatis" (113). Die Entfaltung anhand der "drei Leitgrößen": Lehre (die Heilige Schrift, die reformatorischen Bekenntnisse und Barmen und Dahlem), Bergpredigt (als Zentrum für eine konkrete Praxis der Nachfolge Jesu) und spezielle Formen gemeinschaftlicher und individueller Frömmigkeit führt zu dem Ergebnis: "Es ging Bonhoeffer um einen genuin reformatorischen Ansatz, der das bruderschaftliche Element nach einer Geschichte individuellen Verfalls wieder aufzunehmen und zu leben versucht." Die kritische Größe dabei war: "für oder gegen Barmen und Dahlem". Es gibt "nach Bonhoeffers Verständnis für die damalige Zeit keine Pastoraltheologie an den Entscheidungen dieser beiden Synoden vorbei" (127).

c) Zudem zeigt sich (erneut), auf welch konkrete Weise die teils hochbrisanten politischen Themen wie Schulfrage, Flaggenfrage, Tyrannenmord, Pazifismus und insbesondere die "Ariergesetzgebung" von 1933 bzw. 1935 im Seminar diskutiert und theologisch reflektiert wurden. Vor allem Bonhoeffers Insistieren auf die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes ist hier hervorzuheben; sein Kampf nicht nur gegen jede Form von Antisemitismus, sondern ebenso heftig gegen jegliche Form von theologischem Antijudaismus (vgl. 30, 38, 128 ff. [’Kloster’ als Widerstandszentrum], 209).

Der dritte Hauptteil "Predigt, Seelsorge, Katechetik" enthält eine genaue Analyse von Bonhoeffers Vorlesungen zu diesen Bereichen pastoraler Praxis:

a) Hier zeigt sich bei genauem Hinsehen, daß der vielfach gern erhobene Vorwurf mangelnden Interesses der "dialektischen Theologen" an Fragen der "speziellen Homiletik" sich weitgehend von Unkenntnis nährt. Auch vor der sogenannten "empirischen Wende" in der Homiletik wußte man dort sehr wohl um die Bedeutung von Predigtformen, intensiver hermeneutischer, exegetischer, sprachlicher Arbeit an der Predigt und Hörerbezug. Einschlägiges Material hierzu wird von der Vfn. breit entfaltet ­ zudem sei auf den bereits oben erwähnten Band der "Dietrich Bonhoeffer Werke" verwiesen. Neben der Vorlesung über Homiletik sind dann die Homiletischen Übungen zu beachten!

b) Bonhoeffers Vorlesungen zu Seelsorge und Katechetik erhalten ihr spezifisches pastoraltheologisches Profil durch eine strikte Verankerung in der Ekklesiologie. Für die Seelsorgelehre ist zudem entscheidend, daß nach Bonhoeffer die Beichte als ihr Zentrum zu bestimmen ist (vgl. 308 ff.). Die Katechetik zeichnet sich dadurch aus, daß in ihr das Getauftsein der zu Unterweisenden als Ausgangspunkt bestimmt wird, mit dem Ziel, sie in die Gemeinde zu integrieren. Auch hier geht es Bonhoeffer um Einübung in die Nachfolge, und zwar in der Kirche ­ allein geht es nicht!

Der abschließende "Ausblick" bündelt knapp die Ergebnisse der historischen und systematischen Analysen und fragt nach Möglichkeiten und Grenzen einer heutigen Rezeption von Bonhoeffers pastoraltheologischem Konzept.

M. E. ist er leider allzu knapp geraten und auch zu allgemein gehalten (z. B. bezüglich der heiklen Sache mit der "Glaubwürdigkeit" des Pfarrers oder der Pfarrerin, oder hinsichtlich der pauschalen Rede von den "Privilegien" des parochialen Pfarramts u. a.). Nun, das kann davor bewahren, aus dem vorgelegten Buch nur das Inhaltsverzeichnis und den "Ausblick" zur Kenntnis zu nehmen. Die Leserin und der Leser würden sich damit keinen Gefallen tun, denn das von der Vfn. vorbildlich aufgearbeitete Material ist nützlich zu lesen. Nach der Lektüre wird man dann feststellen müssen, daß man vorher eben noch nicht alles über Bonhoeffer wußte. Und an der einen oder anderen Stelle wird man sich von der Vfn. auch getrost provozieren lassen dürfen, ihren Wertungen zu widersprechen.

Ein Wort zum Schluß hin zum Verlag: Die Klebebindung hat einen genauen Lektüregang überstanden, fraglich ist aber ob mehrere möglich sind, ohne daß das Buch auseinanderfällt. Und: Der Preis ist enorm!