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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

607–609

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Wenz, Armin

Titel/Untertitel:

Das Wort Gottes –­ Gericht und Rettung. Untersuchungen zur Autorität der Heiligen Schrift in Bekenntnis und Lehre der Kirche.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 343 S. gr. 8° = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 75. Kart. DM 98,­. ISBN 3-525-56282-9.

Rezensent:

Günther Gaßmann

Die vorliegende Dissertation wurde 1994 von der Universität Erlangen-Nürnberg angenommen. Der Vf. weitet den Rahmen der Arbeit über das mit dem Titel gegebene Thema in der Weise aus, daß die fundamentaltheologische Frage nach der Grundlegung von Theologie, theologischem Verstehen und christlichem Glauben und Leben sich wie ein Leitthema durch das Buch zieht, auf das hin die Frage der Autorität der Heiligen Schrift immer wieder angewandt wird. Damit ist eine der zentralen Fragestellungen gegenwärtiger theologischer Reflexion angesprochen. Wo diese Fragestellung ignoriert wird, könnte das Buch eine notwendige Herausforderung sein. Wo diese Fragestellung bewußter Teil der theologischen Arbeit ist, könnte das Buch mit seiner klaren Position eine nicht weniger starke Herausforderung sein, die eigenen Auffassungen im Gespräch mit dem Vf. zu überprüfen.

W. behandelt sein Thema im Rahmen der deutschsprachigen lutherischen systematischen Theologie der letzten Jahrzehnte. Dem wird im ersten und zweiten Kapitel ein historischer Vorspann vorausgeschickt. Im ersten Kapitel geht es um die Autorität der Heiligen Schrift in den evang.-luth. Bekenntnisschriften, die in diesen als die entscheidende Autorität für Lehre und Praxis der Kirche vorausgesetzt wird. Die Schrift wird in ihrer Klarheit und Suffizienz als Wort Gottes anerkannt, mit dem sie identisch ist. Gott ist es, der hier redet, in Gebot und Gabe, Gesetz und Evangelium, Gericht und Vergebung. Als fremdes von außen zukommendes Wort Gottes führt die Schrift zu einem Autoritätenkonflikt zwischen göttlichem und menschlichem Wort, zwischen unterschiedlichen Schriftauslegungen und schließlich zum eschatologischen Konflikt zwischen Gott und Teufel um in An-fechtung und Gewißheit des Glaubens. So sind Autorität der Schrift und Autorität des Evangeliums eins und sind identisch mit der Autorität des dreieinigen Gottes selbst.

Das zweite Kapitel behandelt die Autorität der Schrift im deutschen Kirchenkampf und setzte ein mit der These, daß der Kirchenkampf als Autoritätenkonflikt, als Konflikt um die Geltung der Schrift gesehen werden muß. Am Beispiel des "Betheler Bekenntnisses" von 1933 und anderer Texte wird die Rolle und Autorität der Heiligen Schrift in den Auseinandersetzungen um Verkündigung und Ordnung in höchst instruktiver Weise behandelt. Hier gilt: "Wo die Schrift nicht mehr Subjekt der Kirche, ihrer Lehre, Verkündigung und Ordnung ist, wird sie zum Objekt der sie auslegenden Kirche und fällt der unbarmherzigen Kritik durch die Normen der Zeit anheim" (98). Erkenntnis Gottes und Zugang zu ihm gibt es nur durch die Offenbarung des dreieinigen Gottes in der Schrift.

Im dritten und umfangreichsten Kapitel wendet sich der Vf. der Frage der Autorität der Schrift in der zeitgenössischen lutherisch-systematischen Theologie zu. Angesichts der Fülle des ausgebreiteten und kritisch interpretierten Materials, das der Vf. hier wie in den vorausgehenden Kapiteln mit unendlichem Fleiß zusammengeführt hat, müssen einige Aspekte und Ergebnisse genügen. Im ersten Teil des Kapitels werden jene lutherischen Theologen behandelt, von denen gilt: "Die Autorität und Klarheit der Schrift wird hier weitgehend nicht mehr vorausgesetzt, sondern bestrittenŠ Die Identifizierung von Schrift und Wort Gottes wird als zutiefst problematisch empfunden und daher abgelehnt oder von ergänzenden Faktoren abhängig gemacht" (126).

Die hier vom Vf. kritisch ins Visier genommenen Theologen sind G. Ebeling, H. Grass, W. Joest, F. Mildenberger, W. Pannenberg und W. Trillhaas. Bei ihnen allen, so das Urteil am Ende der Einzeldarstellungen, ist ­ trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen an die Stelle der vorgegebenen, autorativen claritas externa der Schrift die subjektive claritas interna des selbstverantwortlichen Theologen und Hermeneuten als Erfahrung, Medium, Grund und Selbstmitteilung des Glaubens und Verifikation der Sache der Theologie oder auch die ekklesial verankerte claritas interna im Zirkel von Überlieferungsgeschichte und heutiger Lebenswirklichkeit getreten. Die kanonische Endgestalt der Schrift ist nicht mehr verbindlich (201).

Der "Ungewißheit der Grundlage" wird im zweiten Teil des 3. Kapitels die "Gewißheit der Grundlage: Die Schrift als Autorität" gegenübergestellt. Die bei den o.g. Theologen angelegte "Perpetuierung der Grundlagenkrise der Theologie in Gestalt des hermeneutischen Prozesses" (205) wird mit den alternativen Positionen anderer lutherischer Theologen konfrontiert. Zu dieser Gruppe gehören J. Baur, O. Bayer, P. Brunner, H. Diem, H. Sasse E. Schlink, K. Schwarzwäller, R. Slenczka und J. Wirsching. In der Zusammenfassung der Auffassungen dieser Theologen kommt die das ganze Buch durchziehende Akzentsetzung des Vf.s besonders deutlich zum Ausdruck: Gottes geschichtliches Handeln wird für den Menschen heilsrelevant in mündlicher Rede und schriftlicher Gestalt tradiert, "so daß die daraus hervorgegangenen Texte als Verifikationen dieses Handelns von Gott selbst autorisiert sind. Im Medium des textgewordenen Wortes handelt Gott in jeder Gegenwart,Š indem er durch das Wort der Schrift in Verkündigung, Taufe und Abendmahl den gegenwärtigen Menschen zueignet, was er in Christus vollbracht hat" (283).

Darum ist der Schriftkanon die Autorität des auferstandenen, erhöhten und wiederkommenden Christus, und die Inspiration der Schriften ist so zu verstehen, "daß der Geist sich mit seinem geschichtlich konkreten Christuszeugnis an diese Schriften exklusiv gebunden hat" (284, an anderer Stelle ist vom "Werk des textgebundenen Geistes" die Rede, 286). In dieser und noch vielfältig anderer Weise wird die Autorität, Vorgegebenheit, Suffizienz, Selbstauslegung, Norm, Sakramentalität und heilsentscheidende Urteilskraft des Schriftdokuments herausgestellt.

Die abschließenden Kapitel 4 und 5 bieten noch einmal eine "Zusammenfassung" und als "Ausblick" eine theologisch-systematische Besinnung, in der aus den vorausgegangenen Darlegungen des Vf.s die naheliegende Folgerung gezogen wird, den offenbarungstheologischen Ansatz mit einer Normenlehre zu verbinden. Diese besteht im Aufweis der notwendigen und alleinigen Autorität der Heiligen Schrift für die Theologie, denn die Schrift ist "Autorität im Kontext des trinitarischen Handelns Gottes, wie es ihr verheißen und bezeugt und durch sie selbst wirksam in der Gegenwart fortgesetzt wird" (307).

So steht es wirklich da: Durch die Schrift wird das Handeln Gottes in der Gegenwart fortgesetzt. Dies ist ein Spitzensatz im kontinuierlichen Bemühen des Vf.s, das berechtigte Anliegen der Heiligen Schrift auf eine doch wohl häretische Aufwertung des Buchstabens zum Heilsmittel hin zuzuspitzen.

Weitere kritische Anmerkungen wären in aller Kürze: Die Methode des Vf.s ist fragwürdig, wenn er bei seinen Überblicken aus dem Zusammenhang herausgerissene Zitat- und Referatfetzen unterschiedlicher Herkunft in einem Satz aneinanderhängt, der dann mit drei oder mehr Fußnoten versehen werden muß. Auf diese Weise kann der Vf. die Aussagen einer von ihm vorgegebenen Tendenz zuordnen, auch wenn zuweilen Zitate und Verweise nicht so ganz "passen". Hier ist nur für ein Beispiel Platz. Im Blick auf die zuerst behandelte Theologengruppe schreibt der Vf., daß in dieser Gruppe die Identifizierung von Schrift und Wort Gottes zutiefst problematisch empfunden und daher abgelehnt wird. In der dazugehörigen Fußnote heißt es bei Trillhaas: "Es ist eine Gefährdung der evangelischen Grundlagen unseres Glaubens, wenn man Wort Gottes und Heilige Schrift mit der ’Bibel’ in ihrer Gesamtheit identifiziert" (126). Das ist sehr viel differenzierter.

Mit diesem Vorgehen verbunden ist der Eindruck, daß der Vf. in den Zusammenfassungen des 3. Kapitels seine eigenen Auffassungen stark einbringt und man sich fragt, ob die zuvor behandelten Theologen die z. T. scharfen Urteile wirklich verdienen. Das gilt erst recht für das 4. Kapitel "Zusammenfassung". Zielt hier die Kritik an der christlich-subjektivistischen Reaktion gegen das reformatorische Schriftprinzip (300) und die im Grunde ungeheuerliche Behauptung, daß man bei einem Vergleich der Positionen des Kirchenkampfes mit den heutigen theologischen Äußerungen, bei aller Distanz gegenüber der politischen Option der "Deutschen Christen", "eine weitgehende Ähnlichkeit in den Argumentationsstrukturen wie in den inhaltlichen Konsequenzen feststellen (muß)" (293), auf die in Kapitel 3 behandelte Theologengruppe oder vielleicht auf ganz andere theologische Tendenzen unserer Zeit?

Mit seiner absurden Anhäufung von über 2500 Fußnoten, seinen eingangs erwähnten Herausforderungen, seiner Fixierung auf These und Gegenthese und der souveränen Handhabung des akademischen Jargons, seinen vielen guten und seinen höchst problematischen theologischen Sätzen und seinem zweifelhaften methodischen Vorgehen ist dies ein wahrhaft komplexes Buch. Mit seiner Ignorierung von 450 Jahren Geistes- und Theologiegeschichte verkörpert es eine hochintelligente Apologie eines unreformatorischen Biblizismus, wie er seit einigen Jahrzehnten in der Lutherischen Kirche-Missouri Synode wieder an die Macht gekommen ist.