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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

604–607

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Plathow, Michael

Titel/Untertitel:

1. Freiheit und Verantwortung. Aufsätze zu Martin Luther im heutige Kontext. 2. Ich will mit dir sein. Kreuzestheologische Vorsehungslehre. Aufsätze zu Gottes Mitsein im Kreuz.

Verlag:

1. Erlangen: Martin-Luther-Verlag 1996. 375 S. 8°. ISBN 3-87513-098-7. 2. Berlin: Köster 1995. IX, 177 S. 8° = Wissenschaftliche Schriftenreihe Theologie, 1. ISBN 3-89574-018-7.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Plathow legt zwei Bände seiner Aufsätze vor, die erkennen lassen, daß er nicht nur systematischer Theologe, sondern auch Pfarrer und Seelsorger ist. Diese Verbindung von Lehre und Praxis zeichnet fast alle Aufsätze aus. Viele sind schon in verschiedenen Zeitschriften oder Sammelpublikationen erschienen. Ein Aufsatz erscheint in beiden Bänden.

Im erstgenannten Band (I), der im Zusammenhang mit dem Lutherjahr 1996 publiziert wurde, will P. deutlich machen, daß wir mit Luthers "theologischem Auftrag der Zukunft entgegenwarten". Er ist davon überzeugt, daß Luther der Sache der Theologie und in ihrem Anspruch an uns heute "weisende Orientierung" gibt: Dem "Menschen, Sünder vor Gott, widerfährt allein aus Gnade Erbarmen um Christi willen durch den Glauben" (9). Diese Überzeugung durchzieht die Aufsätze. In "Versöhnende Liebe und versöhnte Liebe" wird deutlich, daß alle menschliche Liebe Selbstverwirklichung des um sich kreisenden und in sich verkrümmten Menschen will. Das ist für Luther Unglaube, Ausdruck der Macht der Sünde im Menschen. Gottes Liebe aber "erschafft den Gegenstand, der für sie liebenswert ist" (Luthers Heidelberger Disputation, 28. These) Das Kreuz Christi ist "Real- und Erkenntnisgrund der Liebe des dreieinigen Gottes innerhalb seines trinitarischen und ökonomischen Lebens" (15, 31).

Mehrfach wendet sich P. dem Thema "Kreuz und Leid" zu. Es wird in ganz konkreten Situationen erfahren und wirft immer wieder die Frage nach Gott auf. Der Mensch darf wissen, daß er in Kreuz und Leid nicht allein ist, Gott ist ihm verborgen nahe. Trost ist hier nicht Vertrösten, sondern "sinngebundenes Hoffnungszeichen in Leid und DunkelŠ" (44). Selbst in der umfangreichen Studie über Luthers Rede vom Hl. Geist (45-80) wird dieser Ansatz durchgehalten. P. sieht bei Luther eine im gekreuzigten Christus zentrierte kondeszendete Pneumatologica crucis (79). Er versucht mehrfach, psychoanalytische Erkenntnisse kritisch für die Theologie fruchtbar zu machen, so in "Menschenleid als Leiden an Gottes Verborgenheit" (81-104), "Christus als Arzt" (105-117) und "Angst und Hoffnung" (118-134).

P. erkennt in T. Mosers "Gottesvergiftung" unter psychoanalytischen Bedingungen seine Erfahrung von Gottes Zorn und sein psychisches Leiden an eigener Schuld und am Verbergen des allgegenwärtigen Gottes. Nach Luther kann allein vom Leiden und Sterben Christi her die Überwindung des Zornes Gottes erfahren werden: "Sache des christlichen Glaubens und der Theologie ist die cognitio dei et hominis als homo reus et perditus und als deus iustificans vel salvator". Moser hat ein pervertiertes Gottesbild entlarvt und so die Theologie herausgefordert und vor Vereinfachung gewarnt (102 ff.). Die Gemeinde versteht P. mit Luther als "Spital Gottes"; doch sind Gemeinden dazu fähig?

In Anlehnung an Kierkegaard und in Auseinandersetzung mit Bloch (und Moltmann) steht für ihn Hoffnung und Angst als Ausdruck der Erbsünde hart entgegen: "Der Real- und Erkenntnisgrund für das neue Leben jetzt und in Ewigkeit liegt in der Auferstehung Jesu Christi, der Äonenwende mit dem Anbruch des Reiches Gottes" (132).

In beiden Bänden steht der Aufsatz "Das Cooperatio-Verständnis M. Luthers im Gnaden- und Schöpfungsbereich" (I, 135-158; II, 67-86).

P. sieht bei Luther, daß dieser von "Gottes Mitwirken bei Sünde und Leid" sprechen kann, jedoch als Äußerung "von Gottes geheimnisvoller Gegenwart und seinem unbegreiflichen Mitsein und Mitleiden" (141). Trotz aller Sünde erhält und lenkt Gott die in Selbstzerstörung befindliche Schöpfung. Dazu wirkt Gott in seinen Geschöpfen, "Gott wirkt nicht in uns ohne uns"; Gottes Allmachtswirken und unser instrumental verstandenes Mitwirken ist zu einer Einheit verbunden als ein "Inwirken" (145 f.).

Zur Engellehre finden sich zwei Beiträge (I, 159-188; II, 33-52). Wir dürfen das Thema nicht der Esoterik überlassen. Luther sprach über die Engel dem biblischen Zeugnis gemäß. Sie sind nicht "concreatores", aber Gottes Mitarbeiter; sie bewirken nicht die Menschwerdung, verkündigen sie aber; sie bewirken keinen Glauben, stehen aber in Anfechtungen bei.

Zwei Aufsätze sind ökumenischen Themen gewidmet: "Die Bedeutung der ’Ortskirche’ in der lutherischen Ekklesiologie" (I, 189-212), "Die römisch-katholische Stellungnahme zum Lima-Dokument aus evangelischer Sicht" (I. 230-252). P. glaubt, daß die lutherische Ekklesiologie sich in den ökumenischen Texten niederschlägt, die Heilserkenntnis im Rechtfertigungsglauben, die eschatologische "Kampf"situation der ’Ortskirche’ in einer "ecclesiologia crucis", ihre "communio"-Struktur, ihre personale, kollektive und gemeinschaftliche Form der Leitung.

Sie sei der Keim der Gesamtkirche; er glaubt, daß die notae ecclesiae als hinreichende und notwendige Bedingung der Einheit der Kirche erkannt seien.

Beim Berufsbild (P. spricht von "Berufskunst"!) des Pfarrers will er nicht von Konfliktsituationen ausgehen, sondern vom geistlichen Auftrag und seiner theologischen Verantwortung. Für seine Berufskunst hat das Gebet konstitutive Bedeutung. Ergänzt werden diese Ausführungen in II, 138-150: "Dogmatische Aspekte zum Zusammenwirken von Amt und Gemeinde" und in II, 151-163: "Arbeit in der Kirche: Mitarbeiter Gottes und Arbeitnehmer der Kirche" mit der Hervorhebung unterschiedlicher Charismata. Es wäre zu wünschen, daß der "Trost der Ordination" deutlicher benannt würde.

Auch mit Drewermann setzt sich P. auseinander. Er fragt nach dem Verhältnis von Mythos und Geschichte; bekommt nicht die Psychoanalyse Offenbarungswert, Theologie und Verkündigung bestimmend?

Weitere Thesen in I sind: "Widerstand ­ aus evangelischer Sicht" (hier vermißt Rez. ein Eingehen auf die Erfahrungen von 1989!), "Europa ­ Eine Herausforderung an das evangelische Freiheitsverständnis in Theologie und Kirche" (gibt es wirklich so viele "reformatorische Gemeinsamkeiten"?), "Bildhafter Glaube" (P. hebt die bildreiche Sprache Luthers hervor, mit denen er den ganzen Menschen ansprechen will) und untersucht "Aspekte zu Martin Luthers Kreuzestheologie heute: Crux probat omnia" (offensichtlich vor dem Kruzifixurteil verfaßt); P. sieht in der Kreuzestheologie kein dogmatisches System, es geht bei ihr um das Heil im gekreuzigten und auferstandenen Christus.

Im zweiten Band (II), dessen Untertitel nur die ersten Aufsätze umfaßt, untersucht P. zuerst Briefe als lebensgeschichtliche Erzählungen als lebendiges Zeugnis "exemplarischer Christen" (Apol. XXI). Dem Thema "Zeit und Ewigkeit" (II, 13-32) wird heute viel Aufmerksamkeit gewidmet.

P. schreibt: "Zeit ist im christlichen Glauben und in der den Glaubenden bedenkenden Theologie gegebene Zeit, mit der Schöpfungstat Gottes (Gen. 1,4 f.) gegeben und geschaffen", wohl gebrochene, aber doch erhaltene und versöhnte Zeit in der Zeitlichkeit der Schöpfungs- und Heilsgeschichte wie ein Strom aus der Vergangenheit in der Gegenwart auf die Zukunft hin, vollendet im Eschaton (22, 30, 2).

Der Vf. weist auf die Bedeutung hin, die gegenwärtig (im Gespräch mit der Chaostheorie) die providentia naturalis einnimmt, oft verbunden mit Zeitangst und Selbstsorge. Gott handelt nicht bloß mit den Naturgesetzen als Ausdruck seiner Schöpfungsordnung, er handelt in Freiheit, und wir erfahren sein Handeln als Widerfahrnis der Rettung und Erlösung, im treuen Begleiten seiner Geschöpfe trotz deren Widerstands gegen seine Wege und seinen Willen (vgl. Phil. 2,12 f.).

Für P. sind die Schriften Bonhoeffers wichtig. Das wird vor allem im Aufsatz "Die Mannigfaltigkeit der Wege Gottes" (II, 87-105) deutlich: "Der Gott, der uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen." Das "’deus semper minor pro nobis’ bedeutet ’deus semper maior’" (95, 105). Ähnliches gilt für die Aufsätze "Wie aus Schicksal wirklich ’Führung’ wird" und ",Glück’ und ’Leid’" (II, 106-118; II, 137).

Am Ende steht der Aufsatz "Missionarische und ganzheitliche Seelsorge. Zu M. Bucers Verbindung von Kirche und Öffentlichkeit" (II, 164-177).

Unter den Druckfehlern seien nur diese genannt: I, 91 muß es H. Bandt (nicht Brandt) heißen, I, 99 Boman, nicht Bomann, I, 299 Berggrav, nicht Berggraf, II, 51: Rahner, nicht Rahmer.

Bei der Lektüre fragt sich der Rez., ob der Autor nicht doch manchmal Luther und Barth zu sehr harmonisiert (vgl.I, 44; II, 24 ff., 99 u. a.).

So verständlich es ist, daß der Autor seine verschiedenen Aufsätze zu-sammengefaßt veröffentlichen läßt, so wünschte man sich doch eine Zusammenfassung dessen, was in den Aufsätzen dargelegt ist. Eine systematische "Kreuzestheologische Vorsehungslehre" ist ein Desiderat. Die Aufsätze, deren Inhalt sich manchmal wiederholt, sind ein Schritt dahin.

Insgesamt liest man die Aufsätze mit Gewinn, vor allem, weil sich Dogmatik und Poimenik vielfach begegnen. Das ist sonst selten der Fall.