Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

603 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Hummel, Gert [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

The Theological Paradox. Das theologische Paradox. Interdisziplinäre Beiträge zur Mitte von Paul Tillichs Denken. Beiträge des V. Internationalen Paul Tillich Symposium in Frankfurt/Main 1994.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1995. 263 S. gr.8° = Theologische Bibliothek Töpelmann, 74. Lw. DM 138,­. ISBN 3-11-014995-8.

Rezensent:

Bernd Oberdorfer

Tagungsbände wie der vorliegende richten sich zunächst an die Fachspezialisten, können aber auch der weiteren Fachöffentlichkeit einen Einblick in den Diskussionsstand und die Problemstellungen der Spezialforschung bieten. Die von Gert Hummel herausgegebene Sammlung der "Beiträge des V. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt/Main 1994" ­ sie folgt den in derselben Reihe und von demselben Herausgeber veröffentlichten Dokumentationen der beiden vorangegangenen Symposien ­ unterstreicht diesen Anspruch auf allgemeine Beachtung, indem sie in ihrem Untertitel statt Detailuntersuchungen "Interdisziplinäre Reflexionen zur Mitte von Paul Tillichs Denken" verspricht. Diese Mitte ist in dem Titel "Das theologische Paradox" benannt. Interdisziplinär sind die teils deutsch, teils englisch abgedruckten Beiträge von Autoren internationaler Provenienz, insofern sie sich der avisierten Mitte aus unterschiedlichen Richtungen annähern. Wenn dabei freilich die gängigen dogmatischen, theologiegeschichtlichen und besonders religionsphilosophischen Zugänge dominieren, so korrespondiert dies durchaus der Beschreibung der "Mitte" von Tillichs (= T.) Denken als "theologisches Paradox".

Die Aufsätze sind in drei (freilich nicht sonderlich trennscharfen) Gruppen angeordnet: Der fundamentaltheologische Teil I ("Das Paradox als Kategorie des theologischen Denkens") ist gleichsam gerahmt durch prinzipielle kritische Anfragen von O. Bayer, der T.s paradoxales Denken durch ein zugrunde liegendes idealistisches Einheitskonzept nivelliert sieht, und J.-Cl. Petit, dem T.s "sehr starke Akzentuierung des paradoxalen Charakters des Offenbarungsereignisses auf Kosten der geschichtlichen Dimension der Offenbarung" zu gehen scheint (78); er enthält neben Überlegungen zur (paradoxen!) impliziten christologischen Prägung von T.s Religionsphilosophie (W. Schüßler) und zum notwendig paradoxalen Charakter von Theologie überhaupt (Ch. E. Winquist) auch Aufsätze zur Bedeutung des Paradoxie-Begriffs in verschiedenen Werkphasen T.s (E. Sturm; J. Richard; Y. Spiegel).

Der zweite Teil ist dem "Paradox als Methode dogmatischen Verstehens" gewidmet und konzentriert sich auf die Christologie als den Nukleus von T.s theologischer Paradoxologie. Gilt dies unausgesprochen schon für die allgemeine Gotteslehre, der sich die Beiträge von R. P. Scharlemann (er interpretiert T.s paradoxen Symbol-Begriff von Heideggers Begriff der "Anwesenheit" her) und W. Stoker (paradoxe wechselseitige Stellvertretung von Unbedingtem und Bedingtem) zuwenden, so untersucht A. J. Reimer ausdrücklich "T.s Christology in Light of Chalcedon"; ebenso geht G. Keil unter Berufung besonders auf Kierkegaard von einer paradoxalen Bestimmung des Menschen "zwischen Endlichem und Unendlichem" aus und fragt, inwiefern sich dieses "anthropologische Grundparadox christologisch lösen läßt" (152 f.), während die Überlegungen von B. Schmitz zur "Transformation" des christologischen Paradoxes "in die Sprache der Symbole" wieder einen Bogen zurück zu Scharlemann schlagen. Aus dem Rahmen fällt der Vortrag von G. Vahanian, der T.s Christologie kirchenkritisch im Sinne eines radikal säkularen Christusbildes zu überbieten versucht, das allein in der Gegenwart dem theologischen Paradox zu entsprechen geeignet sei. Dieser Text hätte auch dem III. Teil zugeordnet werden können, der unter dem Titel "Das Paradox als Funktion religiöser Rede und Praxis" verschiedene Beiträge vereinigt, die T.s Werk in irgendeiner Form mit Zeit- und Gegenwartsdeutung verbinden. Spricht M. Dumas von der "Schwierigkeit, heute von Gott zu reden", diskutiert R. Giannini "Some Aspects of English and American Culture seen in the Light of Paul Tillich’s Reaction to the War’ und weist dabei hin auf vielfältige Bezüge zwischen T. und der Kunst seiner Zeit. Mit der paradoxalen Struktur von religiöser Architektur behandelt B. Reymond ein ungewöhnliches Thema, das auch von T. selbst nicht hinreichend wahrgenommen wurde, aber durchaus mit seinen Theoriemitteln beleuchtet werden kann. Nicht ganz klar ist, warum G. O. Mazurs Beitrag zu T.s Wissenschaftstheorie nicht in Teil I eingeordnet worden ist. Hingegen greifen die "Cross-Cultural and Feminist Applications’ von M. A. Stenger bewußt und provokativ Gegenwartsströmungen auf, die den ruhigen Fortgang des immanenten wissenschaftlichen Fachgesprächs durch radikale Außenperspektiven produktiv gefährden. Der Band endet mit T. Thomas’ Vergleich von T.s und Eliades Deutung der Religionsgeschichte.

Die durchweg gut lesbaren Texte machen die These vom Paradox als der Mitte von T.s Denken durchaus plausibel und erinnern an die Leistungsfähigkeit dieser Denkfigur für die Behandlung grundlegender religionsphilosophischer und dogmatischer Fragen. Allerdings scheint das Paradoxale gelegentlich überstrapaziert, so etwa wenn W. Schüßler T.s "Religionsphilosophie und Religionstheologie" in einer selbst "mimetisch"-paradoxen Weise, nämlich unter der Gestalt profaner Wissenschaft, ganz vom "christologischen Paradox" geprägt sieht. Daß dies faktisch so ist, leuchtet ja ein und ist ein weiterer Beleg dafür, daß T.s Denken ungleich stärker traditionellen Fragestellungen verbunden geblieben ist, als seine kirchlich-konservativen Kritiker unterstellten.

Doch Schüßler macht diesen apologetischen Zug besonders stark und fragt nicht weiter, welche Folgen dies für die Bedeutung von T.s Religionsphilosophie im allgemein-wissenschaftlichen Gespräch hat, wo diese paradoxale Mimesis doch kaum auf axiomatische Zustimmung treffen wird, sondern als implizite christliche Vereinnahmung interpretiert werden könnte. Wäre es da gerade für das Gespräch mit den modernen Verächtern der Religion nicht besser, die implizit christliche Voraussetzung der Religionsphilosophie deutlich auszusprechen? Oder hat der Begriff der Mimesis bei Schüßler nur die Funktion einer immanent-theologischen Rekonstruktion der Legitimität einer radikal vom Christentum losgelösten Religionsphilosophie? Dies entspräche dann etwa der Forderung Vahanians nach einer radikal säkularen Christologie. Wenn O. Bayer hingegen (in der einzigen fundamentalen T.-Kritik des Bandes) das Verhältnis von Allgemeinem und Christlich-Besonderem bei T. genau umgekehrt liest und T.s Theologie kritisch in ihrem Kern von einer philosophischen Einheits-Metaphysik dominiert und domestiziert sieht, entgeht er diesem Vereinnahmungsverdacht; es wäre dann allerdings zu zeigen, wie das (von allen Beiträgen ausgesprochen oder unausgesprochen vorausgesetzte) Spezifikum von T.s Werk (und Biographie), die gelassene Bejahung der modernen Kultur und deren religiöse Deutung, unter solchen veränderten Denkbedingungen bewahrt werden kann. Möglicherweise kann durch ein stärkeres Partikularitätsbewußtsein die Pluralität der (nach-)modernen Welt eher ernst genommen werden als durch die bei T. durchaus zu beobachtenden Totalisierungstendenzen; möglicherweise könnten aber diese Tendenzen durch eine konsequentere Anwendung von T.s Paradoxie-Begriff selbst (gleichsam mit T. gegen T.) korrigiert werden. Eine solche kritisch-(nach-)moderne Perspektive ist aber in dem Band kaum zu erkennen. Überhaupt machen die Beiträge einen etwas zeitenthobenen Eindruck; mit wenigen Ausnahmen könnten sie auch vor 25 Jahren entstanden sein. Für eine Aufsatzsammlung über den höchst gegenwartssensiblen T. ist das freilich ein einigermaßen befremdlicher Befund.