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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

591–593

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Grunden, Gabriele

Titel/Untertitel:

Fremde Freiheit. Jüdische Stimmen als Herausforderung an den Logos christlicher Theologie.

Verlag:

Münster: LIT 1996. 251 S. gr.8° = Religion ­ Geschichte ­ Gesellschaft, Fundamentaltheologische Studien, 5. geb. DM 58,80. ISBN 3-8258-2572-8.

Rezensent:

Christoph Münz

"Die Lebenden zu verstehen, die vitalen jüdischen Traditionen zu ergründen ­ darin liegt eine bis heute kaum übernommene Aufgabe christlicher Theologie. Dies gilt auch angesichts der wachsenden Bemühungen um einen christlich-jüdischen Dialog, die... eine systematische Reflexion auf den hermeneutischen Horizont jüdischen Denkens vermissen lassen" (1).

Mit diesen programmatischen Worten eröffnet die Autorin eine Studie, die ihrem Anspruch und ihrer Methode nach den Versuch unternimmt, in Verantwortung gegenüber der "Schuldgeschichte" (1) des Christentums die Kennzeichen einer "christlichen Gottesrede" zu bestimmen, ohne dabei den "unheilvoll belegten antijüdischen Triumphalismus... erneut [zu] reformulieren" (2). Methodisch konsequent, gedanklich erhellend und stellenweise mit beeindruckend sprachlicher Sensibilität kommt die Autorin dabei der von Johann Baptist Metz aufgestellten Forderung nach, daß "christliche Theologie endlich von der Ansicht geleitet sein [muß], daß Christen ihre Identität nur bilden und hinreichend verstehen können im Angesichte der Juden".

In einem ersten, mit "Jüdische Perspektiven" überschriebenem Kapitel werden die jüdischen Jesusdeutungen von Joseph Klausner, David Flusser, Martin Buber und Schalom Ben-Chorin vorgestellt. Bei allen Unterschiedlichkeiten können gerade die Gemeinsamkeiten dieser jüdischen Jesusdeutungen nach Ansicht der Autorin dazu dienen, "die heuristische These dieser Arbeit von einer spezifisch jüdischen Hermeneutik" (90) zu stützen. Indem alle genannten Autoren die tiefe Verwurzelung von Leben und Lehre Jesu in der jüdischen Tradition herausarbeiten, vermögen sie auf die unhintergehbaren "jüdischen Voraussetzungen der Christologie aufmerksam" (92) zu machen. Vor allem aber die in allen Deutungen im Zentrum stehende Auseinandersetzung mit Jesu Verhältnis zur Thora läßt die Erkenntnis deutlich werden, wie sehr aus jüdischer Perspektive "die Ethik Jesu... als verdichtete Thora" (96) begriffen werden kann. Der dynamische und dialogische Grundcharakter der Thora findet in Jesus seine Zuspitzung und führt insofern "nicht über die Thora hinaus, sondern in die Lebendigkeit des Buchstabens" (96) und mithin in die Tiefe jüdischen Selbstverständnisses hinein. Hieran anknüpfend entwickelt G. in einem zweiten Teil ("Der andere Logos der Theologie: Die hermeneutische Gestalt jüdischen Denkens") anhand des Denkens drei der bedeutendsten jüdischen Philosophen des 20. Jh.s ­ Hermann Cohen, Franz Rosenzweig und Emanuel Levinas ­ die Besonderheit jüdischer Hermeneutik, die sie mit dem nicht unproblematischen Begriff einer "Exilshermeneutik" (153) belegt. Ihr wesentliches Kennzeichen ist darin zu sehen, daß sie "als eine Reaktion auf eine Situation zu deuten [ist], in der bisheriges Verstehen und bisherige Sprache problematisch wurden" (153).

Der hieraus erwachsenden dialogischen Kraft jüdischen Denkens, die ­ entgegen "blutdurchtränkte[r] Traditionsbrüche" ­ immer wieder "in der Relecture vergangener Traditionen Kraft und Orientierung für die Deutung der Gegenwart" (153) findet, stellt sie die "Fixierung des abendländischen Denkens" und christlicher Theologie "eine(r) Begriffslogik" gegenüber, die "eine Verkürzung der Sprache um ihre entscheidende Dimension, nämlich um die Einbettung einer jeden Rede in einen Dialog" (155) bedeutet. Die jüdischerseits biblischer und rabbinischer Tradition verpflichtete, immer wieder neu zu leistende Kommentierung der Schrift "duldet keine Spiritualisierung, sondern entspringt einer Mystik der aufgeschreckten Ohren" (157), bei der Textauslegung und Existenzdeutung, Lebensform und Denkform immer aufeinander bezogen bleiben. Einer christlichen Theologie, die geschichtsunsensibel den Schrei der gequälten Kreatur überhört und "im Bann ihres Universalitätsanspruchs" (110) den Dialog zugunsten des dogmatischen Monologs mißachtet, steht jüdischerseits der "Protest gegen die Totalität im Namen offener Unendlichkeit" (159) gegenüber, dem es gelingt, "Zwischenräume, Deutungsräume offenzuhalten" (164).

Vor diesem Hintergrund fragt die Autorin mit den Worten Elmar Salmanns zu Recht: "Müßte nicht eine erneuerte Theologie viel mehr als üblich des Bruches zwischen Gott und Welt, Christus und Kirche, Dogma und Praxis und endlich des namenlosen Leides wie der Notwendigkeit, den einmaligen Namen eines jeden zu erfinden und zu retten, eingedenk sein, ohne alles sofort wieder staurologisch oder pneumatologisch ein- und aufarbeiten zu wollen?" (165).

Inwieweit dies neueren christlichen theologischen Ansätzen gelingt, überprüft die Autorin in einem letzten Teil ("Zur Hermeneutik verpflichtet: Zum christlichen Logos der Theologie") exemplarisch anhand der transzendentalphilosophisch orientierten Theologie von Thomas Pröpper und dem der politischen Theologie verpflichteten Ansatz von Johann Baptist Metz, wobei vor allem letzterer mit seiner Entfaltung einer theologisch begründeten, erinnerungsbegabten, zeit- und leidempfindlichen Vernunft sicher am ehesten einer christlichen reformatio des Denkens den Weg weist, indem Metz die von der Autorin skizzierte jüdische Hermeneutik als herausforderndes Korrektiv ernst nimmt.

Ob freilich die von der Autorin in der Summe gezogene Strukturanalogie zwischen der jüdischen Bindung an die Thora und dem christlichen Bekenntnis zu Christus eine tragfähige theologische Zukunftsperspektive erschließt, wird sich nicht zuletzt erst an einer anderen christlichen Praxis vor allem dem Judentum gegenüber erweisen müssen. Daß die christologischen Folgeprobleme ihres Denkansatzes ein Hauptproblem darstellen, erkennt die Autorin selbst (233). Ihre Hoffnung, daß eine in Verantwortung vor der eigenen Wirkungsgeschichte revidierte christliche Theologie, die sich nicht mehr in triumphalistischem Überbietungshochmut ihrer jüdischen Wurzeln entledigt, zu einem in Freiheit geführten fruchtbaren Dialog mit dem Judentum führen möge, entbehrt keineswegs der Logik, provoziert aber beim Rez. eine Rückfrage: Was hätte ein Christentum, selbst wenn es im Sinne der Autorin ein geläutertes wäre, dem Judentum in einem Dialog denn anzubieten, was dieses nicht immer schon selbst sein eigen nennen könnte?

Die Autorin legt mit ihrer Studie ein Buch vor, das in seiner gedanklichen Reichhaltigkeit und seiner ­ vor allem was die jüdischen Positionen angeht ­ sensiblen und klaren Darstellungskraft in den wenigen Zeilen einer Rezension kaum angemessen zu würdigen ist. Ihr Hauptverdienst liegt ohne Zweifel darin, daß sie sich nicht bloß in den Chor der Stimmen, die nach einer Revision christlicher Theologie nach Auschwitz ruft, einreiht, sondern unverzichtbare Bausteine für eine solche Theologie selbst liefert.