Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/1999

Spalte:

146–148

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gieschen, Charles A.

Titel/Untertitel:

Angelomorphic Christology. Antecedents and Early Evidence.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 1998. XVI, 403 S. gr.8 = Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums, 42. Lw. hfl. 185.-. ISBN 90-04-10840-8.

Rezensent:

Samuel Vollenweider

Seit gut zehn Jahren erfährt die Suche nach einer "Engelchristologie" bereits im Christentum des 1. Jh.s eine eigentliche Renaissance. Die vorliegende Dissertation ist denn auch im Schoß der "New Religionsgeschichten Schule" entstanden, unter der Leitung von J. Fossum an der University of Michigan (1995). Neben Fossum weiß sich der Vf. insbesondere Ch. Rowland, A. Segal und G. Boccaccini verpflichtet.

Die These des Buches und in gewisser Weise auch der gesamten Schule wird gleich zu Beginn formuliert: An der Basis der verschiedenen Christologien des ältesten Christentums - Christologien der Weisheit, des Geistes, des Namens, der Herrlichkeit, des Menschensohns, des Bildes, des "Menschen" - stehen "angelomorphe" Traditionen: "The central root from which these so-called christologies grew is the angelomorphic tradition in which the Angel of the Lord is God appearing in the form of a man. Therefore, the essential form of the revelation of God in Israelite and Jewish literature is an angelomorphic figure" (6). Damit setzt sich der Vf. von der weithin dominierenden Fixierung auf die Weisheitstraditionen als Mutterboden der frühen Christologie ab. Man richtet sich also auf eine spannende Lektüre ein!

Der Eingang (7-25) breitet die Forschungsgeschichte der religiongeschichtlich orientierten Frage nach dem Verhältnis zwischen Christus und den großen Engeln des Judentums aus (von W. Bousset und W. Lueken über die Debatte zwischen M. Werner und W. Michaelis bis zur neuen Diskussion um die Mittlerwesen im Umkreis von J. Fossum, L. W. Hurtado und J. D. G. Dunn). In einem gesonderten Abschnitt arbeitet G. Nomenklatur und Methodologie heraus (26-48). Diskutiert werden etwa die Kategorien von "Göttlichkeit", "Verehrung" und "Hypostase". Die Leserschaft ist zumal für diese Begriffsklärungen sehr dankbar angesichts einer zu erwartenden Fülle von religionsgeschichtlichen Analogien und Parallelen.

Der erste Hauptteil beschäftigt sich mit dem breiten Spektrum angelomorpher Vorstellungen im antiken Judentum. Erwartungsgemäß setzt G. beim legendären alttestamentlichen "Engel des Herrn" ein, der sich oft nicht klar von Gott selbst unterscheiden läßt (51-69). Als Schlüsseltext erweist sich Ex 23,20 f., wo die Rede ist vom Engel, der Gottes Namen in sich trägt. Dieser Engel macht im Judentum des zweiten Tempels eine kaum zu überschätzende Karriere (68 f.). Es schließt sich eine Übersicht über die klassischen ’Hypostasen’ der spät- und nachalttestamentlichen Texte an (Name, Doxa, Weisheit, Wort, Geist und Kraft) (70-123). G. plädiert für eine Beibehaltung des strittigen Begriffs, will ihn aber im Sinne von "tangible, visible forms" akzentuiert wissen. Allen Hypostasen tragen deutlich angelomorphe Merkmale. Wir rücken damit in den zentralen Abschnitt dieses Hauptteils vor, wo es um die hohen Engel selbst geht (124-151). Die großen Engelnamen werden übersichtlich präsentiert, und zwar mit spezieller Aufmerksamkeit für die Frage ihrer Gottähnlichkeit (unterschieden werden fünf Kategorien von "divinity"). Natürlich nimmt G. hinter ihnen allen die eine Figur des "principal angel of God" wahr, identisch mit dem "Engel des Herrn" der hebräischen Bibel (zumal von Ex 23). Es folgen die "Angelomorphic Humans" (152-183), von den Patriarchen (Adam, Henoch u. a.) über Propheten, Priester und Könige bis zu "Aposteln" (Boten) und Auserwählten.

Mit der "Early Evidence" (187-346) gelangen wir in das Herzstück der Arbeit (47), nämlich in das Christentum von der Mitte des 1. bis zur Mitte des 2. Jh.s. G. schreitet in der Zeit zurück: Von Nicäa und Arius (unter Hinweis auf R. Lorenz) über die Kirchenväter (Justin bis Euseb) und die Pseudoklementinen bis zum Hirten des Hermas und zur Himmelfahrt des Jesaia (unter Rückgriff auf die klassische Monographie von J. Barbel). Vom neutestamentlichen Schrifttum werden Apk (245-269), Joh (270-293), Hebr (294-314) und schließlich als Klimax das Corpus Paulinum (315-346) berücksichtigt. Der klare Schluß ergibt sich: Auch das Frühchristentum bezeugt eine angelomorphe Christologie. Die ältere Debatte um die "Engelchristologie" hatte die Frage falsch gestellt: Nicht darum geht es, ob Jesus Christus als Engel verstanden wurde, sondern ob die Christologie auf angelomorphe Traditionen des Alten Testaments und des Frühjudentums zurückgegriffen hat (349). Dies ist in weit höherem Ausmaß als bisher vermutet der Fall (349-351)! So vielfältig sich die Mittlerfiguren ausnehmen, so sehr stößt man doch in ihrem Kern auf die "visibility of God as man ... present in the panorama of angelomorphic traditions which depict God, or his visible manifestation, as a man enthroned in heaven or even walking on earth" - Vorläufer(in) des christlichen Glaubens an den erhöhten und präexistenten Christus (351).

Es ist G. hoch anzurechnen, daß er sich gegenüber anderen Werken der "New Religionsgeschichte" durch den Versuch zu einer präziseren Begrifflichkeit auszeichnet. Auch der notorische Rückgriff auf entlegenere Quellen (Samaritaner, Magharier, u. a.) wird vermieden. G. arbeitet mit einem Set ausgewählter Texte und vermeidet im Allgemeinen ständige Quersprünge. Die klare Hauptlinie seiner Fragestellung und die Methode bleiben zumeist im Blick. Dennoch will mich seine zentrale Hypothese nicht überzeugen. Da stellt sich einmal die Grundfrage, wie G. einerseits "the interrelationship and interdependence of various Christological traditions" (350 f.) herausstreichen und andrerseits doch eine scharf konturierte Einzelvorstellung, nämlich den mit einer Machtposition investierten menschenförmigen Engel des Herrn, zur exklusiven Wurzel ("at the root") aller anderen christologischen Ausformungen erheben kann (5 f.).

In den Einzelanalysen verstärkt sich der Eindruck, daß die angeblich allbeherrschende Figur des "Engels des Herrn" von Ex 23,20 f. oft nur gerade postuliert wird (so etwa bei Michael in 1Hen 69,15 [75 f.; 126 f.], oder bei Israel im "Gebet Josephs", wo Philon als Lieferant einer Stichwortbrücke fungiert [139 f.]). Es ist demgegenüber nicht wahrscheinlich zu machen, daß der alttestamentliche "Engel des Herrn" maßgeblich auf die Ausformung der hohen Engelfürsten des Frühjudentums eingewirkt hat. Auch das Hermasbuch wird m. E. von G. zu stark auf einen einzigen großen Doxa-Engel hin gedeutet. Einen Bezug auf Ex 23,20 f. kann ich hier überhaupt nicht erkennen (225-28).

Viele Fragen und Einwände regen sich auch im neutestamentlichen Teil. Die Aversion gegen die Weisheit mutet, wie nicht selten in der "New Religionsgeschichte", fast reflexartig an (271 ff.; 295 ff.; 343 ff.; vgl. 5; 350). Wichtig für die Fragestellung ist natürlich die Johannesoffenbarung. Es ist unbestreitbar, daß Christus Apk 1,13-16 und 14,14-16 angelomorph gezeichnet wird (245-252). Aber was heißt das eigentlich? Primär handelt es sich in einem visionär-apokalyptischen Text, der so stark mit traditionellem Gut arbeitet, um ein Darstellungsmittel, das nicht sofort auf eine Engelkonzeption schließen läßt. Noch weniger griffig sind die angelomorphen Züge in 19,11-16 (im "verborgenen Namen" wird wieder Ex 23 gefunden). Bei Apk 1,1 schreckt selbst G. vor der Deutung des Engels auf Jesus zurück (260-262).

Als überhaupt schwächsten Teil des Buches empfinde ich den Abschnitt über Joh. Der Prolog wird unter Zurückweisung der (hier doch nun wirklich einladenden!) Weisheit vom angelomorphen Namen und von der angelomorphen Doxa her gegen den Strich gebürstet (271-280, wo Sap 18,15 f. als Stichwortbrücke aufgeboten wird). Umgekehrt werden leider die angelologisch in der Tat wichtigen Momente des Abstieg-Aufstieg-Schemas und der Botenkonzeption (J. A. Bühner!) zu wenig tief ausgelotet. Auch beim Parakleten macht G. m. E. leider zu früh halt.

In die älteste Überlieferungsschichte stößt die Untersuchung natürlich bei Paulus vor (inkl. Kol/Eph). Auch hier dominieren Konstruktionen, die für Kritik höchst anfällig sind. So etwa, wenn sich Paulus in Gal 4,14 als den autoritativen Engel präsentieren soll (315-325, wo das hos unter [m. E. irrigem] Verweis auf 1Thess 2,7 u. a. epexegetisch verstanden wird). G. möchte sodann den angelischen Christus in 1Kor 10,1-10 finden, identisch mit dem Zerstörerengel von V. 10 (wieder unter Hinweis auf Sap 18). Ganz auf der Linie der "New Religionsgeschichte" werden der "himmlische Mensch" (1Kor 15), Dynamis und Weisheit Gottes (1Kor 1/2), Doxa, Gottebenbildlichkeit und Geist (2Kor 3/4), die "Gottesgestalt" (Phil 2,6 ff.), die Leib Christi-Vorstellung (nach dem Modell des gigantischen Gottesleibes [shicur qoma]) und schließlich Kol 1,15-20 im exklusiven Horizont der jüdischen Mystik gedeutet. Im Effekt schießen Himmelsmensch, Dynamis, Weisheit, Doxa, Bild, Geist, Form, Name, Erstgeborener, Anfang, Haupt, Körper allesamt in der angelomorphen Figur zusammen (346 f.). Hier droht die Analyse den Boden gänzlich unter ihren Füßen zu verlieren.

Die Literatur zur "engelchristologischen" Thematik ist ziemlich vollständig und bis in jüngste Publikationen erfaßt. Deutschsprachige Literatur wird sonst nur sehr selektiv eingesehen, beim Hebr fehlen z. B. die großen deutschen Kommentare. Leider werden gar keine Brücken zu den für die Sache sehr relevanten Epiphanie-Vorstellungen geschlagen, wofür vor allem auf das große Doppelwerk von M. Frenschkowski, Offenbarung und Epiphanie (1995/97) hinzuweisen wäre.

Trotz dieser zahlreichen Einwände muß man G. zugestehen, daß er seine Leserschaft durch eine spannende Thematik zu führen weiß. Das Portal zur neuen Frage nach der Angelomorphie Christi bleibt weiterhin offen.