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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

585–588

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Beyschlag, Karlmann

Titel/Untertitel:

Die Erlanger Theologie.

Verlag:

Erlangen: Martin Luther Verlag 1993. 295 S. mit Abb. gr.8° = Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, 67. Lw. DM 38,­. ISBN 3-87513­086-3.

Rezensent:

Walter Sparn

Der frühere Erlanger Patristiker will jene Theologie, in der als einziger der konfessionelle Aufbruch des 19. Jh.s eine eigenständige Wissenschaft gestalten konnte, deren "Fülle an Produktion und Reflexion" aber "zweifellos etwas Definitives an sich (hatte)", nun "definitiv verständlich machen" (12). Diesem Anspruch sucht er in sorgfältiger Analyse der umfänglichen Quellen und in Auseinandersetzung mit der theologischen Sekundärliteratur und Autobiographik gerecht zu werden (für eine Bibliographie muß freilich das Auswahl-Namenregister einstehen). Das Ergebnis ist eine gut lesbare, überaus inhaltsreiche Darstellung eines in sich vielfältigen, kraft "lutherischer Konfessionalität" selbständigen und stimmigen theologischen Kosmos’; ihre Sicht der Dinge spiegelt ein "persönliches Treuverhältnis" (287), das weiß, daß die Erlanger Theologie (= E. Th.), ohnedies nie dominierend, der Vergangenheit angehört, das gleichwohl von ihrer "geistlichen und theologischen Überlegenheit" überzeugt bleibt (9, 11f., 204).

Der Vf. beleuchtet 1. das "geistige Vorfeld" (14-20), beschränkt auf die Erweckungsbewegung, für die das Homiletisch-liturgische Correspondenzblatt (1825) sowie der reformierte Prediger Chr. Krafft und K. v. Raumer stehen. Die persönliche Heilserfahrung mit den ebenfalls nichtrationalen Instanzen bzw. überindividuellen Normen von Schrift und Bekenntnis zu verknüpfen, also "Erfahrung" als Offenbarung und Geschichte zu verstehen, macht 2. den "theologische(n) Ansatz" der Erlanger Theologie aus (21-32). Unter Verzicht "auf den gewohnten geistesgeschichtlichen Kulissenaufbau" wird J. G. Hamann, vermittelt über F. und K. L. Roth sowie Th. Lehmus, als ihr eigentlicher "Ahnherr" herausgestellt (27 ff. u. ö.).

Abschnitte 3 und 4 porträtieren die Gründerfiguren. A. (v.) Harleß (33-57; J. W. F. Höfling, W. Löhe 51 ff.) wird in seiner lange kirchenfernen Biographie, seinen theologischen Werken sowie in seinen theologie- und kirchenpolitischen Leistungen charakterisiert, v. a. mit der Etablierung einer "lutherischen" Konfessionskirche in Bayern "von oben" (Kniebeugestreit, Agendenstreit, Schulreform). Der Vf. bezeichnet den Kontrast, den J. Chr. K. (v.) Hofmann (58-82) zu diesem "Kirchenfürsten" verkörpert, nicht mit "konservativ" und "liberal", sondern mit "konservativ" und "genial" (58 f.): Analogielos war es, die Glaubensgewißheit ganz auf den "Thatbestand" persönlicher Heilserfahrung zu gründen, zugleich aber das Gesamt der (heils-)geschichtlichen "Thatsachen" eben dieser Heilsgewißheit zu korrelieren. "An die Stelle des zeitgebundenen Denkschemas von ’Vernunft und Offenbarung’ trat das bibelgebundene Prinzip von ’Glaube und Geschichte’" (63). Die Durchführung dieses Neuansatzes und ihres hermeneutischen Prinzips "Rekognition", d. h. der Selbstauslegung der Schrift als "Organismus", wird an den Werken Hofmanns illustriert, auch z. B. an seiner antiochenisch tendierenden Versöhnungslehre (65, A.114, 73 ff.).

Der 5. Abschnitt widmet sich der "Erlanger Schule" (83-119), der durch "hochgemute wissenschaftliche Zuversicht und kollegiale Verbundenheit" getragenen Gruppe um Hofmann, die im Rahmen ihrer kirchlichen Orientierung große Vielfalt und weite Ausstrahlung entwickelte ("Gesinnungsgemeinschaft", wie ein "geistlicher Orden" 83, 118). Nach einem Überblick werden vorgestellt (Lebensdaten?): der Alttestamentler F. Delitzsch (einer der wenigen, die nicht als "verschlossen", "abstandgebietend", "ehrwürdig" usw. beschrieben werden); der Praktologe Th. Harnack ("Theologie Luthers" I, 1862); der "Normaldogmatiker" G. Thomasius; F. H. R. (v.) Frank, der in seinem System der christlichen Gewißheit, Wahrheit und Sittlichkeit strikt bewußtseinsanaly tisch, ohne die Hofmannsche Geschichtstheologie ansetzt; die Historiker H. Schmid und G. L. Plitt (er initiierte mit K. Graul die Missionswissenschaft, 110 f.); für die Katechetik G. v. Zezschwitz, der mit Frank 1890 die "Neue kirchliche Zeitschrift" gründete, mit dem sich jedoch "die bisherige Eigenbedeutung der ’E.Th.’ auf eine konfessionell-lutherische Sonderposition zu reduzieren" begann (115; vgl. 112 A.212).

Als nicht mehr zur Erlanger Schule i.e.S. gehörig, da auf ihre Weise bereits Vertreter des Historismus, behandelt der 6. Abschnitt Th. (v.) Zahn, A. Hauck, Th. (v.) Kolde und ihre großen quellenerschließenden Arbeiten zur Kanons- und Dogmengeschichte, zur bayerischen Kirchengeschichte sowie zur Realenzyklopädie (120-142).

Hatte A .v. Stählin beim Jubiläum 1893 noch die "seltene Geisteseinheit" gerühmt (257), so umschloß der "konfessionelle Schutzmantel" (120) um die Jahrhundertwende eine "zwiespältige" und "epigonale" Fakultät (etwas unklar 140f.). Die bedeutenderen Geister wanderten ab, R. Seeberg (dessen "modern-positive" Systematik außerhalb der Erlanger Theologie stehe, 121 A.228) oder A. W. Hunzinger (142).

Ausgehend von der Kritik L. Ihmels’ an der bislang fraglosen Erfahrungsgewißheit des glaubenden "Ich" zugunsten "biblische(r) Offenbarungsobjektivität" (1901) stellt der 7. Abschnitt (143-203) die "zweite Blütezeit" der Erlanger Theologie dar: Die Berufungen des Altlutheraners W. Elert (1923 bzw. 1932), des nochmals hofmannianischen Alttestamentlers O. Procksch(1925) und des Rostockers P. Althaus (1925/26) bescherten der Fakultät nicht nur höchste Hörerzahlen, sondern erneuerten auch ihr "lutherische(s) Charakterbild" (146). Wie verschieden der ganz unklerikale ("General in Zivil" 151), von "unbändige(r) Forscherlust" getriebene, doch ironische, abgründig komplizierte Alleingänger Elert und die "menschliche und seelsorgerliche Noblesse" des "Mann(es) der Mitte" Althaus (146, 187)! Das Referat ihrer theologischen Werke pointiert als Neuerung, die revelatio generalis (nicht: "natürliche Theologie") in das theologische Verfahren einzuführen, so daß "Erfahrung" nunmehr Offenbarungswirklichkeit und natürliches Menschsein, das "Humanum" (151, vgl. 117, 287) korreliert ­ Elert dabei die "numinose Initiale" der Schicksalserfahrung und die "Realdialektik" von Gesetz und Evangelium "identifizierend", Althaus den Heilswillen Gottes durch das "schöpfungstheologische Szenarium" der Ur-Offenbarung "differenzierend" (150). Ein Exkurs "Die Erlanger Fakultät und der Kirchenkampf" (160-170) verteidigt die Dioskuren aus ihrem kirchen politischen Verhalten und ihren theologischen Gutachten von 1933/ 34 gegen den Vorwurf, sie seien Schrittmacher der NS-Ideologie gewesen. Eingeschoben ist ein Nachkriegs-Überblick (178-182).

Der Darstellung zugeordnet sind Bilder und Texte (207-288): H. Bomhards "Wider das heitere Christenthum der Rationalisten" (HLC 1827); Harleߒ Einladungsschreiben an die Autoren der "Zeitschrift für Protestantismus und Kirche" (1838); seine aufschlußreiche Lebenserzählung vor Studenten (1850); das 1. Stück der Hofmannschen "Schutzschriften für eine neue Weise, alte Wahrheit zu lehren" (1856); der Bericht einer Hausgenossin über Hofmanns Lebensweise in den letzten Jahren; Althaus’ Bedenken zur Barmer Theologischen Erklärung (1934); äußerst wichtig Elerts bisher unveröffentlichter Bericht über sein Dekanat 1935-1943 (20.8.1945); das Abschiedswort des Vf.s zur Emeritierung 1988.

Der "’Erlanger Theologe’ nach dem Ende der ’Erlanger Theologie’" (287) hat so etwas wie die ausführliche Einleitung zu seiner Autobiographie vorgelegt. Sein Blick fördert eindrucksvoll den inneren Reichtum der Erlanger Theologie zutage. Die Rückseite dieser Selbstvergewisserung ist die Fixierung auf eine bedrohte "Insellage" (104, 154, 183). "Einflüsse" werden vergleichgültigt (26 f., 60 u. ö.), übergangen werden Zusammenhänge wie der mit der Romantik (23, 103 u. ö.) und ihren Metamorphosen bis hin zur Jugendbewegung ­ trotz "Organismus", "Schöpfungsordnungen", "Volksordnungen" und "Volkstum" (44 f., 111, 121, 168 f., 200ff.), trotz Elerts Affinität zu O. Spenglers geschichtstheoretisch "irrationalem" Morphologiekonzept (155 ff.). Hinsichtlich des doch faszinierenden Verhältnisses der E.Th. zur Moderne bleibt es beim Schwarz-Weiß von theologischem "Rationalismus" und Erweckung (21 ff.), von kirchlichem "Ewigkeitsbezug" und dem "Ewigkeitsverlust" einer "konfessionslosen", "geschichtslosen", "schicksalslosen", "religionslosen" Gegenwart und ihrer "profanen" Wissenschaftlichkeit (15 A.8, 185, 204). Lag eine Stärke der Erlanger Theologie nicht eben darin, die reformatorische Tradition auf dem Niveau der Erfahrung von Modernität kritisch zu rekonstituieren, angefangen vom neuen (43!) Erfahrungsbegriff oder dem Konzept "Heilsgeschichte"?

Wenn schon nicht Schleiermacher (anders 154, 191!), so wäre (gegen 27 A.32) gerade der "Ahnherr" Hamann Zeuge einer solchen radikalen Aufklärung! Von den neueren Forschungen zu den politischen, sozialen und auch religiösen Schicksalen des deutschen Bildungsbürgertums sieht der Vf. ganz ab.

Daß die Erlanger Theologie an diesen Schicksalen teilnimmt, notiert er tatsächlich vielfach: die Strittigkeit des Verhältnisses von Staat und Kirche (55 A.100 u.ö.), der Abstand der Erlanger (selten selber Pfarrer, 134) zur restaurativen Kirche (42 A. 71, 75 u. ö.), ihre bald deutschnationale Option (50, 58, 114 u.ö.), das Kriegserlebnis (152 u. ö.). Aber das bleibt ihrer Theologie ganz äußerlich. Daß die "hochgeschlossene Bekenntnisbindung" der Erlanger Theologie vor "weltanschaulicher Anpassung" und insbesondere von der "Politisierung des geistlichen Auftrags" freigehalten habe (46), ist jedenfalls im 20. Jh. nur noch die halbe Wahrheit, wie die theologische Ethik zeigt: scharfe Kritik des Kapitalismus, aber auch das klare Votum gegen so etwas wie Demokratie und für die Revolution von rechts, für den Führerwillenstaat und insbesondere für die Korrelation von "Volkskirche" und "Volkstum" (111 A.208, 169 A.331, 203 A.422).

Nicht die (unsinnnige) NS-Verdächtigkeit von Elert und Althaus ist das Problem; richtig auch ihre Weigerung, den Auftrag der Kirche der "gottlosen" Welt abstrakt entgegenzuhalten, und ihre Mühe um breiten, "überkonfessionellen" (85, 150, 154 f.) gesellschaftlichen Konsens; fatal aber ihrer eigene, trotz ihres Widerstandes gegen die DC (168) unerkannte naturalistische Gefährdung, kraft derer sie die Revolution von rechts als providentiell begrüßten und kraft derer sie, durchaus anders als Luthers Naturrecht im Reich zur Linken, die (Ordnungs-)Macht über das (Menschen-)Recht setzten. Leider meint der Vf. selbst, Staatsgewalt sollte nicht konsequent funktional betrachtet werden (169 A.330; anders bei Elerts Schicksalsbegriff, 173).

Die Erlanger Theologie zu positionieren gegenüber arrogant rationalistischem Modernismus begrenzt ihre Bedeutung, angesichts neu grassierender Leichtgläubigkeit, auf ein verblassendes Gestern. Sie im Gegenüber zu den "preußisch-’unierten’ Verhältnissen (mit ihrem wissenschaftlichen Akzent auf der ’historischen Kritik’" (12; 56 f.) und zur "christomonistischen" Theologie Barthscher Prägung zu profilieren, gehört ebenfalls einer vergangenen "theologischen Erwartungslage" (134) an. Insofern ist dieses Buch selbst schon ein historisches Dokument.

Aber auch so gelesen, weckt die Darstellung manche Zweifel. Der Vf. meint, der Erlanger Theologie liege als "einheitlicher Archetyp... das fundamentale Gleichgewicht zwischen gegenwärtiger Glaubenserfahrung und kirchlicher Glaubensüberlieferung" zugrunde, und darin sei sie nicht eine theologische Richtung unter beliebigen anderen, sondern "die eine, nämlich die kirchlich-theologische Möglichkeit, der die andere, vorwiegend ’kritische’ (darum auch erfahrungskritische) Möglichkeit im Grunde alternativ gegenübersteht" (204)! Aber: Ist das "lutherische Konfessionalität"? Der Vf. spricht hier nur von "christlicher Frömmigkeit".

Harleß sprach von "Protestantismus", Hofmann von "Christentum", erst Elert qualifiziert von "Luthertum" (47, 100, 154 f., 159) ­ zu der Zeit, als Althaus "die (längst dringend erforderliche) Synthese zwischen Konfessionalität und Modernität[!]" suchte (187), als mit diesem und H. Strathmann "ein beträchtlicher Stoß Biblizismus", mit H. Sasse wiederum ein "Hoch-Lutheraner" in die Fakultät gelangte (180)! Nimmt man die geringe Bestimmtheit von "Bekenntnis" nach Umfang (FC! 100 f.) und Verpflichtung hinzu ­ sie galt lediglich dem "lutherischen Charakter" der Fakultät (140), und von "Dogmenzwang" waren die Erlanger immer weit entfernt (26, 87) ­, so kann man dem Vf. nur zustimmen: "Rein ’lutherisch’[!]" war die Fakultät von der Errichtung eines Lehrstuhls für Reformierte Theologie extra facultatem 1847 bis zu dessen Integration 1969 (53 A.94, 100).

Lutherische Konfessionalität? Sie war so "Persönlichkeitssache" (121) geworden, daß sie im institutionellen Verbund der Fakultät ein Milieu, ein "geistlich-theologisches Kraftfeld" (119) ausbildete, das für den Vf. seelsorgerliche Heimat und theologische Identität in katastrophischen Zeiten bot, ein Mi-lieu, das etwa im Universitätsgottesdienst seinen sichtbaren Ausdruck fand (140, 178, 185 f.) und das auch den "ausgeprägten theologischen Liberalismus" des Lehrers W. v. Loewenich nicht aus-, sondern einschloß (181, 287). Weder jetzt noch auch früher konnte "lutherische Konfessionalität" mehr und anderes bedeuten als die gemeinsame theologische Intention der "wissenschaftliche(n) Vertretung des kirchlichen Bekenntnises" (so die ZPK 1838) der sich "lutherisch" bezeichnenden Kirchen. Wie dieses "lutherisch" war und ist auch jenes "Luthertum" gleichermaßen Faktum und Konstruktion. Und so gibt es keinen Grund, es ins Museum zu stellen.