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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

582 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Rieth, Ricardo

Titel/Untertitel:

"Habsucht" bei Martin Luther. Ökonomisches und theologisches Denken, Tradition und soziale Wirklichkeit im Zeitalter der Reformation.

Verlag:

Weimar: Böhlaus Nachf. 1996. 240 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 1. Kart. DM 68,­. ISBN 3-7400-0930-6.

Rezensent:

Martin Brecht

Der Band eröffnet eine neue Monographienreihe, die von den Leipziger Kirchenhistorikern herausgegeben wird, mit einer von Helmar Junghans betreuten Dissertation.

Das Vorwort und die Einleitung (11-13) lassen erkennen, daß der Autor von den bedrängenden ökonomischen und sozialen Fragen seiner brasilianischen Heimat aus auf das Thema zugegangen ist. Dies hat sich auch auf die Themaformulierung ausgewirkt, die mit dem Wort "Habsucht" ein Wort verwendet, das sich bei Luther noch nicht findet und erst im 18. Jh. aufgekommen ist. Die eigenständige Terminologie läßt sich rechtfertigen, da die heutigen Bedeutungen von Geiz/avaritia anders als in der Reformationszeit nur noch das Behalten-Wollen ausdrücken, während bei Luther auch das Mehr-Haben-Wollen damit abgedeckt war, an dem der Autor überaus interessiert ist. Dabei dürfte zutreffend sein, daß das Thema, auch über Luthers Wucherschriften hinaus, aufgrund derer es bisher allenfalls behandelt worden ist, für die Lutherforschung Aufmerksamkeit verdient, weil Luther sich dazu entschiedener geäußert hat, als zumeist bewußt ist.

Das erste Kapitel bietet einen Forschungsbericht (15-39), der bei der Einschätzung Luthers durch Karl Marx als "ältester deutscher Nationalökonom" einsetzt. Der ökonomische Historismus bis hin zu Max Weber hielt Luthers wirtschaftliche Vorstellungen hingegen bei aller Differenzierung für rückständig. Die Bewertung Luthers in der marxistischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung schwankte. Die Kirchenhistoriker übernahmen vielfach das Urteil von Luthers Rückständigkeit, arbeiteten allerdings vor allem die sozialethischen Argumente Luthers deutlicher heraus. Lediglich Hermann Barge nahm noch eine Aktualität Luthers an. In den letzten beiden Jahrzehnten ist es zu einer vertieften theologischen Beschäftigung mit Luthers Wirtschaftsethik durch Gerta Schraffenorth, Theodor Strohm und Hans-Jürgen Prien gekommen, die freilich kein einheitliches Resultat zeitigte und sich zumeist einseitig auf die Wucherschriften stützte.

Nicht mehr aufgenommen ist der Aufsatz von Josef Wieland, Wucher muß sein, aber wehe den Wucherern. Einige Überlegungen zu Martin Luthers Ökonomik, ZEE 35, 1991, 268-284. Rieth hält die Frage nach der wirtschaftstheoretischen Fortschrittlichkeit des Schriftauslegers Luther für unangemessen und schätzt den Bereich von Luthers Wirtschaftsethik für breiter und gewichtiger als sonst ein, womit er recht haben dürfte, auch wenn das Problem schon bisher gelegentlich benannt worden ist.

Das zweite Kapitel schaltet der Untersuchung Luthers einen Überblick über "Theologiegeschichtliche und sprachliche Aspekte" vor (41-78). Darauf trifft am ehesten der weitgefaßte und anspruchsvolle Untertitel der Arbeit zu, der sonst eigentlich nicht abgedeckt wird. Nötig ist dieses Kapitel, weil die negative Konnotation der Habsucht im Laufe der Moderne in Abgang kam. Methodisch problematisch ist, daß bei dem Durchgang durch die griechische und römische Philosophie, ferner das alttestamentliche und jüdisch-hellenistische Gedankengut, durch die Alte Kirche (seltsamerweise einschließlich des Neuen Testaments) mit der Ausbildung der Vorstellung vom Laster der Habsucht, durch die Scholastik, die spätmittelalterliche Predigt- und Katechismusliteratur, die Ständeliteratur und den Humanismus sowie schließlich die Darstellungen in der Kunst sehr zügig verfahren wird, was eine intensivere Interpretation kaum zuläßt und gegenüber der Beschäftigung mit Luther eine Ungleichmäßigkeit bedeutet. Es wäre hier wohl angemessener gewesen, sich deutlicher auf die bei Luther wirksamen Traditionen zu beziehen und das Referat über die Vorgeschichte daraufhin zu strukturieren. Zusätzlich wird noch dem Sprachgebrauch von "avaritia" und "Geitz" nachgegangen.

Das restliche, sich mit Luther befassende (Haupt-)Kapitel (79-218) ist systematisch angelegt, weshalb etwaige Entwicklungen oder selbständige literarische Komplexe wie die Wucherschriften nicht eigens thematisiert werden. Dieses Vorgehen hätte reflektiert werden müssen. Zunächst wird vorgeführt, wo Luther in seinen Auslegungen alt- und neutestamentlicher Texte auf die Habsucht zu sprechen kommt, häufig sogar, ohne daß der Wortlaut dies unmittelbar nahelegt. Die Auswertung der Auslegungen verbreitert die Quellenbasis und läßt den Stellenwert des Themas erkennen. Das Material wird freilich eher angehäuft als gegliedert.

Den zahlreichen Thematisierungen der Habsucht in Luthers Katechismustexten wird besonders nachgegangen, ohne daß jedoch schon hier eine Zuspitzung auf die Abhängigkeit vom Götzen Mammon erfolgt. Von der Quellenerfassung her ist es wiederum beachtlich, daß die Bibelübersetzung eigens berücksichtigt wird, allerdings erneut ohne Fixierung eines Gesamtresultats.

Es folgt ein Vergleich von Luthers Verständnis der Sünde mit dem der Tradition, der offenbar bereits den Abschnitt über "Die Habsucht als Sünde" vorbereiten soll. Diese gehört für Luther zu den der Erbsünde nahestehenden Wurzelsünden (peccatum radicale); sie wird aber auch wie in der Tradition unter den Lastern aufgezählt und später dann wieder prinzipiell mit dem Unglauben in Verbindung gebracht. Treffend sind die Beobachtungen zur "Dynamik der Habsucht" sowie ihrer Tarnung und der Verkehrung der Werte durch sie. Eigens beschrieben wird die vom Teufel verursachte Versuchung durch die Habsucht. Sie wird überdies unter die endzeitlichen Zeichen gerechnet. Die geistliche Überwindung der Habsucht bleibt zunächst etwas unscharf; es wird dann aber doch die Entgegensetzung von Glauben (samt der Nächstenliebe) und Habsucht deutlich. Die Ordnungen des geistlichen und weltlichen Regiments werden nach Luthers vielfältiger spezieller und allgemeiner Kritik von der Habsucht zersetzt. Die gesamten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse werden von daher beurteilt.

Der "Schluß" (219-221) läßt gelegentlich deutlicher als die Darstellung selbst erkennen, wie der Vf. die Linien führen wollte. Die Stärke der Monographie liegt in der umfassenden Sammlung des Quellenmaterials und der mit dem Thema zusammenhängenden Aspekte. Die systematische Auswertung hält damit nicht Schritt. Gleichwohl wird die Arbeit als Beitrag zu einem bedeutenden Thema in Luthers Denken, Theologie und Ethik ihren Platz finden. Der letzte Abschnitt bestreitet mit Luther gegen die Moderne eine positive Wirkung von Habsucht und Eigennutz und stellt den Glauben in die Verantwortung für die Gestaltung des Ökonomischen.