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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

578–580

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Titel/Untertitel:

Lutherjahrbuch 62 (1995) und 63 (1996). Hrsg. von H. Junghans.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995/96. 319 S. u. 200 S. 8°. geb. DM 84,­ u. 54,­. ISBN 3-525-87427-8 u. 3-525-87428-6.

Rezensent:

Ernst Koch

Der 62. Jahrgang ist der Dokumentation des Achten Internationalen Kongresses für Lutherforschung gewidmet, der im August 1993 in St. Paul, Minn. stattfand. Eine Ausnahme bildet die an der Spitze des Bandes stehende, von Martin Brecht verfaßte Würdigung des Lebenswerks von Kurt Aland, der am 13. April 1994 in Münster verstarb.

Dem Thema des Kongresses "Befreiung und Freiheit. Martin Luthers Beitrag" folgend, werden zunächst die in den Plenarsitzungen gehaltenen Referate, beginnend mit dem Eröffnungsvortrag von Gerhard O. Frode ("Called to Freedom’), abgedruckt. Die Sachbereiche, denen sie gewidmet waren, wurden jeweils von zwei Referenten beleuchtet, deren geographische Herkunft zeigte, wie selbstverständlich die Lutherforschung eine internationale Angelegenheit geworden ist.

Zum Unterthema "Befreiung durch Christus" referierten James D. Tracy ("Liberation through the Philosophia Christi’) und Karl-Heinz zur Mühlen ("Befreiung durch Christus bei Luther"). Während Tracy die Wurzeln des Freiheitsverständnisses von Erasmus im Widerspruch zu von ihm bekämpften Mißständen in der Gesellschaft und in seinem Verständnis von Evangelium untersuchte, wandte sich zur Mühlen der Position Luthers 1520/21 und der Auseinandersetzung mit Erasmus zu.

Zum Unterthema "Freiheit und Gerechtigkeit" nahmen unter gleichlautendem Thema Steffen Kjellgaard-Pedersen, Otto Hermann Pesch und Peter Blickle Stellung. Kjellgaard-Pedersen legte eine (weitere) nachzeichnende

Interpretation von Luthers Freiheitsschrift von 1520 vor, was Pesch zu der Nachfrage veranlaßte, was dieser Text für die Veränderung von Strukturen und Rechtsordnungen austrage. "Wir halbieren Luthers Wort an uns, wenn wir es nicht hören als Anleitung, die ’Not des Nächsten’ in ihrer heutigen Gestalt und in ihren heutigen Ursachen und Verflechtungen wahrzunehmen und im Glauben realitätsgerecht ’jedermann untertan’ zu werden" (82). Blickle stellte seine Ausführungen unter den Untertitel "Ethische Fragen der Deutschen an die Theologen der Reformation", knüpfte an zeitgenössische Leibeigenschaftsverhältnisse des Bodenseeraums an und wies auf die Veränderung der Kritik an den Verhältnissen nach 1520 durch die Berufung auf das "Evangelium" hin.

Der Rückfrage nach der Rezeption von Luthers Verständnis von Freiheit in der frühen Neuzeit stellten sich Mark U. Edwards Jr. und Martin Brecht, Edwards für die Zeit bis etwa 1535 unter Einschluß von römisch-katholischen Kritikern Luthers, Brecht für eine "Spurensuche" bei Melanchthon, Calvin und orthodoxen Autoren des 16. und 17. Jh.s, bei Johann Valentin Andreä und im lutherischen Pietismus mit dem Ergebnis, "daß die reformatorische Freiheitslehre und deren Übernahme in Orthodoxie und Pietismus unmittelbar so gut wie nichts hergeben für die politische und gesellschaftliche Emanzipation" (151).

Unter dem Thema "Freiheit in der Sicht Luthers und der Französischen Revolution" verhandelte Marc Lienhard Stimmen des 19. Jh.s und stellte im Blick auf die zeitliche Diastase zwischen Reformation und Aufklärung auch, von eher indirekten Gleichklängen abgesehen, die auch sachlichen Unterschiede fest. Walter Altmann machte für die lateinamerikanische Befreiungstheologie sowohl auf Kritik an Luther wie auch auf begeisterte Lutherrezeption aufmerksam, die wohl eher auf Mißverständnissen beruht, und schloß eigene systematische Erwägungen bezüglich der Konzepte von Freiheit und Befreiung an.

Ein eigener Teil dieses Jahrgangs ist Berichten über die 13 Seminare gewidmet, die während des Kongresses stattfanden. Eine Liste der Kongreßteilnehmer ist beigefügt. Hinzu kommen der Rezensionsteil und die Lutherbibliographie.

Der 63. Jahrgang wird mit einem Nachruf auf den am 4. März 1995 verstorbenen Zürcher Systematiker Walter Mostert von Karl-Heinz zur Mühlen eröffnet, der vor allem die Beiträge des Verstorbenen zur Lutherforschung würdigt.

Im ersten thematischen Beitrag untersucht Helmut Feld die Quellen für die bereits früh auftauchende Nachricht, daß 1521 ein Bildnis Martin Luthers zusammen mit seinen Büchern in Rom verbrannt worden sei. Das Ergebnis ist, daß "kein vernünftiger Zweifel" besteht, daß die Nachricht zutrifft. Damit wäre Luther "der erste Häretiker überhaupt, dessen Bild im Rahmen eines Justizvollzugs verbrannt wurde" (18).

Eric W. Gritsch widmet dem Thema "Der Humor bei Martin Luther" eine Studie, in der er Luther in der selbsterwählten Maske eines Hofnarren vorstellt, das Verhältnis von Mutterwitz und Schriftauslegung untersucht, schelmische Züge in seiner Seelsorge aufzeigt und auf "gewagte Witzelei" hinweist. Eine "ernsthafte Schlußbemerkung" resümiert: "Wer an den in Jesus Christus fleischgewordenen Gott glaubt, sollte wie Luther über vieles in der Welt nicht verzagen, sondern lachen im Blick auf eine Zeit ohne Sünde, Tod und Teufel" (38).

Johann Eck als einem Theologen geht Manfred Schulze nach ("Johann Eck im Kampf gegen Martin Luther. Mit der Schrift der Kirche wider das Buch der Ketzer"), indem er Ecks Verständnis von Theologie sowie Grundsätze seiner Schriftauslegung in ihrer Einbindung in den consensus ecclesiae darstellt. Der Consensus ecclesiae wird für Eck zur nota, und die Kirche wird Norm der Schrift.

In Auseinandersetzung mit Gerald Strauss fragt Gottfried G. Krodel: "Lutheran Antinomian?’ Er kritisiert einerseits Mißverständnisse, die Strauss in wichtigen Gesichtspunkten von Luthers Gesetzesverständnis unterlaufen seien, andererseits methodische Unzulänglichkeiten, sofern behauptete Wirkungen theologischer Positionen ungenügend auf die Aussagen der Positionen selbst bezogen werden. Damit schaltet sich Krodel in eine noch immer nicht hinreichend geklärte Grundsatzkontroverse zwischen Theologie- und Sozialhistorie ein.

Einen eindrucksvollen Rückblick auf vier Jahrzehnte bietet Jos E. Vercruysse mit dem Aufsatz "Luther in der römisch-katholischen Theologie und Kirche". Nach einer "Ouvertüre", die u. a. den Streit um den Thesenanschlag berührt, erinnert er an das um 1967 für die Öffentlichkeit als "große Neuerung" spürbar werdende Interesse an Luthers Theologie, das mit Theobald Beers Lutherdeutung alsbald eine Art Gegenprogramm erlebte. Freilich macht Vercruysse auch darauf aufmerksam, daß "für unzählige Katholiken ­ Laien, Geistliche und Bischöfe ­ in der weltweiten Kirche... ’Luther’ kaum ein Begriff" ist (124). Auch sei die Lage der Lutherforschung im Blick auf das Urteil über Theologie und Lehre Luthers sehr verwickelt. Methodisch sei es fraglich, ob es angemessen ist, weiterhin von einer "katholischen Lutherforschung" zu sprechen; unerläßlich aber sei es, "abseits jeder konfessionellen Verkrampfung einen offenen und ernsthaften Austausch und Dialog" zu führen (128).