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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

577 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Hirschler, Horst

Titel/Untertitel:

Luther ist uns weit voraus.

Verlag:

Hannover: Lutherisches Verlagshaus 1996. 234 S. 8°. Kart. DM 36,80. ISBN 3-7859-0721-4.

Rezensent:

Joachim Rogge

Das Buch ist gemeint als Sachbeitrag zum Luther-Gedenkjahr 1996. Zum 450. Male jährte sich Luthers Todestag. Dem trägt der Vf. Rechnung. Er widmet Luthers Gedanken über die "Bereitung zum Sterben" das ganze letzte Kapitel (173-234). Er erzählt aber auch vom Sterben des Reformators, ohne Ausschmückungen, mit vielen Zitaten, sachlich.

Überhaupt erweist sich der hannoversche Landesbischof ein weiteres Mal als Erzähler (7), als interessanter Vermittler von Sachverhalten. Genauso sollte man sich für christliche Gemeindeglieder ­ jedoch auch für Nichtchristen ­ ein angemessenes Luthergedenken wünschen. Das Buch begegnet damit erfreulich der Gefahr, das Luther-Jahr touristisch zu überformen und damit zu verunsachlichen.

Neue Forschungsergebnisse will das Vorliegende nicht bieten, aber es hat für den, der Luther kennenlernen möchte, einen hohen Informationswert; denn wohl ein Drittel des Abgedruckten bringt Luther selbst zum Reden. Für den, der tiefer loten und die Texte nachschlagen will, sind die Fundstellen in der Weimarer wissenschaftlichen Ausgabe (WA) notiert, aber ebenso genau ist die jeweilige Quelle für den zitierten Wortlaut mitgeteilt. Im Ganzen merkt der Leser, wieviel der Vf. den Lutherstudien Gerhard Ebelings verdankt.

Nicht allein die reiche Zitatenauswahl ­ durch eingerückten Text gut kenntlich gemacht ­, sondern auch die gemeinverständliche Themenauswahl zeigt, daß der Vf. in der wesentlichen Akzeptanz des Lutherverständnisses heute auf dem laufenden ist. Biographisches, Theologisch-Systematisches und eigene Gedankenfortführung der Ansätze Luthers gehen oftmals ineinander über.

H. beginnt mit "Erzählungen von der Wartburg" (7-17). Er macht es aber schon in diesem "Einstiegs"-Kapitel wie in den folgenden Abschnitten: Er wandert aus dem biographischen Referat aus, bringt eigene Einsichten ins Spiel und berichtet aus seinem eigenen Dienst als Landesbischof. So findet die Auseinandersetzung über die Kreuze in bayerischen Schulen (15) genauso Erwähnung wie der Rekurs auf die Cranachsche Luther-Ikonographie aus Anlaß eines Bischofsberichtes auf der Wartburg (17).

Kap. II ist im breiten Rahmen der Biographie und den theologischen Grundlinien des Reformators gewidmet (19-38).

Hier, wie in anderen Fällen dieses Buches, greift der Autor auf schon einmal Vorgetragenes zurück. H. möchte von den ethischen Grundansätzen Luthers her den Glauben heute ins Leben ziehen. Er geht dabei von der Analyse heutigen Menschseins aus: "Wir sind heute darauf programmiert, überall, wo etwas schiefgeht, nach der längst fälligen Reparatur zu schreien. Wir befinden uns in einer Sprachkultur, in der Leiden und Verzweiflung nicht mehr genug Sprache habenŠ Luthers Erfahrung, daß Gott sich in Liebe dem Sünder zuwendet, der mit leeren Händen vor ihm steht, ist grundlegend. Luther ist uns weit voraus, weil er zeigt, wie der Mensch sich um Gottes und des Nächsten willen selbst vergessen kann" (31).

Kap. III thematisiert ausführlich Luthers Verständnis von der "Freiheit des Christenmenschen" (39-73). Die Summe dieses Abschnitts liefert der Vf. gleich eingangs: "Unser Markenartikel auf dem gegenwärtigen weltanschaulichen Markt der Möglichkeiten sollte eigentlich das Hauptstück evangelischen Christentums, nämlich der Artikel von der Rechtfertigung allein aus Glauben sein. Und die Freiheit eines Christenmenschen sollte bekannt und attraktiv sein als eine Lebensweise, die sich dieser Rechtfertigung allein aus Glauben verdankt und für den einzelnen wie für die Gesellschaft von fundamentaler Bedeutung ist" (39).

In Kap. IV handelt H. vom Predigtdienst heute in der Schule Luthers (75-120). Hier ist am deutlichsten sichtbar, daß eigene Ansichten und Einsichten mit den Erkenntnissen Luthers verwoben werden. So wird das historische Referat bisweilen zum einfach-hilfreichen Sprungbrett für kontemporäre Predigthinweise. Kap. V liegt eine Bibelarbeit beim Deutschen Evangelischen Kirchentag 1995 zugrunde (121-147). Es geht an den 10 Geboten entlang. Es zeigt nach dem Zeugnis und den Erfahrungen des Vf.s, wer Gott für den Menschen ist, "welche Würde Gott uns Menschen gibt" (147).

Längst schon durch Denkansätze und Einzelformulierungen vorbereitet, kommt in Kap. VI "Der Auftrag von Kirche und Staat" zur Sprache (149-171). Schon auf S. 33 stellt H. die Zwei-Reiche-Lehre in einem zusammenfassenden Satz vor: "Keines dieser beiden Regimente ist ohne das andere genug auf der Welt". So lesen wir es als Summe des Kapitels auf S. 171 eindrücklicherweise wieder (überhaupt kehren Kernsätze, an denen dem Vf. besonders liegt, zuweilen nach vielen Seiten wieder).

H. legt Christen und Nichtchristen ein Buch evangelischer Lebenspraxis vor, nach dem Stand heutiger Lutherhermeneutik, aber auch mit Implikationen reformatorischer Theologie, die er sich selbst für Dienst und Leben überzeugend zu eigen gemacht hart. Historisches Referat und lebensethisch Praktikables finden hier zueinander. Das macht das Buch lesenswert.