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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

575–577

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Fuchs, Thomas

Titel/Untertitel:

Konfession und Gespräch. Typologie und Funktion der Religionsgespräche in der Reformationszeit.

Verlag:

Köln-Weimar-Wien: Böhlau 1995. 543 S. gr.8° = Norm und Struktur, 4. geb. DM 118,­. ISBN 3-412-04895-X.

Rezensent:

Wolfgang W. Müller

Das hier zu besprechende Buch stellt eine Dissertation dar, die 1993 bei G. Lottes (Regensburg) im Fach Philosophie eingereicht wurde. Das Gespräch als Vermittlungsform des Glaubens ist der biblischen Tradition bestens vertraut, bildet sie doch bereits in der jesuanischen Praxis einen festen Bestandtteil der kirchlichen Gemeindebildung. Biblisch sind zwei Grundtypen bezeugt: das Streitgespräch zur Entscheidung der Wahrheit einer Aussage sowie das freie Gespräch in der Synagoge zur Formulierung der Wahrheit aus verschiedenen Meinungen heraus. In der Scholastik wird die Gesprächskultur der "disputatio" gepflegt. Die Reformation nimmt, unter Auseinandersetzung mit der scholastischen Tradition, beide biblisch bezeugten Stränge der Gesprächsform unter den Termini "Disputation" und "Synode" wieder auf. Diesen Prozeß nachzuzeichnen stellt sich Th. Fuchs in seiner vorliegenden Arbeit. Das Religionsgespräch bedingt in den Anfängen der Reformation eine wichtige institutionalisierte Form der Konfliktbewältigung. Neben diesem formalen Aspekt der Beschreibung dieses Gesprächstyps geht es dem Vf. auch um eine Darstellung des inhaltlichen Verlaufs jener Gespräche, die zu Beginn der Reformation geführt wurden.

Nach einer begrifflichen und formgeschichtlichen Klärung des Begriffs "Religionsgespräch" (6 ff.), zeichnet der Vf. den historisch gegangenen Weg der Religionsgespräche nach (35 ff.), wobei die akademische disputatio des damaligen Lehrbetriebs als Folie gilt. Die Leipziger Disputation und das Religionsgespräch auf dem Wormser Reichstag gelten als Glanzlichter auf diesem Weg. In einem 2. Teil wird der Typos des reformationszeitlichen Religionsgesprächs untersucht (223 ff.), wobei der Vf. auf die verschiedenen Ebenen des Gesprächs hinweist: auf die kommunale Ebene (z. B. Breslau 1524, 1./2. Zürcher Disputation 1523), auf die territoriale Ebene (z. B. Homburger Synode 1526, Disputation von 1526 in Baden), auf die Reichsebene (z. B. Reunionsversuche in Worms und Regensburg 1540/41). Es folgt ein ausführliches Resümee der Arbeit (457 ff.): die Kontinuitäten des reformationszeitlichen Religionsgesprächs, dessen Gesprächsstrategien wie deren Rezeption. Ein umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis (509 ff.) sowie Personen- und Ortsindex (534 ff.) beschließen die Arbeit.

Mit H. Jedin wird die Disputation als ein "Verfahren zur siegreichen Überwindung des Gegners und der Festlegung einer der streitenden Meinungen als die wahre, rechtlich festgelegt zum Beispiel durch Universitätsstatuten", verstanden, "während Religionsgespräche nach Jedin in ihrem Ablauf und den Teilnahmemöglichkeiten rechtlich nicht fixiert waren" (9). Luthers Disputation entstammt der akademischen Tradition scholastischer Theologie, wobei Luther die akademische disputatio für seine Sache instrumentalisierte. Er benutzte die Disputation in polemischer, traditionsbildender und pädagogischer Intention (76ff.). Die Instrumentalisierung brachte es mit sich, daß die Disputation nicht mehr exklusiv theologische Fragen behandelte, sondern auch kirchenpolitische Probleme diskutiert wurden. Diese Weitung läßt sich sehr gut am sogenannten Thesenanschlag Luthers in Wittenberg feststellen (vgl. 78 ff.). Die Wittenberger Disputation ist teils innovativ, teils traditionell (78).

Diese Gesprächsform wurde auch bei den Altgläubigen zur Wahrung des Glaubensgutes gepflegt: Ordens- und Kapitelsdisputationen versuchten, den alten Glauben mit denselben Mitteln der Gesprächsstrategie zu bewahren. Die Leipziger Disputation bildet den Höhepunkt der reformationszeitlichen Gesprächskultur, insofern eine breite außeruniversitäre Öffentlichkeit erreicht wurde. Der Wormser Reichstag von 1521 bildet dagegen das Paradigma dieser Gesprächsstrategie (187ff.), insofern in Worms das 1. institutionalisierte Religionsgespräch synodalen Charakters stattfand: "In Worms hatte ein Konzil im Kleinen stattgefunden. Hier sollte nicht wie in Leipzig die Wahrhaftigkeit einer der Meinungen bewiesen werden, sondern idealtypisch zwischen zwei formell gleichberechtigten Meinungen ein Kompromiß ausgearbeitet werden" (215).

Die Aneignung und Umsetzung der im Lutherkonflikt bis 1521 entwickelten hermeneutischen Prinzipien und Argumentationsstrategien auf der Verfassungsebene von Reich, Territorium und Stadt werden im zweiten Hauptteil des Buches beschrieben (223 ff.). Anhand der Darstellung der akademischen Disputation der Stadt Breslau im Jahr 1523 zeigt der Vf. auf, inwieweit die universitäre Gesprächsform außeruniversitär fruchtbar gemacht werden konnte (223 ff.). Mit dieser These widerspricht der Vf. der in der Forschung vertretenen Meinung, Zwingli sei der Erfinder der Konzeption einer "evangelischen Disputation" (B. Moeller) für Gesamtdeutschland (231, 276, 492 f.).

Die Zürcher Disputation bildet für die Reformation ein "epochales Ereignis" insofern die weltliche Macht als mit der kirchlichen gleichberechtigt erachtet wird. Die kirchliche Autorität wird nun gezwungen, ihre Praxis der Tradition mit der Schrift zu belegen! Die Religionsgespräche bedingen die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition. Hermeneutisch wird das Schriftprinzip in die Argumentationsstrategie eingebaut: die Lehre von Christus als der Mitte der Schrift, die jeder Lehraussage durch ihre Nähe zum biblischen Christus erst Gewicht und Autorität verleiht, wird zugleich mit der Lehre des doppelten Kirchenbegriffs und der individualistischen Rechtfertigungsbotschaft zu einen Argumentationskomplex verbunden. Dabei gelten als biblische Kronzeugentexte Gal 1,8 f.; 1Thess 5,21; 1Kor 14,29 f. Die individuelle Bibellektüre wird damit auf gemeindlicher Basis wirkliche Alternative zu kirchlichem Autoritäts- u. Lehranspruch (475). Implizit ist damit ein Grundgedanke reformatorischer Ekklesiologie mitgegeben: Die Universalkirche wird auf die Ortsgemeinde reduziert (480).

Mit dieser "haute vulgarisation" theologischer Gelehrsamkeit auf das "einfache Gemeindemitglied" geht die ekklesiologische Weitung der Rechtfertigungsbotschaft einher: "Mit anderen Worten: Die individualistische reformatorische Rechtfertigungslehre hat das gemeindliche Religionsgespräch konsequent und notwendig hervorgebracht" (487). Die Lehre des allgemeinen Priestertums ist als Fazit dieser Bewegung zu betrachten. Das Konzept des gemeindlichen Religiongesprächs war erfolgreich, weil es dabei nicht so sehr um den evangelisch-katholischen Gegensatz ging, "als vielmehr um die Erkenntnis des wahrhaftigen Gotteswortes als Grundlage einer individuellen und gemeindlichen Existenz zum diesseitigen und jenseitigen Heil" (493). Mit der Heilsfrage sieht der Vf. auch die Kontinuität der Religionsgespräche gegeben, wenngleich im fortschreitenden Prozeß der Reformation die kommunalen Religionsgespräche "schlichtweg" beseitigt wurden (498). Fazit: Der reformatorische Konflikt als Gesprächskonflikt betrachtet, kann als Ergebnis eines Neuansatzes gegen die Scholastik verstanden werden, wie er von der Wittenberger Universität propagiert wurde. Im Blick auf den institutionellen Rahmen der Gesprächskultur lagen idealtypisch "die akademische Disputation als Streitgespräch zur Entscheidungsfindung einer These als wahr oder unwahr und das Religionsgespräch synodalen Charakters zur Übereinkunft verschiedener Meinungen" vor (499).

Die Arbeit geht dem Reformationsgeschehen unter dem Aspekt der Gesprächskultur nach und zeigt institutionalisierte Wege der Gesprächsführung auf, die argumentative kirchen- wie traditionsbildende Kräfte besaßen. Die Darstellung der historischen Sachverhalte gelingt dem Vf. in einer souveränen Weise. Mit Interesse und Spannung liest sich die historische Darstellung, die glänzend geschrieben ist. Versteht man Theologie zuinnerst als ein Sprachgeschehen, dann leuchtet der vom Vf. gewählte Zugang ein. Theologie in ihrer historischen Gestalt ist immer auch Konfliktgeschichte, insofern um die geschichtliche Wahrheit gerungen wird. Von daher kommt der Untersuchung auch ökumenische Bedeutung zu: Die Beschäftigung mit den Gesprächsstilen der Reformationszeit lädt den (heutigen) Leser ein, an (s)einer (kirchlichen) Gesprächs- und Streitkultur mitzuarbeiten.

Die von Th. Fuchs vorgelegte Studie (in historischer wie systematischer Intention geschrieben) hat einen lesbaren Stil. Die verschlungenen Wege der Anfänge der Reformation werden klar und deutlich vorgestellt. Das systematische Anliegen der Arbeit gerät dabei niemals außer Blick. Der Rez. wünscht diesem Buch viele Leser, damit die heutige kirchliche wie theologische Entwicklung aus einem gesunden Gesprächsklima innerkirchlicher, ökumenischer wie interkonfessioneller Art leben kann.