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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

570 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Tilborg, Sjef van

Titel/Untertitel:

Reading John in Ephesus.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1996. 232 S. gr.8° = Novum Testamentum, 83. geb. $ 85.25. ISBN 90-04-10530-1

Rezensent:

Jörg Frey

Nachdem seit gut zehn Jahren das Corpus der ephesinischen Inschriften vorliegt(1), wurden in den letzten Jahren eine Reihe von Monographien zum Umfeld und zur Geschichte des ephesinischen Christentums veröffentlicht(2). Das 4. Evangelium wird freilich in diesen Arbeiten kaum berücksichtigt, obwohl, wie zuletzt Martin Hengel gezeigt hat(3), die Tradition des 2. Jh.s von Papias bis Irenäus deutlich nahelegt, daß das Joh in Kleinasien bzw. in Ephesus verfaßt und ediert wurde.

Der in Nijmegen (NL) lehrende Neutestamentler S. van Tilborg geht in seiner Studie heuristisch von Hengels These aus und bietet eine Reihe weiterer Indizien zu ihrer Stützung. Doch unterscheidet sich seine Studie methodisch grundlegend von den erwähnten Arbeiten zum ephesinischen Christentum: Er ist nicht an der Erklärung der Textentstehung oder am historischen Aufweis der ephesinischen Herkunft des Joh interessiert, sondern im Sinne seines rezeptionsorientierten Ansatzes(4) an der Frage, wie das Werk von ephesinischen Rezipienten gelesen werden konnte, welche ’Interferenzen’ sich zwischen der erzählten Welt des Joh und der realen Welt ephesinischer Leser ergeben konnten.

Der Vf. untersucht nun, welche Termini aus dem joh Text auch in den Inschriften und anderen zeitgenössischen Quellen über Ephesus begegnen und ob in diesen Fällen semantische Entsprechungen oder eher Differenzen vorliegen. Aus diesen Daten kann ermessen werden, inwiefern die Welt des Evangeliums zeitgenössischen Lesern in Ephesus vertraut oder fremd erscheinen konnte etc. Der Vf. untersucht dazu das ’System’ der Personennamen im Joh und das aus den Inschriften rekonstruierte ’System’ der Namensformen in Ephesus, die christologischen Titel im Joh und die in Ephesus belegten Bezeichnungen für den Kaiser und für Artemis, die jeweiligen Angaben über den geographischen Rahmen und die soziale Wirklichkeit, über religiöse Gruppen und Schülerkreise sowie schließlich den ephesinischen Kaiserkult.

Einige der Beobachtungen in v. T.s materialreicher Untersuchung sind in der Tat bemerkenswert (wenn auch nicht durchgehend neu). So läßt sich die Tatsache, daß Frauen im Joh eine auffällige Rolle spielen und relativ unabhängig handeln, im Horizont der Verhältnisse in Ephesus (und anderen kleinasiatischen Städten) verstehen, wo Frauen zumindest der höheren Schichten Zugang zu einflußreichen Ämtern und relative wirtschaftliche Selbständigkeit hatten. Auch die joh Darstellung des Jüngerkreises Jesu als eines Kreises von Freunden weist gewisse Parallelen zum Modell privater religiöser Vereinigungen der hellenistischen Welt auf. Einige der christologischen Titel im Joh sind in Ephesus für den Kaiser oder für Artemis belegt. Auf die Korrespondenz zwischen der Prädikation Domitians als "dominus et deus" und Joh 20,28 wurde in der Forschung schon häufiger hingewiesen. Daß sich im Prozeß Jesu nach Joh die Hohenpriester zum Kaiser als ihrem alleinigen König bekennen (Joh 19,15) und Pilatus mit Denunziation beim Kaiser drohen (Joh 19,12), ist noch auffälliger angesichts der Tatsache, daß archiereis in Ephesus als die obersten Vertreter des Kaiserkults fungierten.

An diesem Beispiel zeigen sich aber auch die Grenzen der vorliegenden Studie:

Joh zeichnet seine Geschichte ja nicht in die kleinasiatischen, sondern in die palästinischen Verhältnisse ein. Inwieweit seine ersten Leser die jüdischen i>archiereis im Horizont der ihnen vertrauten ephesinischen verstanden und ob der Evangelist gar die für Jerusalemer Verhältnisse problematische Formulierung i>archierens ton euianton ekeinon (Joh 11,49. 51; 18,13), die einen jährlichen Wechsel im Hohepriesteramt nahezulegen scheint, angesichts der kleinasiatischen Praxis der jährlichen Neuwahl von i>archiereis gewählt hat, bleibt ganz unsicher. Ganz spekulativ ist es, wenn v. T. eine Karte der im Joh erwähnten Orte nach dem Modell der ephesinischen Topographie zeichnet und mutmaßt, ob ephesinische Leser die joh Erzählung wohl in einem derartigen Rahmen verstanden haben.

Natürlich könnten heidnische Ephesiner den Text des Joh auf dem Hintergrund des ihnen bekannten Stadtlebens mit den hier herausgearbeiteten Bezügen gelesen haben. Aber es ist zweifelhaft, ob das Evangelium zunächst überhaupt solche Leser hatte. Der joh Text legt vielmehr nahe, daß seine intendierten Leser nicht Heiden ohne jegliche Vorkenntnisse waren, sondern Christen, die mit der Schrift und mit den Grundzügen der Geschichte Jesu bereits vertraut waren und in vielen Punkten schon besser zwischen den Verhältnissen in Palästina und Ephesus zu unterscheiden wußten, als der Vf. unterstellt. Die hier rekonstruierte Lektüreweise dürfte zumindest auf die Rezeption der ersten Leser des Joh nicht zutreffen.

Die vom Vf. aufgewiesenen Entsprechungen zwischen der Welt von Ephesus und dem joh Text treffen im übrigen nur selten ephesinische Propria. Die meisten Bezüge ließen sich für viele andere hellenistische Großstädte in ähnlicher Weise erheben. Der schroffe Gegensatz zwischen der Verehrung des Kaisers als "Gott" oder "Sohn Gottes" und der Prädikation Christi mit diesen Titeln besteht für die gesamte hellenistisch-römischen Welt.

Die Arbeit erhebt eine mögliche Lektüreweise des joh Textes, sie trägt zur Frage nach seinem präzisen Sinn, seiner Entstehung und der Intention seines Autors nur wenig bei. Aber der Aufweis, daß das Evangelium mit der realen Welt seiner möglichen ephesinischen Leser in vielfältiger Hinsicht in Beziehung tritt, sollte die Auslegung vor jeder geistes- oder theologiegeschichtlichen Engführung warnen. Der joh Text besteht nicht vorrangig aus ’theologischen Begriffen’, und er ist auch nicht einfach als ’Spiegel’ einer weltabgewandten, sektiererischen Gruppe zu lesen. Seine (christlichen) ersten Leser lebten in einer konkreten Welt, mit der die Welt des joh Textes in Beziehung treten mußte. Trotz der o. g. Einschränkungen ist es dem Vf. zu danken, daß er das reiche epigraphische Material aus Ephesus gründlich ausgewertet und eine Vielzahl von Bezügen zum Stoff des 4. Evangeliums vorgeführt hat.

Fussnoten:

(1) Die Inschriften von Ephesus (ed. H. Wankel etc.), Bd. I-VIII, Bonn 1979-1984.
(2) C. E. Arnold, Ephesians: Power and Magic, Cambridge 1989; S. J. Friesen, Twice Neokoros. Ephesus, Asia and the Cult of the Flavian Imperial Family, Leiden 1993; W. Thissen, Christen in Ephesus, TANZ 12, Tübingen-Basel 1995; M. Günther Die Frühgeschichte des Christentums in Ephesus, ARGU 1, Frankfurt a. M. 1995; R. Strelan, Paul, Artemis, and the Jews in Ephesus, BZNW 80, Berlin-New York 1996; vgl. auch den umfangreichen Aufsatz von G. H. R. Horsley, The Inscriptions of Ephesos and the New Testament, NT 34 (1992), 105-168.
(3) M. Hengel, Die johanneische Frage, WUNT 67, Tübingen 1992, 9-95 und 99 f.
(4) S. van Tilborg, The Gospel of John: communicative processes in a narrative text, Neot. 23 (1989), 19-31; ders., The Theology of the Johannine Gospel as an Imaginary Narrative Reality, Bulletin of the European Society for Catholic Theology 5 (1994), 28 ff.; ders., Imaginative Love in John, BIS 2, Leiden 1993.