Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

567–569

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Henderson, Ian H.

Titel/Untertitel:

Jesus, Rhetoric and Law.

Verlag:

Leiden-Köln-New York: Brill 1996. 437 S. gr.8° = Biblical Interpretation Series, 20. Lw. $ 139.50. ISBN 90-04-10377-5.

Rezensent:

Martin Pöttner

H. zufolge sind ntl. Texte im Horizont einer zutreffend verstandenen antiken Rhetorik zu interpretieren. Öffentliche Kommunikation in der hellenistischen Kultur setzt für Produktion und Rezeption die Beherrschung eines minimalen Sets von Regeln voraus, die "rhetorisch’ kodiert sind: "Chreia, gnome, mythos and diegema had some of the ubiquity and socially broad, even cross-cultural appeal of modern mass publicity’ (6 f). H.s Interesse gilt der Gnome, die er als "syntactically separable’, "ethically urgent (normative)’ und "analogical in [sc. semantic] structure" beschreibt (1 f. u. ö.). Die Gnome verdient besondere Beachtung, weil "gnomic rhetoric can clarify the basic problem of early Christianity: the equivocal relationship between Jesus’ expressed aims and the need for early Christian writers to translate his overcharged (e. g., provocatively legal) symbolism into functionally normative texts for young churches’ (2). H.s These beansprucht, Genese und Entwicklung einer eigenständigen frühchristlichen Öffentlichkeit zu erhellen. Dieser Anspruch wird rhetorisch elegant und polemisch vorgetragen. Denn H. diagnostiziert nicht zuletzt im facettenreichen "Rhetorical Criticism’ ein eher unzureichendes Verständnis von antiker Rhetorik, sodaß er sich zu einer "defense of rhetoric against its admirers’ ermutigt fühlt (37-71).

Kap. I versucht eine Bestimmung von "Gnome’ bzw. "Sentenz’ (73-155). Mittels des schönen abendländischen Duals "appeal to style and emotion’ vs. "reason’ (118) strukturiert H. die rhetorische Behandlungsweise der Gnome von der Sophistik bis zu den Progymnasmata (primordia dicendi). Die Gnome ist primär auf der Ethos- und Pathosseite der antiken Rhetorik angesiedelt, dient also weniger argumentativer Überzeugung, sondern eher dem rhetorischen Design der Redenden und der emotionalen Kontaktaufnahme mit dem Publikum. Für die Exegese der synoptischen Evangelien, den Zugang zur (mündlichen) Tradition und auch zum öffentlichen Redner Jesus erweist sich die Gnome als grundlegend, weil allein sie (und nicht die Chrie) mündlichen Vortrag, elementare Schriftlichkeit, rhetorische Theorie und avanciertere Literatur zu verbinden vermag.

Die synoptischen Evangelien und ihre schriftlichen Vorstufen wie Q sind ursprünglich in griechischer Sprache konzipiert. Wer zu den wenigen gehörte, die Griechisch lesen oder gar schreiben konnten, hatte zumindest die Progymnasmata absolviert und die Fähigkeit erworben, situationsgemäß traditionelle Gnomen zu verwenden und eigenständig Gnomen zu bilden. H. unterstellt einen "gnomic core’ (142-146), der in Reden differenziert aktualisiert werden kann. Semantisch ist dieser Kern als analogia relationis strukturiert (A:B::C:D oder A:B::C:B [151]). Die Möglichkeit zur differenzierten Aktualisierung eines gnomischen Kerns erklärt, warum H. Gnomen syntaktisch als relativ selbständig gegenüber ihrem jeweiligen Kontext betrachtet. Pragmatisch sind Gnomen auf "rhetorical normativity’ (152 u. ö.) ausgerichtet. Sie aktualisieren nicht in erster Linie geltende soziale Normen ("social normativity’), sondern "rhetorische Normativität’ stellt sich im komplexen kommunikativen Geschehen von Rede, Verstehen und Einverständnis bzw. Verweigerung von Einverständnis ein oder nicht.

Kap. II zeigt auf, daß jedenfalls für die synoptischen Evangelien die Rede von "Weisheitssprüchen" o. ä. durch das Sprechen von "Gnomen" abgelöst werden kann (156-195). Die Ausbildung in den Progymnasmata bildet ein deutliches Mittelglied zwischen antiker Rhetorik und (israelitisch-frühjüdischer) Weisheitsliteratur: "A Greco-Roman reader would easily recognize [W.] Richter’s admonition-form as a species of enthymeme and would discern gnomai in many of its warnings and motive-clauses’ (170). In den synoptischen Evangelien zeigen sich entsprechende Texte freilich einem "level of rhetorical culture’ verpflichtet, in dem "people were taught to talk the way they wrote and vice versa’ (188). Die elementare rhetorische Ausbildung stellt in dieser Weise ein Kontinuitätsmoment von "Mündlichkeit" und "Schriftlichkeit" dar.

Kap. III (196-235) amplifiziert diese Thesen in Auseinandersetzung mit R. Bultmann, W. A. Beardslee, J. D. Crossan, K. Berger u. a. Wenn die Gnome auf einem Kontinuum von rhetorisch gestalteten Zeichenprozessen angesiedelt ist, das Mündlichkeit und Schriftlichkeit umschließt, dann kann die ohnehin problematische Frage nach der Authentizität einzelner Äußerungen Jesu angemessener beantwortet werden: "(T)he synoptists, readers and writers, seem to have been more interested in recollecting the emotional and argumentative gist of remembered speech than in syntactically faithful, verbatim iteration’ (217). Diese Annahme dynamisiert beachtlich das in die Krise geratene Modell von "Tradition" und "Redaktion" und bezieht es auf nachvollziehbare antike Gewohnheiten der Produktion und Rezeption von Texten (Kap. IV [236-291]). Gegen die häufig verwendete "Schichten"-Metaphorik wendet H. ein: "Texts and performances were certainly not conceived stratigraphically in Greco-Roman rhetorical culture, where the textual aspects of rhetorical performance are understood to be telescopic, dynamic and adjustable to fit the needs of varied performances and readings’ (250). H. zeigt m. E. weithin überzeugend, daß Gnomen zum einen in unterschiedlichen Kontexten kommunikativ präsentiert werden können (anschaulich 253-260 zu Mk 4,24 par). Zum anderen finden sie in hervorgehobener Weise bei der Textkomposition Verwendung (so z. B. 272 zu Mt 5,48; 7,12/Lk 6,31.36). Insgesamt skizziert H. wichtige Aspekte synoptischer Stilistik. Ihm zufolge ist mit "deliberately chosen rhetorical styles ranging between improvisational and self-consciously textual’ (259) zu rechnen.

In Kap. V (292-352) versucht H. im Gefolge seines hermeneutischen Programms, das Entstehen synoptischer "Christologie", "Eschatologie" und "Ekklesiologie" (im Sinne von "discipleship’) rhetorisch zu rekonstruieren. Dabei rückt immer stärker der Ethos- und Pathosaspekt gnomischen Sprechens in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Mit Bultmann will H. "Eschatologie" eher als Bezeichnung einer "Stimmung" verstanden wissen (298 u. ö.). Auf diese Weise schließt sich "eschatologische" Rede leichter an H.s pragmatisches Zentralproblem an: die rhetorische Normativität synoptischer Gnomen. Mt 8,22 par ist als "a norm about normativity itself’ (301) zu verstehen. H. weigert sich zwar, vorschnelle soziologische Schlüsse aus rhetorischen Beobachtungen zu ziehen (z. B. 324-326).

Freilich gilt, daß "the strongly gnomic aspect of Synoptic rhetoric functions both to distinguish and to integrate it within the very broad and self-consious whole of antique rhetoric’ (326). Gnomisches Sprechen steht an der Wiege der "Christologie", da der Sprecher der Gnomen über sein Ethos identifiziert wird. Zugleich zeigt sich zumindest die rhetorische Konstruktion von "discipleship’, da jede Gnome als Versuch anzusehen ist, Ethos und Pathos von Rhetor und Publikum einander anzunähern (326 ff.). Dieses Modell ist an relativ stabilen Gruppenidentitäten orientiert (326 u. ö.), wobei H. betont, daß "in Jesus’ rethoric... a nuanced, magisterially authoritative but not authoritarian normativity’ (351) ausgedrückt werde.

Auf diesem Hintergrund überrascht die zentrale Botschaft von Kap. VI (353-406) nicht allzusehr: Gnomisches Sprechen bot Jesus und den Nachfolgenden "a rhetorical medium for asserting personal authority in controversional legal topics without adopting a specifically legal rhetoric or an attitude to the Law’ (367). Blickt man auf das Entstehen und die Entwicklung einer frühchristlichen Öffentlichkeit, so hatte dies neben einem "christologischen" Effekt nicht zuletzt "a frustrating normative ambiguity’ (368) zur Folge. Dieser Ambiguität begegnen H. zufolge die synoptischen Texte mit "domestication’ (ebd., im Anschluß an B. L. Mack u. V. K. Robbins) von Jesu gnomischer Rhetorik (etwa Mt 7,1 f. [369 f.]), während Paulus eine Strategie der "sublimation of topically legal gnomai’ (368) entwickelte (z. B. Röm 2,1b im Kontext von 2,1-11 [369 f.]). Sehe man etwa von Röm 13,7 ab, kämpfe Paulus in der Regel mit "Jesus’ sheer unquotability’ (397). Wie die gnomische Distanz zu Proverbien die Tendenz irritiert, unser Leben als kontinuierliches Projekt zu entwerfen (399; im Anschluß an Beardslee), ohne auf die Weisheit zu referieren, so berühre selbst die Gnome Mk 7,15 par (383-388) nicht das Gesetz. Ausschließlich der Versuch "of building a coherent legal system out of biblical Law’ (400) werde kritisch bewertet. Auf dieser "rhetorischen" Basis kommt H. zu dem Schluß, daß Jesu Sprechen keineswegs als "didaktisch" aufzufassen und Jesus selbst nicht als "Lehrer" zu interpretieren sei (406).

Für H.s Einschätzung der Gnome ist die kritische Behandlung der aristotelischen "Rhetorik" ausschlaggebend (z. B. 120-124.303 f.). M. E. war Aristoteles auf dem Weg, alle Zeichenprozesse als Schlußfolgerungsprozesse (und umgekehrt) zu begreifen. Die von H. vermutete Spannung zwischen dem Ethos- und Pathos-Aspekt der Gnome einerseits und der Gnome als Teil von Enthymemen andererseits dürfte für Aristoteles daher kaum bestanden haben, weil auch Ethos und Pathos zeichenvermittelte rhetorische Muster sind, also mittels induktiver und deduktiver, vielleicht auch abduktiver Schlußverfahren kommuniziert werden (vgl. Rhetorik, 1395a 20-1395b 20). Gegen die aristotelische Systematik ist m. E. nur einzuwenden, daß Gnomen ausschließlich als Element von Enthymemen, also von bestimmten deduktiven, nicht aber von induktiven Schlußfolgerungen begriffen werden. Doch das Gegenteil ist der Fall, wie z. B. Mt 5,13-16 mit den Gnomen in 5,13b.14b.15 belegt. Wenn ich recht sehe, ist jedenfalls auf den zweiten Blick kaum eine der von H. ausgemachten 228 Verwendungen von Gnomen in synoptischen Texten (Appendix A [410-413]) unabhängig von einem induktiven oder deduktiven Argumentationszusammenhang (vielleicht Lk 17,1 par, aber nicht Lk 9,62 [304-307]). Mir scheint daher, daß die differenzierte Position des Aristoteles tendenziell zutrifft. Ohnehin speist sich H.s Aristoteleskritik offenbar aus sicher berechtigten Einwänden gegenüber den einseitig auf "Argumentation" zentrierten Konzeptionen von Robbins und Mack. Gerade die deutliche stilistische und argumentative Kontextualisierung von Gnomen bindet die jeweilige Aktualisierung eines "gnomic core’ syntaktisch eng an das je spezifische narrative Programm der Evangelientexte. Dies muß stärker akzentuiert werden, als es bei H. der Fall ist. Auch dann gilt immer noch, daß "some gnomai ­ and the tradition of gnome-use generally ­ have a live of their own beyond the work of particular writers’ (264).

Wenig überzeugend finde ich H.s Behauptung, die inhaltssemantische Dimension des "gnomic core’ lasse sich in jedem Fall als analogia relationis erfassen. Wie etwa H.s Analyse von Mk 9,35; 10,31.43 f.; Mt 18,4; 19,30; 20,16.26b-27; 23,11; Lk 9,48c; 13,30; 14,11; 22,26b(-27) selbst zu belegen scheint (260-264), handelt es sich um die relative Stabilität eines (vagen) semantischen Grundgegensatzes, der durch aktuelle Kontextselektionen mit weiteren semantischen Komponenten die konkrete semantische Oberfläche erzeugt. Die entscheidende rhetorische Operation dürfte im Blick auf die genannten Texte in der Regel die Dissoziation darstellen, so daß z. B. protos mit spezifischen Indices (kyrios panton vs. doulos panton) verbunden wird.

Neben Einsichten in die synoptische Stilistik ist H.s Unterscheidung von "rhetorischer" und "sozialer Normativität" der m. E. wichtigste Ertrag seiner Studie. Parallel zu Tendenzen im "Literary Criticism’ wird damit auch aus "rhetorischer" Perspektive der lange gehegten Vermutung widersprochen, die schriftlichen (!) synoptischen Texte einschließlich ihrer mündlichen und schriftlichen Vorstufen repräsentierten jeweils Kommunikationsstil, Überzeugungen und soziales setting der tradierenden Gemeinden. Ich fürchte freilich, daß H.s Orientierung an Autorität, Gruppenidentität usf. irreführend ist.

H. unterschätzt die Freiheitsgrade, die im frühen Christentum gegenüber derartigen Orientierungen entwickelt wurden. Gerade die Einführung von Schrift als zweitem Medium von Glaubenskommunikation neben den kommunikativen Vollzügen der frühchristlichen Gemeinden als organisierten Interaktionssystemen zeigt dies an. H.s religionssoziologische Fehleinschätzung des Entstehens und der Entwicklung einer frühchristlichen Öffentlichkeit ist m. E. darin begründet, daß sein Ansatz überhaupt nur einen hermeneutischen Zugang zu Phänomenen von Personalität und Gruppenidentität hat. Soziologisch hat dies zur Folge, daß allein der Dual von sozialer Marginalität und (imperialen) Machtansprüchen einiges Gewicht erhält (407-409 u. ö.). Dies dürfte nicht ausreichen um die selbstkritischen Universalitätsansprüche der frühchristlichen Öffentlichkeit zu rekonstruieren. Diese Ansprüche, ihre Gefährdungen und Selbstgefährdungen werden nicht zuletzt durch die von H. notorisch vernachlässigten Themen basileia und "Weisheit" sowie durch die Rezeption "apokalyptischer" Topoi symbolisiert. H.s Schweigen hierzu ist beredt: "In Jesus’ day as now there were very few second chances in public speech and very few audiences willing to hear a speaker with only wisdom and eschatology to offer" (3). Zuweilen hat auch ein rhetorisch elegant gekleideter Kaiser keine Kleider an.