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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

564–566

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gerhardsson, Birger

Titel/Untertitel:

The Shema in the New Testament. Deut 6:4–5 in Significant Passages.

Verlag:

Lund: Novapress 1996. 324 S. 8°. Kart. 89,­. ISBN 91-7137-003-X

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Birger Gerhardsson, führender schwedischer Neutestamentler und einer der früheren Präsidenten der Societas Novi Testamenti Studiorum, war 1961 bekannt geworden durch sein Buch "Memory and Manuscript’(1). Anhand der Untersuchung rabbinischer Überlieferungsvorgänge hatte G. mit diesem Werk wesentliche Anregungen für die Erforschung der (mündlichen) Jesusüberlieferung gegeben, wenngleich sich seine dort entwickelte Sicht seither keineswegs bei der Mehrheit der Exegeten durchgesetzt hat. Die Annahme schriftgelehrter Bildung bei Jesus selbst und bei den Tradenten der Jesusüberlieferung sowie die Heranziehung rabbinischer Auslegungsmethoden und Überlieferungen bei der Interpretation ntl. Texte durchziehen auch die Arbeiten in dem vorliegenden Sammelband.

Die 17 ursprünglich zwischen 1966 und 1994 publizierten ("Original Imprint’ 319-321) und hier photomechanisch reproduzierten Studien (nur zweimal finden sich kurze Ergänzungen; vgl. aber "Introduction’, 9-12) dienen dem Nachweis einer These, die sich am besten an dem letzten Aufsatz des Bandes ablesen läßt,(2) in dem G. seine Sicht rückblickend und zusammenfassend formuliert. Danach sei das Grundbekenntnis Israels (Dtn 6,4 f.) nicht nur Jesus und seinen Nachfolgern vor und nach Ostern vertraut gewesen, sondern habe auch eine Reihe von ntl. Texten im Sinne eines strukturgebenden Musters geprägt (G. nennt, rückblickend auf frühere Einzeluntersuchungen, in dieser Reihenfolge: Mt 4,1-11 par. Lk 4,1-13; Mt 27,33-54; Mk 4,1-9.13-20 parr.; Mt 13,24-33.44-48; Mt 6,1-6.16-21; Apg 4,32 sowie 1Kor 13,1-3).

Wichtigstes Erkennungszeichen dafür sei das Vorkommen der drei Elemente Herz, Seele und Kraft in Texten über die rechte oder falsche Haltung gegenüber Gott.(3) Die Kombination dieser drei Elemente sei nicht zufällig oder im jeweiligen Kontext begründet, sondern beruhe auf einer midraschartigen Interpretation der drei Forderungen aus Dtn 6,5, wobei entsprechend rabbinischer Interpretation "Seele" auf das Martyrium und "Kraft" auf den "Mammon", also den gesamten Bereich des Besitzes, gedeutet werden konnten. Das Schema’ diene in den so identifizierten Texten nicht in erster Linie der Verkündigung, sondern vielmehr der bewertenden, überprüfenden und beschreibenden Darstellung der Treue Jesu oder seiner Zuhörer gegenüber dem Gotteswillen.

Dahinter lassen sich nach G. Auseinandersetzungen zwischen judenchristlichen und zeitgenössischen protorabbinischen bzw. rabbinischen Gruppen vermuten. Die Grundzüge eines solchen Gebrauchs des Schema’ bei der Produktion neuer Texte führt er auf Jesus selbst zurück (in diesem Zusammenhang kommt seiner Interpretation des Gleichnisses vom Sämann bzw. vom viererlei Acker einschließlich seiner Deutung als authentisch maßgebliche Bedeutung zu). Die meisten der untersuchten Texte erhielten aber ihre dreigliedrige Struktur durch einen urchristlichen Lehrer mit fortgeschrittener pharisäischer Bildung bzw. in seiner Schule (vgl. Mt 13,52!), die aufgrund von Jesusüberlieferung ("from and about Jesus’, 318) Jesu eigene Auseinandersetzungen mit den Pharisäern auf neuer Ebene systematisch fortsetzten.

Ausgangspunkt und gleichzeitig Weichenstellung in Richtung auf die hier nur grob skizzierte These war eine detaillierte Untersuchung zur Versuchungserzählung bei Matthäus, deren Kapitel 4 (The Temptation Narrative [M] and Deut 6:5) den Sammelband einleitet (13-23).(4)

Es folgen zehn Aufsätze zu Matthäustexten, von denen vor allem die vier ersten wesentliche Beiträge zur Entfaltung der These leisten: The Parable of the Sower and its Interpretation (NTS 14, 1967/68, 165-193), 24-52; The Seven Parables in Matthew XIII (NTS 19, 1972/73, 16-37), 53-74; Geistiger Opferdienst nach Matth 6,1-6.16-21 (in: Neues Testament und Geschichte [FS O. Cullmann], Tübingen 1972, 69-77), 75-83; The Matthaean Version of the Lord’s Prayer (Matt 6:9b-13): Some Observations (in: The New Testament Age [FS B. Reicke], Macon 1984, 207-220), 84-97.

Ähnlich umfassend wie im letzten Beitrag des Bandes kommt G.s Sicht noch in zwei Aufsätzen zum Ausdruck, die primär der matthäischen Christologie gewidmet sind: "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen". Die Legitimitätsfrage in der matthäischen Christologie (EvTh 42, 1982, 113-126), 173-186; Mighty Acts and Rule of Heaven: ’God Is With Us’ (in: To Tell the Mystery [FS R. H. Gundry], Sheffield 1994, 34-48), 187-201.

Am Ende erschließt er anhand der Perikope vom höchsten Gebot nach Matthäus das hermeneutische Programm des Evangelisten, wobei neben den genannten Texten noch Lev 19,18 einerseits und Mt 5,17-20 andererseits besonders in den Blick kommen: The Hermeneutic Program in Matthew 22:37-40 (in: Jews, Greeks and Christians [FS W. D. Davies], Leiden 1976, 129-150), 202-223.

Die drei übrigen Studien zu Matthäus berühren dagegen die These eher am Rande: Sacrificial Service and Atonement in the Gospel of Matthew (in: Reconciliation and Hope [FS L. L. Morris], Exeter 1974, 25-35), 98-108; Jesus, ausgeliefert und verlassen ­ nach dem Passionsbericht des Matthäusevangeliums (in: M. Limbeck [Hg.], Redaktion und Theologie des Passionsberichtes nach den Synoptikern, Darmstadt 1981, 262-291), 109-138; Gottes Sohn als Diener Gottes. Messias, Agape und Himmelsherrschaft nach dem Matthäusevangelium, StTh 27, 1973, 73-106), 139-172. Auch in dem Aufsatz, der die Presidential Address zum SNTS-Kongreß 1990 in Mailand wiedergibt (If We Do not Cut the Parables out of Their Frames [NTS 37, 1991, 321-335], 224-238), wird sie nicht unmittelbar weitergeführt, wenn auch vorausgesetzt. Im übrigen ist dieser Beitrag für sich genommen methodisch wie theologisch besonders eindrucksvoll.

Zwei der restlichen vier Aufsätze sind einzelnen Texten gewidmet: Einige Bemerkungen zu Apg 4,32 (StTh 24, 1970, 142-149), 239-246; 1Kor 13. Zur Frage von Paulus’ rabbinischem Hintergrund, (in: Donum gentilicium [FS D. Daube], Oxford 1978, 185-209), 247-271. Die zwei anderen stellen die These noch einmal in einen umfassenderen thematischen Zusammenhang: Agape and Imitation of Christ (in: Jesus, The Gospels, and the Church [FS W. R. Farmer], Macon 1987, 163-176), 272-285; Du Judéo-christianisme à Jésus par le Shema’ (in: Judéo-christianisme [FS J. Daniélou], RSR 60, 1972, 23-36), 286-299.

Allein schon die Anzahl der Festschriftenbeiträge und die Namen der durch sie Geehrten beweisen die hohe Wertschätzung, die G. in der Fachwelt genießt. Dennoch scheinen seine Arbeiten zum Schema’ in der ntl. Exegese bisher nur ein begrenztes Echo gefunden zu haben. Die eingehende Diskussion seiner These, die G. selbst erhofft und bisher vermißt (12), kann auch im Rahmen dieser Anzeige natürlich nicht geleistet werden. M. E. liegt ihre Bedeutung vor allem darin, eine theologisch profilierte Gesamtschau Jesu zu ermöglichen und herauszuarbeiten, nach der Jesu Wirken in der Grundforderung des Gottes Israels verwurzelt war, eine Gesamtschau, die durch ihre literarische Gestaltung im Matthäusevangelium besonders prägend geworden ist.

Mit dem vorliegenden Band erweist sich G. also erneut als ein theologisch profilierter Bibelausleger, der über die in der wissenschaftlichen Exegese oft vorherrschende analytische Methodik hinaus auch nach synthetischen Zugängen zur ntl. Botschaft sucht. Die Studien zeichnen sich aus durch klare, einfache Sprache, originelle, bisweilen unkonventionelle Ideen, vor allem aber durch die eindrückliche Erhebung des theologischen Sinns der Jesuserzählung der Evangelien, besonders des Matthäus. Was G. über die Gleichniserzählungen Jesu in den synoptischen Evangelien herausgearbeitet hat, könnte man so mutatis mutandis auch auf sein eigenes exegetisches Werk übertragen: "The synoptic narrative meshalim are not created by a poet or a story-teller; they are designed by a man with a message which he wants to elucidate more closely on different points’ (231, Hervorhebung v. Rez.).

Fussnoten:

(1) Memory and Manuscript. Oral Tradition and Written Transmission in Rabbinic Judaism and Early Christianity (ASNU 22), Uppsala 1961. Vor einigen Jahren hat er seine Sicht noch einmal in dem kleinen Band: The Gospel Tradition (CB.NT 15), Lund 1986, in klaren Konturen dargestellt.
(2) The Shema’ in Early Christianity, in: The Four Gospels (FS F. Neirynck) (BEThL 100), Leuven 1992, I 275-293 (im vorliegenden Band 300-318).
(3) Keine große Rolle spielt in G.s These wie in dem Buch insgesamt das Bekenntnis zur Einheit Gottes. Texte wie Röm 3,30; 1Kor 8,6; Gal 3,20; Eph 4,6; 1Tim 2,5; Jak 2,19 werden nicht behandelt ("Index of Analyzed Passages’ 323 f.).
(4)The Testing of God’s Son (Matt 4:1-11 & Par). An Analysis of an Early Christian Midrash (CB.NT 2,1), Lund 1966, 71-83. Den Abschluß dieser Monographie stellt G. jetzt in Aussicht (303, Anm. 6).