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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

563 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Boismard, Marie-Émile [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

1.Un Évangile Pré-Johannique. Vol. III, 1–2: Jean 5,1–47. 2. Le Martyre de Jean l’Apôtre.

Verlag:

1. Paris: Librairie Lecoffre 1996. 166 u. 171 S. gr. 8° = Études Bibliques, 28. ISBN 2-0760-3541. 2. Paris: Gabalda 1996. 86 S. gr.8° = Cahiers de la Revue Biblique, 35. ISBN 2-85021-086-2.

Rezensent:

Wolfgang Wiefel

Folgt man M.-É. Boismard, dem Nestor der französischen ntl. Forschung, so ist 499 in der Geschichte der Überlieferung des Johannesevangeliums ein entscheidendes Jahr gewesen. Damals wurde Diodor von Tarsus (ca. 330-394) in Konstantinopel posthum als Nestorianer verdammt und damit die von ihm verfaßten exegetischen Schriften aus der Tradition der griechischen Kirche, die sie bis dahin bewahrt hatte, für immer ausgeschaltet.

Er sei der letzte Zeuge jenes "präjohanneischen Evangeliums" gewesen, das zu rekonstruieren sich B. zur Aufgabe gestellt hat. Wenige Jahre nach Diodors Verurteilung habe ein unbekannter Kompilator die Johannes-Homilien des Johannes Chrysostomos (einst wie Theodor von Mopsuestia Schüler des Diodor) in einer Weise bearbeitet, daß sie gleichsam zum Versteck der Diodor-Exegese wurden. So sei eine sonst völlig verlorene Frühgestalt des Johannesevangeliums gerettet worden. Diese herauszupräparieren hat der Vf. bereits an Hand der Darbietung der vier ersten Kapitel in Homilie 1-35 unternommen (vgl. Rez. ThLZ 120, 1995, 518-520). Die Fortführung liegt nun mit der Analyse der Homilien 36-53, die die Auslegung von 5,1-5,47 (genauer von 4,53 bis 6,2) enthalten, vor. Präsentation und Methode sind gleich geblieben, so daß auch die früher vorgebrachten Bedenken unverändert ihr Gewicht behalten. In einem abschließenden Teil (II, 135-163) arbeitet B. auf der nun erweiterten Basis das Profil des von ihm postulierten "präjohanneischen Evangeliums" heraus: ohne Prolog, keine Hochchristologie, vielmehr ein jüdisch getönter Messianismus im Sinne von Dt 18, Verzicht auf externe und interne Dubletten, Kürzung überflüssig erscheinender Detailangaben. Es mag beeindrucken, mit welchem Einsatz und welcher Beharrlichkeit der in dieser Frage wohl auch in der französischen Forschung eher als Außenseiter agierende Gelehrte seine Linie weiterverfolgt.

Welches Interesse ihn eigentlich leitet, macht ein zeitgleich erschienenes Beiheft der Revue Biblique deutlich, das den signifikanten Titel trägt Le Martyre de Jean l´Apôtre. Den analytischen Studien zur Gestalt des Evangeliums entspricht hier ein nicht minder eigenwilliger Aufriß zur Geschichte der altkirchlichen Tradition über den Verfasser und die Entstehung des Werkes.

B. knüpft an eine Debatte aus grauer Vorzeit an. Es ist schon eindrucksvoll zu sehen, wie im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts auf eine Diskussion zurückgegriffen wird, die in seinem ersten die Gemüter bewegte. Vielleicht darf man hier ein Zeugnis dafür erblicken, in welchem Maße diese Prägezeit nachgewirkt hat, die französische exegetische Arbeit bis heute ihre Herkunft aus der antimodernistischen Kontroverse erkennen läßt. Die von Eduard Schwartz verfochtene These über den Märtyrertod des Zebedaiden Johannes zusammen mit seinem Bruder Jakobus (vgl. Act 12,2) sollte der altkirchlichen Tradition über den in hohem Alter in Ephesus wirkenden Apostel und seine Verfasserschaft des Evangeliums endgültig den Boden entziehen. B. setzt hier an, kommt jedoch im Kern der johanneischen Frage zu einem ganz anderen Urteil.

Äußerer Bezugspunkt seiner Darlegungen ist ein 1994 erschienener Kommentar zum Mittelstück der Acta (9-18): Les Actes des deux Apôtres. Commentaire historique (Act 9,1-18,22) von J. Taylor mit seiner etwas verwegenen Konjektur zu 12,2 Jean la frère de Jacques. Er geht dem schmalen Strang der liturgischen Quellen nach, die den 27. Dezember als dies natalis beider Apostel, und zwar als Märtyrer aufweisen, teils unter Voranstellung des Jakobus (Missale Gothicum, das für eine Ende des 4. Jahrhunderts in Kleinasien nach Gallien übertragene Tradition in Anspruch genommen wird), teils unter Voranstellung des Johannes wie im etwa gleichzeitigen syrischen Martyrologium, das Jerusalem als Ort einfügt und somit auf den Ursprungsort der Tradition hindeutet (15-46). Er läßt patristische Zeugnisse, die auf ein Martyrium des Apostels Johannes bezogen werden können, zu Wort kommen: Gregor von Nyssa, Johannes Chrysostomos, den Syrer Aphraat, den unter dem Namen Quodvultdeus figurierenden Augustinusnachfolger in Karthago, schließlich die von Philippus Sidetes bewahrte Papiastradition (47-58).

Die knappen ntl. Ausführungen konzentrieren sich auf die beiden Stellen, an deren Deutung die Grundthese des Vf.s hängt: Mt 20,22 f. und Act 12,2 (59-62). Den Schlußpunkt setzt eine Analyse der oft behandelten Zeugnisse des Irenäus (adv. haer. III, 3,4 bzw. II, 22,5) unter vergleichender Heranziehung des Eusebius (h. e. III, 39,1-6). Auf Irenäus, und ausschließlich auf ihn, ginge die Konfusion in der johanneischen Frage (so 70) zurück. Er habe Johannes den Apostel und Johannes den "Alten", von deren Unterschiedenheit Papias noch gewußt habe, zusammengebracht, um von daher die Abfassung des Evangeliums in Ephesus zu sichern.

Während so auf der einen Seite die Verbindung zwischen der kleinasiatischen Johannestradition und dem Apostel zerschnitten wird, knüpft B. unter Berufung auf Papias das Band zwischen dem "Alten" der Überlieferung und dem Apokalyptiker Johannes um so fester. Für die in Kleinasien vollzogene Rezeption jüdischer apokalyptischer Tradition stehen die Theologie des Chiliasten Papias ebenso wie die Apokalypse dieses Johannes (63-75). Aber wie ist das 4. Evangelium einzuordnen? B. hilft sich hier mit der Annahme einer längeren, mehrstufigen Redaktionsgeschichte, deren Ursprung in die Nachbarschaft des Apostelmärtyrers führt ( 75). Eine dieser Stufen ist offenbar die bei Diodor/Johannes Chrysostomos erhaltene Frühgestalt, das "präjohanneische Evangelium".

Hier liegt also offenkundig das bislang verborgene Fundament für das Projekt des "präjohanneische Evangeliums", das von außen betrachtet zunächst einer eigenwilligen Analytik der patristischen Exegese zu entstammen schien. Daß der Autor auf die wichtigste neuere Arbeit zur johanneischen Frage aus Deutschland, die in vieler Hinsicht konträre Studie von M. Hengel ­ sie lag bereits seit 1989 in englischer Fassung (vgl. ThLZ 116, 1991, 662-665) vor ­, nicht eingeht, mag man bedauern, um so mehr als auf J. Charlesworths Werk über den Lieblingsjünger, The Beloved Disciple, 1995, Valley Forge, Pa. 1995, wenigstens hingewiesen wird.

Die Skepsis gegenüber beiden Kernthesen, dem Vorhandensein eines "präjohanneischen Evangeliums" und dem Märtyrertod des Apostels Johannes, wird trotz allem Respekt vor ihrer sorgfältigen Durchführung kaum weichen. Selten wird so deutlich wie hier, in welchem Maße die großen alten Männer der französischen neutestamentlichen Arbeit Gefangene einer kritischen Antikritik waren, die den Modernismus überwinden wollte und doch im Bann seiner Fragestellung blieb.