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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

559–562

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Schreckenberg, Heinz

Titel/Untertitel:

Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld. Bd 1: 1.–11.Jh; in 3. erw. Auflage: 1995; Bd 2: 11.–13.Jh. Mit einer Ikonographie des Judentums bis zum 4. Laterankonzil: 1988; Bd 3: 13.–20.Jh.: 1994.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang. 8° = Europäische Hochschulschriften. Reihe XXIII: Theologie,172, 335, 497.

Rezensent:

Clemens Thoma

Erst jetzt, da der dritte und letzte Band und die dritte erweiterte Auflage des ersten Bandes (1982 in der ersten Auflage erschienen) von Sch.s Untersuchungen der christlichen Adversus-Judaeos-Texte vorliegen, ist eine volle Würdigung dieses kolossalen Werkes möglich. Die drei Bände bestehen aus 2267 ziemlich eng beschriebenen Seiten. Im dritten Band beschreibt Sch. 58 Päpste seit dem Hochmittelalter bis zum Ende des 19. Jh.s. Am ausführlichsten wird Gregor IX (1227-1241) wegen seiner vielen, die Juden betreffenden Edikte und (Schutz-)Bullen geschildert: 109-134. Ferner werden im gleichen Band insgesamt 155 Theologen, Kanonisten, Historiographen und (oft klerikale) Chronisten behandelt; dazu kommen noch 103 Dichter, Humanisten, Philosophen und Verfasser christlicher Judenlegenden; 68 allgemeine und regionale Konzilien; 17 weltliche Herrscher; 23 Rechtsordnungen und 46 jüdische Autoren samt ihren Wikkuach-Werken (Jüdische Adversus-Christianos Literatur). Ähnliche Zahlen lassen sich auch aus den beiden ersten Bänden eruieren.

Wichtiger als Größenhinweise sind hermeneutische Beobachtungen. Sch. geht die vielen Texte von vier Seiten her an: von der modernen jüdisch-christlichen Dialogsituation, von der modernen Geschichtsforschung, von den biblischen Ursprüngen und von den spätantiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Kontexten her. Die Adversus-Judaeos-Literatur mit ihren vielen klischeehaften und manipulatorischen Elementen kann nicht nur zusammen mit zeitgeschichtlichen Beiträgen angeleuchtet werden. Auch die alt- und neutestamentliche Bibel hat schwere Probleme bezüglich der Juden hinterlassen, und auch in der heutigen jüdisch-christlichen Dialogzeit werden neue Klischees bezüglich der äußerst heiklen traditionellen jüdisch-christlichen Konfliktgeschichte geschaffen. Deshalb bindet Sch. die christlichen Adversus-Judaeos-Texte, die seit unmittelbar nachneutestamentlicher Zeit bis zur anhebenden Hitlerära reichlich vorkommen, mit dem traditionellen Bibelverständnis und mit modernen Denkmustern über die traditionelle Judenfeindschaft zusammen.

Neben der Darstellung der Texte, deren wichtigste Teile er philologisch exakt übersetzt, zieht er auch die wichtigsten Bibelstellen bei, die als Beweise zur Rechtfertigung christlicher Antijüdischkeit hergeholt worden sind. Die ausführlichen Register über die verwendeten Bibelstellen aus AT und NT am Ende aller drei Bände weisen auf die Sorgfalt des heute führenden Adversus-Judaeos-Forschers hin. Aus den drei Bänden kann aber nicht nur eine detaillierte (negative) Wirkungs- und Auslegungsgeschichte der Heiligen Schriften herausgelesen werden. Erstaunlich ist auch die umfassende und gründliche Kenntnis Sch.s der Werke, Bibliographien und Deutungsansätze moderner Geschichtsforscher, Theologen, Judaisten und jüdisch-historischer Christentumsdeuter. Aus Texten und Kontexten deduziert er die Erkenntnis, daß die Frage nach den Juden post Christum "Zeichen und Resultat christlicher Verwirrung und Ratlosigkeit ist, angesichts der lebendigen Weiterexistenz des Judentums nach und trotz Christus, einer Weiterexistenz mit andauernder Messiaserwartung, durch die sich das Christentum und die christliche Gesellschaft oft provoziert glaubten" (I 18).

Ebenso wichtig ist die Einsicht, daß die traditionelle Adversus-Judaeos-Literatur "weniger oder gar nicht der Widerlegung und Bekehrung der Juden" diente, sondern "der eigenen christlichen Glaubensbestätigung", weil die unübersehbaren, mitten in der christlichen Gesellschaft wirkenden, jüdischen Gruppen "den alleinigen Wahrheitsanspruch des Christentums in Frage zu stellen schienen". Viele geistig-theologisch führende Persönlichkeiten fühlten sich deshalb berufen, "die christlichen Gläubigen gegen potentielle oder tatsächliche judaisierende Glaubenszweifel apologetisch zu wappnen und widmeten sich deshalb der Abfassung von Texten und Disputationen, in denen dem jüdischen Dialogpartner meist nur noch die Rolle eines willfährigen Stichwortgebers zukam. Die Kontroverse nahm deshalb schon früh irreale Züge an und erstarrte so vielfach zum Scheingefecht gegen eine ’Strohpuppe’ und zur ’Scheinpolemik’" (I 16).

Sch. profiliert sich in den drei Bänden auch als Kritiker an der bisherigen lückenhaften Adversus-Judaeos-Forschung. Im zweiten Band widmet er z.B. dem theologischen Judengegner Martin de León (gest. 1185) 21 Seiten (II 274-295).

Der als heiligmäßig geltende Martin de León wurde bisher von den modernen Autoren kaum beachtet, obwohl er "so gut wie alle Muster der traditionellen antijüdischen christlichen Polemik" aufgegriffen hat und sie "zu einem so breiten Spektrum von Wertungen" verarbeitet hat, "wie es aus einschlägigen antiken und mittelalterlichen Texten bisher nicht bekannt ist". Martin de Leóns Sichtweisen seien "in den folgenden Jahrhunderten bis zum Ende des Spätmittelalters und zum Teil über Luther hinaus bis weit in die Neuzeit hinein dominant geblieben" (II 285). Bei ihm könne man die "Zeichen eines angestauten sozialpsychologischen Aggressionspotentials gegen die Juden als Feindgruppe" deutlich erkennen. Martin de León rekapituliere außerdem "fast die ganze antijüdische Polemik seit der alten Kirche, so daß eine synchrone Betrachtung seiner Texte auch die diachronischen Strukturen und Trends solcher Polemiken erkennen läßt" (II 293).

Die bei Martin aufscheinenden elf charakteristischen Züge der traditionell-christlichen antijüdischen Einstellung werden von Sch. terminologisch und sozialgeschichtlich möglichst genau belegt: die angebliche Unwissenheit der Juden, ihre Blindheit, Rebellion, Hochmut, Unglaube, Prädestination zur Verdammnis, bedauernswerte Existenz, Lügenhaftigkeit, Christusverflucherei, moralische Inferiorität und tierhafter Charakter (II 285-293).

Am eingehendsten behandelt Sch. das Hochmittelalter samt seinen Voraussetzungen und Nachwirkungen. Der etwa fünf Jahrhunderte währenden Zeit (9.-13. Jh.), in der die Kreuzzüge en vogue waren, widmet er nicht nur einige Teile des ersten und den ganzen zweiten Band, sondern auch viele Seiten des dritten Bandes. Das Hauptgewicht legt er auf das vierte Lateranense (bes. II 400-433) und auf die antijüdische Ikonographie (bes. II 499-635). Er bringt darüber hinaus auch wichtige Autoren der jüdischen Adversus-Christianos-Literatur so zur Sprache. Vgl. die literarischen und theologisch-inhaltlichen Angaben über David Kimchi (gest. 1235; III 88-96), über Rabbenu Jechiel aus Paris, der an der Pariser Disputation von 1240 teilzunehmen hatte (III 98-105), über Isaak ben Mose Halevi Profiat Duran (gest. um 1419; III 429-434 u. a.).

An mehreren Stellen kommt Sch. auf die kirchlichen Vorschriften bezüglich einer Judentracht zu sprechen. Das vierte Laterankonzil (Kanon 68) hat nach seinen Forschungen weder den konischen Judenhut noch ein (gelbes) Judenabzeichen am Obergewand der Juden erfunden und vorgeschrieben. Die Juden haben vielmehr schon in spätantiker Zeit Lev 18,3 f. so verstanden, daß sie sich auch in der Kleidung gegenüber Nichtjuden unterscheiden sollten.

Im Jahre 634 verfügte Kalif Omar, um der Reinerhaltung des muslimischen Glaubens willen, daß alle Nichtmuslime durch eine textile Kennzeichnung (Gürtel, Kopfbinde, Naht auf dem Obergewand) als Juden bzw. Christen erkennbar sein sollten. In der christlichen und jüdischen mittelalterlichen Gesellschaft wurden Sondertrachten als Erkennungsmerkmal für wichtig erachtet, um Mischehen zu vermeiden und um soziale und religiöse Kontakte unter Kontrolle zu halten. Das vierte Lateranense verlangte allgemein, daß die Juden in ihrer Tracht von den Christen unterschieden werden sollten. Konkretere Vorschriften mit textilen Details wurden sieben Jahre später u.a. von England her gefordert: vom Oxforder Regionalkonzil im Jahre 1222 (zum Ganzen III 40-43.53-56). Nach Sch. läßt sich keine historische Abhängigkeit des nazistischen Judensterns von mittelalterlichen Kleidervorschriften ableiten, obwohl auch damals Zwänge vorkamen. Die mittelalterlichen Vorschriften geschahen teils aus sozialer und pastoraler Engherzigkeit und Furcht; man betrachtete Mischehen als besonders gefährlich. Teils wurden Vorschriften aus theologischem und sozialem Antijudaismus heraus erlassen, und teils auch, um Juden vor Übergriffen zu schützen. Allerdings ist nicht zu übersehen, "daß der theologische Antijudaismus Elemente profaner Judenfeindschaft an sich zog und vice versa" (46). Sch.s opus eignet sich auch als Hilfsmittel für Forschungen zur biblischen Wirkungsgeschichte: Wie wurden bestimmte Bibelverse, z. B. Gen 18,1-3, von Christen "instrumentalisiert" und wie waren die jüdischen Gegenexegesen?

Mit dem gleichen Umfang, den er dem genannten Martin de León zugesteht, bedenkt Sch. im dritten Band auch die christlich-jüdische Disputation von Tortosa (III 434-455). In den Rahmen dieser zeitlich längsten Disputation werden die Lebensläufe und wichtigsten Äußerungen des einberufenden Gegenpapstes Benedikt XIII, des jüdischen Wortführers Joseph Albo und seines christlichen Respondenten Hieronymus de Sancta Fide gesetzt. In der Nähe (III 498-501) wird auch Paulus von Burgos behandelt, der hinter den Kulissen der Tortosa-Show gewirkt hat. Da Sch. als Historiker nach Kausalitäten und Wirkungen fragt, werfen seine Darstellungen der Tortosa-Disputation auch Licht auf Entwicklungslinien der theologisch-ideologischen und pastoralen jüdisch-christlichen Entzweiungsgeschichte.

Ziemlich kurz wird Martin Luther behandelt (III 616-620). Sch. bringt die Ansichten des Reformators mit der vorausgehenden antijüdischen Tradition in Zusammenhang. Er bezeichnet Luthers Ansichten über die Juden auch in ihren starken Schwankungen als "keineswegs besonders neu und schockierend"; vielmehr übernimmt Luther fast alles aus einschlägigen Quellen und hat Teil an der den Juden überwiegend feindlichen Stimmung (III 616). In dem Werk von 1543 "Von den Juden und ihren Lügen" findet Sch. "die (vor allem von Innozenz III ausgehende) Linie eines harten theologischen Antijudaismus, verbunden mit profanen Gruppenvorurteilen und konkreten Vorschlägen zur Lösung der ’Judenfrage’, die als bedrängendes Problem der christlichen Gesellschaft qualifiziert wird" (III 617). Trotz seines Diktums von der "scharfen Barmherzigkeit" unterscheidet sich Luther "fundamental vom neuzeitlichen Rassismus". Außerdem polemisierte er "gegen die Juden kaum schärfer als gegen den Papst, die Türken und die christlichen Sektierer, so daß sein Antijudaismus im Gesamtkontext seiner Anschauungen beurteilt werden sollte" (III 618 f.).

Bei der Behandlung der Neuzeit fällt u.a. der englische Religionsphilosoph John Toland (gest. 1722) positiv auf, dessen Kritik am traditionellen christlichen Feindschaftsdenken gegen die Juden heute zunehmend Beachtung findet (III 700-703). Bei der Deutung von Franz Rosenzweig (1886-1929) geht es neben der Analyse der Werke auch um dessen historische Einordnung in die Kritikbewegung gegen das antijüdische christlich-theologische Pauschalitätsdenken (III 752-759). Als letztes Ereignis wird das Religionsgespräch zwischen dem Bonner/Basler evangelischen Neutestamentler Karl Ludwig Schmidt (1891-1956) und Martin Buber (1878-1965) behandelt (III 759-763). Gegenüber den kräftigen Aussagen von Schmidt wirken die Antworten Bubers eher blaß. Die Hitlerzeit wird nicht mehr behandelt.

An Kritik ist wenig vorzubringen. III 750 müßte es Pius IX (nicht Pius XI) heißen. Neben Martin Luther ist auch Johann Gottlieb Fichte (III 723) zu kurz geraten; eine Auseinandersetzung etwa mit Leon Poliakov und seiner antisemitischen Deutung Fichtes hätte gut getan. Für die geschichtliche Durchleuchtung des osteuropäischen, speziell des christlich-russischen Antijudaismus ­ samt seinen Voraussetzungen seit Johannes Chrysostomus ­ müßte wohl noch von jemandem ein vierter Band geschrieben werden. Es geht ja um die Frage, ob der russische Antijudaismus ein Importprodukt des westlich-lateinischen Antijudaismus ist, oder ob es seit dem Mittelalter eine eigene durchgehende östliche Antijudaismusgeschichte gibt.

In einer persönlichen Beurteilung des Sch.schen Werkes schrieb sein eifriger Leser, der jüdische Bibel- und Religionswissenschaftler David Flusser, es handle sich um "eine unermeßliche Leistung.... Am meisten erstaunt mich persönlich, wie er es fertiggebracht hat, objektiv der guten Sache zu dienen. Ich wäre nicht fähig, eine so übermenschliche Ruhe zu bewahren, aber ohne diese Ruhe hätte der Vf. nicht ausgiebig über die verschiedenen Motive referieren können. Dadurch ist das große Werk eine unschätzbare Quelle der Information".