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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

557–559

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Neusner, Jacob

Titel/Untertitel:

Scripture and Midrash in Judaism. Vol. 1–3.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1994- 95. 387, 318 u. 413 S. 8° = Judentum und Umwelt/Realms of Judaism, 47-49. DM 98,­, 98,­ u. 128,­. ISBN: 3-631-46461-4, 3-631-46462-2 u. 3-631-46463-0.

Rezensent:

Gerbern S. Oegema

Das dreibändige Werk des jüdisch-amerikanischen Gelehrten Jacob Neusner unter dem Titel "Scripture and Midrash in Judaism’ ist eine systematisch ausgerichtete Anthologie ausgewählter Passagen der "exegetischen" Schriften des rabbinischen Judentums (bzw. des rabbinischen Midraschs) in englischer Übersetzung.

Band 1 enthält längere Texte aus den Midraschim des dritten und vierten Jh.s, in denen Schriftverse einzeln ausgelegt werden; dabei handelt es sich um ausgewählte Passagen aus der Sifra zu Levitikus, der Sifre zu Numeri und der Sifre zu Deuteronomium. Band 2 enthält Texte aus den Midraschim des fünften und sechsten Jahrhunderts, in denen über die Auslegung einzelner Verse hinaus theologische Fragen schwerpunktmäßig ausgearbeitet werden; hier handelt es sich um ausgewählte Passagen aus dem Midrasch Rabba zu Genesis und zu Levitikus und aus der Pesiqta de Rab Kahana. Band 3 enthält Passagen aus den Midraschim der Spätantike (siebtes Jahrhundert bis frühes Mittelalter), in denen der Versuch gemacht wird, einzelne theologische Positionen exegetisch zu untermauern; hier werden Passagen aus dem Midrasch Rabba zum Hohelied, zu den Klageliedern, zu Ester und zu Rut herangezogen. Dieser chronologischen Anordnung des Materials geht eine kurze Einleitung voraus, in der der Vf. systematisch auf die Problematik des rabbinischen Midraschs eingeht.

Die rabbinische Methode der Bibelauslegung (3) ist nach dem Urteil des Vf.s von der der Qumran-Schriften (1) und der Targumim (2) zu unterscheiden, da sie nicht von der "Prophetie" (so 1) oder von der "Paraphrase" (so 2), sondern von der "Parabel" (so 3) gekennzeichnet sei. Auch wenn das rabbinische Judentum in der Antike zu mehreren "Judentümern" ("Judaisms’, einem 1987 vom Vf. eingeführten Begriff) gehört hat, beruft sich das heutige Judentum auf das Selbstverständnis letzterer Tradition und ist die Erforschung des rabbinischen Judentums bis heute von großer Bedeutung.

Der rabbinische Midrasch wird dann auch zu Recht vom Vf. im Kontext dieses vielseitigen Judentums verstanden. In der von der "Prophetie" gekennzeichneten Art der Bibelauslegung (1) werden Bibelverse mit damals aktuellen oder zukünftigen historischen Geschehnissen in Zusammenhang gebracht, wobei die Unterscheidung zwischen Israels (biblischer) Geschichte und der Zeit des jeweiligen Exegeten durch die dabei angewendete Typologie aufgehoben wird. In der von der "Paraphrase" gekennzeichneten Bibelauslegung (2) wird die Bedeutung des überlieferten Textes durch seine Auslegung entscheidend verändert, indem neue Bedeutungen hinzugefügt werden und der jeweilige Exeget gerade die Unterscheidung zwischen dem Text und seiner Auslegung zu vertuschen versucht. In der von der "Parabel" gekennzeichneten Bibelauslegung (3) wird die Bedeutung eines Bibelverses durch die Methode der Allegorie, der Parabel oder der Metapher gefunden. Diese Hermeneutik findet sich nicht nur in der rabbinischen Literatur, sondern auch in den neutestamentlichen und patristischen Schriften.

Alle diese drei Arten der Bibelauslegung gehören nach dem Urteil des Vf.s zur Gattung "Midrasch". Dennoch bedarf die Verwendung des Begriffes "Midrasch" einer Erklärung, führen doch die verschiedenen Definitionen zu den unterschiedlichsten Anwendungen, besonders auch auf das Neue Testament. Im Gegensatz zu Brian McNeils sehr allgemein gehaltener Definition des "Midraschs" ("Midrash in Luke?’, in: The Heythrop Journal 19 (1978), 399-404) geht der Vf. davon aus, daß die drei Grundbedeutungen des "Midraschs", inter alia, die der "Erklärung", die einer spezifischen "Literaturform" und die eines bestimmten "hermeneutischen Vorgangs" sind.

Als Erklärung eines Bibelverses bezeichnet "Midrasch" den eigentlichen exegetischen Prozeß, wie er von G. G. Porton definiert wurde ("Midrash. The Palestinian Jews and the Hebrew Bible in the Greco-Roman Period’, in: ANRW II.19.2, 103-138). Unerklärt bleibt dabei lediglich, daß der exegetische Prozeß des "Midraschs" sich ausschließlich auf die jüdische Exegese und nicht auf die Exegese im allgemeinen bezieht. Als spezifische "Literaturform" bezeichnet "Midrasch" die gemeinhin als "Midraschim" bekannt gewordenen rabbinischen Schriften, die sich Vers-nach-Vers, halakhisch oder thematisch mit einem bestimmten Bibelbuch beschäftigen (vgl. dazu Stemberger, G., Einleitung in Talmud und Midrasch, 8. Aufl., München 1993, Teil III: Midraschim). Zuletzt bezeichnet "Midrasch" auch einen bestimmten hermeneutischen Vorgang in einer kleineren Texteinheit, in der ein Schriftvers aufgrund des exegetischen Prozesses des "Midraschs" ausgelegt wird und in einen abgerundeten Gedankengang mit Anfang, Mitte und Ende eingebettet wird. So kann der "Midrasch" als Erklärung eines Schriftverses als Teil einer als "Midrasch" bezeichneten Texteinheit in einer bestimmten rabbinischen Literaturform namens "Midrasch" vorkommen.

Mit dieser systematischen Einführung zum Begriff "Midrasch" erklärt sich dann auch der o. g. Aufbau der dreibändigen Anthologie rabbinischer Midraschim, die sich im einzelnen folgendermaßen aufschlüsseln lassen:

Band 1: Vorwort (7-16); Teil 1: Kapitel 1: Einleitung zu Sifra zu Levitikus (19-35); Kapitel 2: Sifra zu (Wochenlesung) Schemini (37-99); Kapitel 3: Sifra zu (Wochenlesung) Bechuqqotai (101-136); Teil 2: Kapitel 4: Einleitung zu Sifre zu Numeri (139-148); Kapitel 5: Sifre zu Numeri 39-43 zu Num 6,22-27 (149-156); Kapitel 6: Sifre zu Numeri 78-84 zu Num 10,29-36 (157-168); Kapitel 7: Sifre zu Numeri 85-98 zu Num 11,1-35 (169-186); Teil 3: Kapitel 8: Einleitung zu Sifre zu Deuteronomium (189-201); Kapitel 9: Sifre zu Deuteronomium zu (Wochenlesung) Waetchannen (203-222); Kapitel 10: Sifre zu Deuteronomium zu (Wochenlesung) Eqeb (223-259); Kapitel 11: Sifre zu Deuteronomium zu (Wochenlesung) Re’e (261-338); Appendix: Die vier Systeme ("logics") von Sifre zu Deuteronomium (339-387).

Band 2: Teil 1: Vorwort (7-16; wie in Band I); Teil 1: Kapitel 1: Einleitung zu Genesis Rabba (19-27); Kapitel 2: Genesis Rabba Wochenlesung Wa-jera (29-91); Kapitel 3: Genesis Rabba Wochenlesung Wa-jetse (93-167); Teil 2: Kapitel 4: Einleitung zu Levitikus Rabba (171-180); Kapitel 5: Levitikus Rabba Parascha 5 (181-196); Kapitel 6: Levitikus Rabba Parascha 13 (197-211); Kapitel 7: Levitikus Rabba Parascha 27 (213-225); Teil 3: Kapitel 8: Einleitung zu Pesiqta de Rab Kahana (228-233); Kapitel 9: Pesiqta de Rab Kahana Pisqa 15 (235-245); Kapitel 10: Pesiqta de Rab Kahana Pisqa 18 (247-252); Kapitel 11: Pesiqta de Rab Kahana Pisqa 23 (253-262); Pesiqta de Rab Kahana Pisqa 24 (263-280); Appendix [1]: Die Rolle der Schrift im Midrasch am Beispiel von Levitikus Rabba (281-307); Appendix 2: Die Rolle der Philosophie im Midrasch: Wie Levitikus Rabba verständliche Aussagen macht: Listenaufstellung und Faktenklassifizierung (309-319).

Band 3: Vorwort (7-16; wie in Band I); Kapitel 1: Einleitung zu Klagelieder Rabba (17-22); Kapitel 2: Klagelieder Rabba. Die Petichtaot (23-70); Kapitel 3: Klagelieder Rabba. Parascha 1 (71-121); Kapitel 4: Klagelieder Rabba. Parascha 3 (123-143); Kapitel 5: Einleitung zu Hoheslied Rabba. (145-150); Kapitel 6: Hoheslied Rabba. Parascha 1 (151-214); Kapitel 7: Hoheslied Rabba. Parascha 2 (215-251); Kapitel 8: Hoheslied Rabba. Parascha 5 (253-274); Kapitel 9: Hoheslied Rabba. Parascha 8 (275-294); Kapitel 10: Einleitung zu Rut Rabba (295-301); Kapitel 11: Rut Rabba. Die Petichtaot (303-312); Kapitel 12: Rut Rabba. Parascha 1 (313-316); Kapitel 13: Rut Rabba. Parascha 4 (317-324); Kapitel 14: Rut Rabba. Parascha 8 (325-327); Kapitel 15: Einleitung zu Ester Rabba I (329-334); Kapitel 16: Ester Rabba I. Die Petichtaot (335-346); Kapitel 17: Ester Rabba I. Parascha 4 (347-354); Kapitel 18: Ester Rabba I. Parascha 6 (355-363); Appendix 1: Die zwei Vokabulare des symbolischen Diskurses im Judentum am Beispiel vom Hoheslied Rabba (365-384); Appendix 2: Schriftenverzeichnis von Jacob Neusner (vom Jahre 1962 bis zum Jahre 2000 und somit einschließlich sich noch im Druck befindlicher Werke) (385-413).

Kürzere oder längere Einführungen und Erläuterungen finden sich zu jedem Midrasch und wechseln mit längeren Zitaten der Originaltexte. Die Auswahl basiert auf Texten, die den Übersetzungen der jeweiligen Schriften, wie sie in früheren Jahren vom Verfasser veröffentlicht wurden, entnommen worden sind (vgl. Vorwort, Band I, 15-16). Der Leser bekommt somit nicht nur einen Einblick in den exegetischen Prozeß des "Midraschs" und eine Übersicht der verschiedenen Midraschim im rabbinischen Judentum, sondern auch einen Eindruck seiner Entwicklung, die über die Bedeutung dieser spezifischen Gattung hinausgehend auch eine Begegnung mit dem rabbinischen Judentum darstellt.

In Anbetracht der im Schriftenverzeichnis des Vf.s aufgeführten ca. 900 Einzeltitel (mehrbändige Werke miteingeschlossen) stellt diese Anthologie daher nicht nur einen relativ leichten Einstieg in die rabbinische Literatur dar, sondern ist auch eine preiswerte Alternative für jeden Studenten der Judaistik oder judaistisch aufgeschlossenen Theologen und Orientalisten, der ohne Kenntnisse des Aramäischen sich anhand der Übersetzungen mit der rabbinischen Schriftauslegung beschäftigen möchte, gerade in einer Zeit, in der das Interesse für die jüdische Bibelauslegung zunimmt.

Zu bemängeln ist lediglich das Fehlen eines Indexes, v. a. eines Stellenregisters, das allerdings in der Vergangenheit als wissenschaftlicher Apparat nie zu den Editionen (oder auch Übersetzungen) rabbinischer Schriften gehört hat, weil es der talmudischen Hermeneutik fernsteht (von daher: "Gehe und lerne"). Das Fehlen einer Bibliographie der Sekundärliteratur kann insofern entschuldigt werden, da der Vf., indem er seine eigene Werke aufgeführt hat, sich als einer der größten, wenn nicht der größte Kenner des rabbinischen Judentums in diesem Jahrhundert ausgewiesen hat.