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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

552–555

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Jacobson, Howard

Titel/Untertitel:

A Commentary on Pseudo-Philos Liber Antiquitatum Biblicarum, with Latin Text and English Translation. Vol. I u. II.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1996. XVI, 1370 S. gr. 8° = Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums, 31. Lw. hfl 432,­. ISBN 90-04-10360-0.

Rezensent:

Michael Tilly

Der im christlichen Mittelalter fälschlich Philon von Alexandria zugeschriebene Liber Antiquitatum Biblicarum (LAB) gilt als ein wichtiger Zeuge für das Bibelverständnis und den schriftgelehrten Umgang mit der biblischen Tradition im antiken Judentum. Daß diese ursprünglich wohl in hebräischer Sprache verfaßte, später ins Griechische und von hier aus ins Lateinische übersetzte midraschartige Nacherzählung der biblischen Geschichte vom Beginn der Schöpfung bis zum Tod Sauls allein in einer Reihe lateinischer Textzeugen unterschiedlicher Qualität aus dem 11.-15. Jh. erhalten ist, erschwert die Rekonstruktion ihres "Urtextes" wie auch die Interpretation ihres Inhalts. J. hat nun in zwei voluminösen Bänden eine umfassende Bearbeitung dieser "rewritten bible’ vorgelegt.

Bereits im Vorwort gibt J. zu verstehen, daß er aufgrund der besonderen Textgeschichte des LAB dem verbreiteten Editionsprinzip, dem rekonstruierten Text und dessen Übersetzung die vorhandenen Textzeugen zugrunde zu legen und nur in Ausnahmefällen Konjekturen und Emendationen vorzunehmen, die hinreichende Leistungsfähigkeit abspricht. Seine Übersetzung hingegen "seeks to be a translation not of our seriously defective Latin text, but rather of the (reconstructed) Hebrew original of LAB’ (IX f.), was zur Folge hat, daß sie an zahlreichen Stellen von allen vorhandenen Textzeugen abweicht.

J. bezeichnet es als "convenience for the user of my commentary’ (IX), daß er im 1. Hauptteil (1-87) den lat. Text nach der Edition D. J. Harringtons (SC 229) abdruckt, ohne jedoch dessen krit. Apparat zu übernehmen. Auf eigene Anmerkungen verzichtet J. generell. Die im Klappentext des Buches angekündigte "dramatically new translation’ im 2. Hauptteil (89-194) weicht in Hunderten von Fällen von Harrington ab, ohne daß die "rekonstruierten" Passagen in der Übersetzung kenntlich gemacht sind.

Im 3. Hauptteil ("Introduction’) behandelt J. Einleitungsfragen zum LAB (195-280). Er betont zunächst, das Werk sei "the product of one formative mind, one shaping spirit’ (195), und weist auf die Möglichkeit hin, daß die Annahme der Verfasserschaft Philons von Alexandria bei christlichen Tradenten des LAB auf dessen vermeintlicher Analogie zu den Antiquitates des Josephus beruhen könnte (196 f.). In der strittigen Frage nach der Entstehungszeit des Werkes vor oder nach 70 n. Chr. findet er "no cogent arguments in support of a pre-70 date, while the arguments for a post-70 date seem... overwhelming" (209), und schließt auch einen terminus a quo nach 135 n. Chr. nicht aus (208). Als "imitation of the Bible’ (212) bzw. "paraphrastic continuous narrative’ (213) zeige der LAB des Autors "profound familiarity with the Bible and traditional exegesis’ (213), weise allerdings ebenso zahlreiche Bezugnahmen sowohl auf Formen hellenistisch-römischer Kultur und Religion als auch auf jüdischen und paganen Volksglauben auf (213 f.). Stärkstes Argument für die Annahme, der LAB sei ursprünglich in hebräischer Sprache abgefaßt, ist für J. die Existenz zahlreicher Eigentümlichkeiten im lat. Text, die sich durch Lesefehler oder durch Mißverständnis des hebräischen Originals erklären lassen (216). Das dem LAB als "rewriting of the biblical text’ zugrunde liegende Prinzip sei die kreative Erzähltechnik seines Autors (225), Thematik, Sprache und auch einzelne Handlungselemente aus "analogous biblical contexts’ (228) zu übernehmen. Eine immer wieder begegnende Technik sei auch der Rückbezug einer Textstelle auf frühere Stadien einer biblischen Erzählung, wobei Motive und Elemente späterer Stationen bei der Nacherzählung früherer vorbereitet würden (237).

Zentrales Thema des LAB als "particularly pointed and tendentious interpretative perspective on Jewish history’ (242) sei die Vergewisserung seiner Adressaten durch den Aufweis des fortwährenden Beistandes Gottes auch in Krisenzeiten (und besonders angesichts der Tempelzerstörung): "No matter how much the Jewish people suffer, no matter how bleak the outlook appears, God will never completely abandon His people and in the end salvation and triumph will be the lot of the Jews’ (241f.). J. merkt an, daß der "feministische" Akzent im LAB nicht überbewertet werden dürfe, da die entsprechenden Aussagen allesamt auf biblischen Quellen aufbauten (251). Ein Interesse des Autors am Christentum lasse sich kaum feststellen (252f.). Obwohl die Tatsache, daß der LAB bereits mit dem Tod Sauls abbricht, die Annahme provoziert, die erhaltenen Textzeugen seien nur Fragmente eines ursprünglich längeren Werkes, geht J. von dessen Vollständigkeit aus (254). Welcher hebräische (palästinische?) Bibeltext dem LAB zugrunde lag, sei kaum noch zu rekonstruieren, wobei die Begründung, "LAB’s text did occasionally differ from MT" (255), m. E. noch viel zu kurz greift, zumal sein Autor, wie J. selbst konzediert, hauptsächlich aus dem Gedächtnis zitiert (256).

Bei der Darstellung der Textüberlieferung weist J. darauf hin, daß die beiden von Harrington aufgewiesenen Handschriftenfamilien auf zwei unterschiedlichen Rezensionen beruhten (264), was zur Folge habe, daß jeder Versuch, eine einzelne Handschrift bzw. Textfamilie als Ausgangspunkt der weiteren Überlieferung zu betrachten, verfehlt sei (vgl. z. B.: 363. 411. 466 f. 605. 693 u. ö.). Die wohl von einem Juden verfertigte Übersetzung des rasch recht populären Werkes (273) ins Griechische sei vor dem 3. Jh. n. Chr. (277) entstanden, die Übertragung ins Lateinische hingegen sei das Werk eines Christen im 4. Jh. n. Chr. (276 f.).

Der eigentliche Kommentar (281-1215) geht versweise den Text des LAB entlang und behandelt in ständiger Auseinandersetzung mit den anderen Editoren bzw. Übersetzern des Werkes vor allem text- und literarkritische Probleme, erklärt und begründet die J.s eigener Übersetzung zugrunde liegenden Interpretationen und Entscheidungen. J. bietet dabei neben den Lesarten und Verständnistraditionen des masoretischen Textes, der verschiedenen Septuagintarezensionen, der Vulgata und Vetus Latina durchgehend inhaltliche und formale Parallelen aus der Bibel, Philon, Josephus und zahlreichen antiken jüdischen Schriften, der jüdischen Traditionsliteratur bis hin zu den mittelalterlichen Bibelauslegern, der griechisch-römischen Literatur, der urchristlichen Literatur und den Kirchenvätern, Texten aus Qumran, dem gnostischen Schrifttum sowie den jüdischen wie christlichen Mystikern. Die Behandlung der Realien tritt dagegen in den Hintergrund; weiterführende Literatur zu den einzelnen Stellen, Motiven und Begriffen fehlt nahezu vollständig.

Nicht nur die Erweiterungen und Veränderungen des zugrundeliegenden Bibeltextes, sondern auch die häufigen Auslassungen und Umstellungen erlangen im Kommentar besondere Berücksichtigung. Aus der Fülle der Beobachtungen möchte ich einige auswählen:

J. bemerkt zu LAB I 3, hier wie auch an vielen anderen Stellen würden die Namen der in der Bibel nicht identifizierten Charaktere aus anderen Schriftstellen übernommen (285). In allen Genealogien sorge LAB dafür, daß die Anzahl der Söhne die der Töchter stets übersteige (293). Die Wiedergabe von Gen 6,3 in LAB III 2 sei als deutliches Beispiel dafür zu verstehen, daß der Text des hebräischen LAB generell sehr eng an den Bibeltext angelehnt gewesen sei, und erst die griechische Übersetzung "literal versions" produziert habe (308).

In LAB III 8 u. VII 2 sieht J. die Tendenz des Autors, Anthropomorphismen zu vermeiden (320); in III 10 erkennt er die Bezugnahme auf differierende rabbinische Traditionen hinsichtlich der Fortexistenz der menschlichen Seele nach dem Tod (325). Die "adaption and conflation" (338) von Schriftstellen außerhalb des eigentlichen Erzählduktus als durchgehende Methode des Autors begegne z. B. in IV 5 u. XV 7. Bei der Kommentierung von VI 9.18 weist J. auf Parallelen in der paganen griechischen Literatur hin. Ebenso hält er in IX 10 den Einfluß griechischer Mythologie für denkbar (421). Dort, wo die Motive der Handlungen in der Bibel fehlten, ergänze LAB (427 zu IX 15). Gerade bei Zahlenangaben sei der Text besonders korrupt (525 zu XIII 9 u. ö.), was eine Übereinstimmung zwischen LAB und dem Bibeltext wie in XXXVI 2 als "almost a surprise’ (924) erscheinen lasse.

J. findet es bemerkenswert, daß LAB die Bestrafung des Volkes durch die Wüstenwanderung in Num 14 (553 zu XV 7) ebenso übergeht wie den Fall der Mauern von Jericho (671 zu XX 6). Vorsichtig spricht er nur von "coincidences’, wenn beispielsweise eine Stelle bei Vergil Ähnlichkeiten mit LAB aufweist (581 zu XVIII 4). IX 3 u. XVIII 10 zeigten, daß der Text hier ohne die Kenntnis des Bibeltextes bei den Adressaten des LAB unverständlich bleiben müsse (593). Ein Beispiel für die kompilatorische Methode des antiken Autors sei XXI 8: "LAB has... pieced [his account] together from several descriptions of significant celebrations in the Bible’ (689). In XXII 1 sei seine Absicht zu erkennen, die Bedeutung des Torastudiums gegenüber der des Opfers zu akzentuieren (695. 702). Warum der in der Bibel unbedeutende Kenas (Ri 3,9) im LAB eine herausragende Rolle spielt, bezeichnet J. als "one of the great mysteries of LAB’ (738). In XXVI 13 erkennt er einen wichtigen Hinweis auf das Abfassungsdatum des LAB nach der Tempelzerstörung (775). Der Rückbezug auf Jos 10,11ff. in XXX 5 sei "typical LAB fashion’ (837). Besonders in LAB XXXI seien Motive zu erkennen, die aus der hellenistischen Literatur zu stammen scheinen (849ff.). Die Annahme, XXXIV 1 beziehe sich auf den Mithraskult (911), verneint J. ebenso wie die Annahme, XXXVII 1 sei der Beweis einer antisamaritanischen Tendenz (929). Allerdings zeigten Stellen wie XLIV 5 des Autors "familiarity with biblical texts and... his knowledge of idolatry in the world around him, both amongst Jews and non-Jews’ (1007). In LIV 2 trete deutlich erkennbar die Überzeugung zutage, daß "... even when Israel sins and God punishes them for their sins, the punishment becomes an avenue to effect the destruction of their enemies’ (1132). Das Ende des LAB in LXV 5 schließlich sei "fulfillment of a divine prophecy’ (1215).

Die Bibliographie (1217-1221) beschränkt sich neben der Auflistung allgemeiner Sekundärliteratur und Quellentexte auf die Angabe der 16 wichtigsten Untersuchungen zum LAB (Textausgaben und Übersetzungen eingerechnet). Das Werk endet mit Verzeichnissen der Stellen (1223-1296), Sachen (1297-1301), Namen (1302 f.) sowie der lat. Wörter (bzw. der Stellen im Kommentar, an denen diese thematisiert werden) (1304-1307) und grammat. Termini (1308).

Der Kommentarteil liest sich durchgehend als bewertender "Superkommentar" zu den bisherigen Bearbeitungen des LAB. Ärgerlich ist der Tonfall, in dem er dabei die Arbeit der anderen Editoren bzw. Übersetzer abkanzelt (422: "futile’; 647: "contorted’; 1036: "dubious’; 1047: "amusingly"; 1089: "strangely’; 1200: "seriously misleading’ u. v. m.).

Das grundlegende Problem der Arbeit J.s besteht jedoch in seiner Methode bei der Rekonstruktion des hebräischen "Urtextes" des LAB. Seine Antworten auf die Fragen: "1. What did LAB write? 2. How would LAB’s Hebrew have been translated into Greek and the Latin?’ (768) beruhen auf der Annahme, daß die Erweiterungen einer Bibelstelle aus anderen Stellen entlehnt und in Analogie zu diesen rückzuübersetzen seien. Dies impliziert zunächst die weitergehende Annahme mehr oder weniger konkordanter Bibelübersetzungen. Außer vielleicht bei Aquila gab es jedoch keine derart eindeutige Beziehung zwischen den Sprachen, wie sie J. hier voraussetzt. Auch der Aufweis analoger Phänomene in den narrativen Midraschim wäre noch zu leisten. Vergleichbare Schriften wie Jub; 1QGenAp; 11Q19.20 usw. gehen viel freier mit dem Bibeltext um.

J. geht davon aus, daß der hebräische LAB Phrasen und Ausdrücke eines hebräischen Bibeltextes wörtlich wiedergab. Gegen dessen positive Identifizierung spricht aber, daß es zu keiner Zeit eine einheitliche Text- oder gar Verständnistradition "des" Bibeltextes gegeben hat. Zudem beruht der Ansatz J.s auf der Annahme einer immensen Textverderbnis im LAB. Parallelphänomene einer derart schlechten Textüberlieferung sind mir nicht bekannt. Allein der Hinweis darauf, daß "the text makes no sense as it stands and clearly leaves out information that is necessary for an intelligible narrative’ (939), reicht m. E. für die Annahme einer Lücke im Text (oder gar für deren Rekonstruktion) nicht aus.

Ein Beispiel mag J.s Vorgehensweise demonstrieren: Während Ch. Dietzfelbinger den dunklen Passus "istic mel, apex magnus, momenti plenitudo, et ciati guttum" in XIX 15 unübersetzt läßt und J. Cazeaux relativ wörtlich durch «C’est là (comme) du miel (fermenté), à la dernière extrémité, à l’achèvement de l’instant, (comme la dernière) goutte d’une coupe» wiedergibt (SC 229; 165), gelangt J. zu dem Schluß, die Worte seien im hebräischen LAB aufgrund ihrer kontextuellen Bezüge als allgemeinverständliche Metapher (648 ff.) zu verstehen und unter Berücksichtigung aller möglichen (Fehl-)interpretationen in der Textüberlieferung zu übersetzen: "On one side there is a large black cloud, the fullness of a cloud, on the other side a drop from a ladle’ (123). Mehr als eine gewagte Interpretation auf der Grundlage beherzter Emendationen ist das freilich nicht.

Positiv hervorzuheben sind die beeindruckende Quellenkenntnis des Autors sowie sein überaus solider Umgang mit der hebräischen, griechischen und lateinischen Sprache. J. hat einen materialreichen, gründlichen und umfassenden Kommentar zum LAB vorgelegt, mit dem sich jede weitere Untersuchung dieser Schrift wird auseinandersetzen müssen.

Ohne einen vergleichenden Blick in die Arbeiten Harringtons, Dietzfelbingers und Cazeaux bleiben J.s Textrekonstruktion und -wiedergabe jedoch nicht selten unverständlich. Der spekulative Charakter nicht weniger Stellen in Text und Übersetzung offenbart sich erst nach der Lektüre des Kommentars. J.s System provoziert letztendlich sogar die Frage, ob hier nicht Glaubensüberzeugungen in die gefährliche Nähe eines Kriteriums für die Textrekonstruktion geraten.