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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

546–549

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Barclay, John M. G.

Titel/Untertitel:

Jews in the Mediterranean Diaspora. From Alexander to Trajan (323 BCE–117 CE)

Verlag:

Edinburgh: Clark 1996. 522 S. 8°. Lw. ISBN 0-567- 08500-7.

Rezensent:

Marco Frenschkowski

Während die Kenntnis des palästinensischen Judentums der Zeitenwende dank eines immensen Quellenzuwachses (Qumran) in den letzten 50 Jahren explosiv gewachsen ist, stellt sich der Sachverhalt für die antike jüdische Diaspora etwas anders dar. Zwar ist auch hier oft viel zu wenig bekannt, in wie hohem Maße neuentdeckte oder neu publizierte Inschriften die Quellenlage bereichert haben. Zu denken ist an die exemplarischen Editionen von W. Horbury und D. Noy (Jewish Inscriptions of Graeco-Roman Egypt, 1992) D. Noy alleine (Jewish Inscriptions of Western Europe, 2 Bände, 1993/95), G. Lüderitz (Corpus jüdischer Zeugnisse aus der Cyrenaika, 1983), J. Reynolds und R. Tannenbaum (Jews and Godfearers at Aphrodisias, 1987), u.a. Vor allem haben die vergangenen Jahre aber eine Veränderung des Problembewußtseins und ein verfeinertes Gespür für die komplexen kulturellen und religiösen Mechanismen mit sich gebracht, die unser Bild der Diasporajuden beeinflussen.

In diesem Forschungskontext versucht John M. G. Barclay nun nichts geringeres als eine Synthese unseres Wissens über das antike mediterrane Judentum außerhalb Palästinas. Ausgespart bleibt die Diaspora des Ostens (namentlich im mesopotamischen Raum), deren Quellenlage einen völlig anderen Charakter hat. Barclay will weniger additiv unsere Kenntnisse über diesen gewaltigen Bereich jüdischer Geschichte zusammentragen, sondern eher ein Paradigma definieren, in dem wir Vielfalt und Einheit des Diasporajudentums in seiner speziellen kulturellen Situation, vor allem aber in seiner historischen Differenziertheit wahrnehmen können.

Zu diesem Zweck grenzt er sich von Rastern älterer Forschung ab, deren heuristischer Wert heute zu bestreiten sei ("orthodoxy’ vs. "deviation’, 83-88). Sein eigenes heuristisches Paradigma unterscheidet "assimilation’ "acculturation’ und "accomodation’ (82-102). "Assimilation’ wird dabei als Maß sozialer Integration verstanden, "acculturation’ bezeichnet die Partizipation an nichtjüdischen kulturellen Gütern (Sprache, Erziehung, Philosophie, Politik), "accomodation’ schließlich ­ die interessanteste heuristische Kategorie ­ meint die spezifische Verwendung der Akkulturation zwischen integrativen und oppositionellen Interpretamenten. Anders gesagt: "accomodation’ beschreibt, wie Juden ihre eigene Identität in einer hellenistischen Umwelt verstehen. Viele vormals isolierte Phänomene etwa aus dem Bereich der Diasporaliteratur können mit Hilfe dieses Rasters vergleichend beschrieben werden.

Jews in the Mediterranean Diaspora hat einen klaren Aufbau. B untersucht nach einer knappen Einführung in die Forschungsgeschichte zuerst die Situation der Juden in Ägypten einmal in einem historischen Abriß (19-81), dann mittels einer Analyse des Akkulturationsgrades wichtiger Quellen. Dabei werden Artapanos, der Theaterschriftsteller Ezechiel, der Verfasser des pseudepigrapen Aristeasbriefes, Aristobulos und Philon als Zeugen einer freilich je verschieden akzentuierten "cultural convergence’ zur Sprache gebracht, also einer "accomodation’, in der hellenistische Kultur als (wenn auch nicht unproblematische) Bereicherung des Judentums erfahren wird (interessant S. 23 und 115 über Juden in der ptolemäischen Armee). Joseph und Aseneth, 3. Makkabäer, die ägyptischen Sibyllinen und überraschenderweise auch die Weisheit Salomos dagegen werden als Schriften profiliert, die ihr Pathos aus einem fundamentalen Antagonismus zwischen Judentum und paganer Welt beziehen. Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß sie sich hellenistische Formen und Motive akkulturieren: "accomodation’ und "acculturation’ sind eben verschiedene Dimensionen kultureller Integration. Gerade die Ausführungen zur Weisheit Salomos sind in diesem Fragehorizont neu und überzeugend.

Aufgrund der schlechteren Quellenlage sehr viel knapper sind die Abschnitte über die Juden in der Kyrenaika, Syrien, der Provinz Asien und Rom (229-380). An literarischen Texten werden hierzu Ps.-Phokylides, 4. Makk. und die Schriften des Josephus besprochen. Ein Kapitel über Paulus (381-395) versteht sich als Entwurf zu einer angekündigten größeren Studie. Der Apostel wird dabei als Sonderfall ("an anomalous Diaspora Jew’) gewertet, dessen radikale Infragestellung jüdischer Werte nicht mit einer stärkeren hellenistischen Akkulturation einhergeht. Tatsächlich muß jedem Beobachter, der nicht nur isoliert Parallelen sammelt, sondern von einer vergleichenden Lektüre hellenistisch-jüdischer Autoren herkommt, die erstaunlich (von einem Mann wie Philon aus gesehen geradezu skandalös) geringe Rezeption hellenistischer Bildung durch Paulus auffallen. Einem Trend der Forschung widersprechend relativiert B. auch die Anknüpfung des Apostels an das Formenrepertoire der Rhetorik (383 mit A. 8).

Der massive Antagonismus, in dem das Judentum etwa der 3. Sibylle oder des Romans Joseph und Aseneth sich gegenüber seiner Umwelt definiert, werde von Paulus übertragen und ausgeweitet um einen nicht minder massiven Antagonismus Christen-Nichtchristen aufzubauen. (Für Paulus nicht uninteressant ist der Hinweis, daß zahlreiche Juden aller sozialen Schichten das römische Bürgerrecht besaßen, 271-289 f.). Mehrfach richtet sich B. (immer mit bedenkenswerten Argumenten) gegen einen herrschenden Konsens. Ist z. B. der Aristeasbrief vielleicht doch zumindest auch für heidnische Leser bestimmt (148)? Eine Skizze der Bausteine jüdischer Diaspora-Identität (399-444) und eine Sichtung der literarischen Quellen (445-452) schließen den Band ab.

Einige Einzelheiten: Artapanos (der vielleicht in Heliopolis schreibt: 127f.) ist ein Zeuge für eine singulär positive Wertung ägyptischer Kultur und Religion (132). Zu der nach wie vor mit Bergen von Literatur umstrittenen Frage nach einem alexandrinischen Bürgerrecht der dort ansässigen Juden bietet B. eine subtile und differenzierte Lösung, die auf allgemeine Akzeptanz hoffen darf (60-71). In diesem Kontext wird auch die in ihrer Funktion etwas änigmatische zweite jüdische Delegation vor Claudius verständlich (71). Der Aufstand 115-117 n. Chr. wird als die eigentliche Katastrophe der ägyptischen Judenschaft profiliert (78-81), beim dem diese fast völlig aufgerieben wurde (20). Es ist historisch nicht zu bestreiten, daß dieser Aufwand (über den wir zwar nur wenig schriftliche, aber dafür archäologische Zeugnisse besitzen) auch von jüdischer Seite als physischer Vernichtungskrieg gegen die nichtjüdische Bevölkerung geführt wurde.

Es gelingt B. überzeugend, die etappenweise Verschlechterung der Beziehungen zwischen Nichtjuden und Juden in Ägypten nachzuzeichnen (38 n Chr. entsteht durch die gewaltsame Zurückdrängung jüdischer Familien in das alexandrinische Delta-Viertel das erste Ghetto der Geschichte: 53) Gegen J. J. Collins wird ein ptolemäerfreundliches Stratum Oracula Sybillina III bestritten (222-224). Mit M. Hengel wird Oracula Sybillina V eine Schlüsselposition für die Stimmung der alexandrinischen Juden um die Wende vom 1. zum 2. Jh. zugebilligt (225-228). Für die Chronologie des jüdischen Tempels in Leontopolis folgt B. dem traditionellen Ansatz (36; gegen J. M. Modrzejewski). Den neuerlichen Versuchen einer Rehistorisierung der Legenden des 3. Makkabäerbuches (A. Kasher) wird mit guten Argumenten widersprochen (195), ebenso den Versuchen einiger, diese Schrift in den Konflikten von 38-41 n. Chr. zu kontextualisieren (203 u. a. gegen J. J. Collins). Alles in allem hilft B., die Stellung der Juden nicht plakativ zu sehen. Nur wenige Jahre nach dem jüdischen Krieg von 66-70 n. Chr. wäre die jüdische Prinzessin Berenike, die langjährige Geliebte des Titus, beinahe römische Kaiserin geworden (309). Und selbstverständlich gab es nicht zuletzt auch Juden, die sich offensiv als Juden bekannten, ohne in der Teilnahme an heidnischen Kulten Probleme zu sehen (Inschrift des Moschos aus Oropus; die älteste jüdische Inschrift aus Griechenland). Die historische Wirklichkeit des antiken Judentums war von überwältigender Vielfalt.

Bei einer Arbeit dieses Umfanges kann es nicht ausbleiben, daß ein Rez. über Details anderer Auffassung ist.

Wenn die Bedeutung der Beschneidung als Identifikationsmerkmal ägyptischer Juden dadurch relativiert wird, daß ja auch Ägypter beschnitten waren (137 A. 30), so darf dabei nicht vergessen werden, daß bei der einheimischen ägyptischen Bevölkerung (natürlich nicht bei den Griechen) die Beschneidung am Beginn der Pubertät vorgenommen (W. Westendorf, Art. Beschneidung, LÄ I, 1975, 727-729) und zudem wahrscheinlich immer mehr Proprium nur der priesterlichen Familien wurde (dann ganz richtig 438). Nicht überzeugt bin ich, ob der Fiscus Judaicus tatsächlich noch im 4. Jh. bezahlt wurde (313). Letzter mir bekannter (und nicht über jeden Zweifel erhabener) Beleg ist Origenes, Ad Africanum 14 (Mischna Scheqalim 8, 8 wird die Bezahlung der Tempelsteuer nach der Zerstörung des Tempels nicht mehr für erforderlich erklärt).

Wichtig für die Frage ist übrigens die kaum beachtete Analogie zu anderen ethnischen bzw. regionalen Kopfsteuern (Fiscus Alexandrinus, Fiscus Asiaticus, Fiscus Gallicus provinciae Lugdunensis), auf die schon Rostowzew ohne großen Nachhall hinwies. Nicht unproblematisch ist auch die Behauptung, gegen die Aussage in Weisheit Salomos 12,23 gäbe es keine Evidenz, "locus, frogs, flies, gnats" hätten in Ägypten je göttliche Verehrung erfahren. Tatsächlich sind z. B. Froschamulette als Symbole jenseitiger Wiederbelebung in Ägypten außerordentlich verbreitet; sie waren nicht zuletzt beliebte Neujahrsgeschenke (L. Kákosy, Art. Frosch, LÄ II, 1977, 334-336) und können bis in die christliche Zeit verfolgt werden. Die Grenzen zwischen solcher volkstümlichen Verwendung und der Rolle anderer Tiere im offiziellen Kult war für Außenstehende kaum nachzuvollziehen.

S. 390 werden Apokalyptik und Dämonologie des Paulus als unhellenistische Züge gewertet. Das ist zumindest einseitig: angstbesetzte Phantasien über das Ende des Imperiums (aber auch der Welt) sind auch außerhalb des Judentums vielfach belegt, und die Rede von "Mächten und Gewalten" fügt sich klar in den astralen Fatalismus. Nicht sehen kann ich, daß Josephus wirklich so sehr viel unkritischer mit seinen Quellen umgegangen sei als die ihm zeitgenössische hellenistisch-römische Historiographie (356). Zu wenig Augenmerk wird den stärker synkretistischen Quellenschichten (vor allem den zahlreichen Zauberpapyri) gewidmet. Unbefriedigend und verharmlosend sind daher auch die Ausführungen zum Hypsistoskult (333 f.). Völlig ausgeblendet bleibt die interessante Frage, welchen Beitrag Juden zur hellenistischen Gesamtkultur geleistet haben. Diese Frage ist selbstverständlich nicht identisch mit jener (mittlerweile intensiv bearbeiteten), was antike pagane Autoren über das Judentum wußten. Enthalten z. B. pagane Offenbarungsschriften wie das Hystaspesorakel oder die bekannten graecoägyptischen Apokalypsen nicht doch ein jüdisches Element? Wie steht es mit dem schmalen, aber kaum bestreitbaren jüdischem Stratum in der Hermetik?

Noch eine methodische Anfrage. Wir können Geschichte nur verstehen, indem wir vergleichen. Welche Chancen und Gefahren liegen aber z.B. darin, daß wir Philons (immens reiche) Familie ’a Rothschild dynasty" (160) nennen? Oder die Reaktion der ägyptischen Juden auf den Makkabäeraufstand mit ähnlichen Reaktionen amerikanischer Juden nach dem Sechs-Tage-Krieg zusammenstellen (35 S. 49)? Solche Vergleiche sind hilfreich, haben aber auch eine spezifische Verführungskraft (und Eigendynamik), die unbedingt systematischer Reflexion bedarf. Mit welchem Recht wird die (von der Holocaust-Forschung in ihrem heuristischen Wert bestrittene) Sündenbock-Theorie auf die Spannungen im Alexandria des 1. Jh. angewandt (48)?

Insgesamt ist Jews in the Mediterranean Diaspora eine vor allem in ihrer Methodik ausgereifte Arbeit, die einen wichtigen Schritt zu einem neuen, präziseren und vorurteilsfreieren Bild des hellenistischen Judentums darstellt. Wesentliche neue Fakten treten nicht zu Tage (das war auch nicht zu erwarten), wohl aber ein heuristisches Raster, in dem manches in neues Licht gerückt erscheint. Auf die angekündigte Monographie Barclays zu Paulus wird man gespannt sein dürfen.