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Ausgabe:

Juni/1997

Spalte:

521–534

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Ulrich Kühn

Titel/Untertitel:

Die ökumenische Verpflichtung der lutherischen Theologie*

In dieser Vorlesung zum Abschied aus meiner aktiven Lehrtätigkeit möchte ich das Thema aufgreifen, das mein theologisches Nachdenken seit meiner Zeit als Assistent an der Leipziger Fakultät in besonderem Maße bestimmt hat. Ich gedenke dabei meines Lehrers Ernst Sommerlath, der über Jahre, ja Jahrzehnte diese Fakultät und darüber hinaus eine ganze Pfarrergeneration der sächsischen Landeskirche mitgeprägt hat. Sommerlath war ein strenger Lutheraner. Er hat 1957 als einziges Mitglied der Abendmahlskommission der EKD den Konsens der Arnoldshainer Abendmahlsthesen nicht unterschrieben.(1) Er hat an Altären der Union nicht kommuniziert. Er war auch nicht glücklich über das Zustandekommen der Leuenberger Konkordie von 1973 zwischen reformierten, unierten und lutherischen Kirchen, weil sie seiner Meinung nach der Wahrheitsfrage nicht zureichend standgehalten hat. Und doch war er ein leidenschaftlicher Ökumeniker. Er ist auf den großen Konferenzen des Weltrates der Kirchen und des Weltluthertums nach dem Zweiten Weltkrieg für den ökumenischen Auftrag des Luthertums eingetreten ­ als der Konfession der Mitte, wie er mit Wilhelm Löhe sagte. Sommerlath hat maßgebend im Leipziger Una-Sancta-Kreis mitgewirkt, und er hat mit uns allen mit klopfendem Herzen den Verlauf des Zweiten Vatikanischen Konzils in den 60er Jahren verfolgt.

Die ökumenische Verpflichtung der lutherischen Theologie ­ wir tun gut, uns an unsere lutherischen Väter ­ und speziell diejenigen an dieser Theologischen Fakultät ­ zu erinnern, wenn wir uns diesem Thema nähern. Ernst Sommerlath hat mich auf den Weg der ökumenischen Theologie geführt. Er hat mir nahegelegt, als Promotionsthema einen Bereich aus der römisch-katholischen Theologie zu wählen, und er hat Thomas von Aquin als systematisch-theologisches Habilitationsthema akzeptiert.

Die Skepsis Sommerlaths gegenüber den reformierten und den unierten Kirchen und der Konkordie mit ihnen konnte ich dann allerdings je länger desto weniger mitvollziehen. Der ökumenische Impuls hat mein Denken stärker verändert, als es meinem verehrten Lehrer lieb sein konnte. Die Mitarbeit in der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung und die Suche nach Konvergenzen in der Lehre ­ bis hin zur Verabschiedung der berühmten Konvergenzdokumentezu "Taufe, Eucharistie und Amt" in Lima 1982 ­, dabei vor allem die Begegnung mit der orthodoxen und der anglikanischen Tradition, hat noch weitere Horizonte geöffnet. Ich habe ökumenisch-theologische Arbeit als eine Entdeckungsreise zum Reichtum unseres Glaubens erfahren.

War das alles ein falscher Weg? Sind die Lima-Texte ein Produkt ökumenischer Augenwischerei? Ist die Suche nach einem ökumenischen Lehrkonsens insgesamt ein Irrweg, weil hier unversöhnbare Grunddifferenzen überbrückt werden sollen? Ist ökumenisch-theologische Arbeit gar ein bloßes Geschäft von Kirchenfunktionären, das zu einer "schleichenden Rekatholisierung des Protestantismus beiträgt"(2)? Solchen Fragen ist derjenige ausgesetzt, der gegenwärtig in maßgebenden theologischen Gremien des deutschen Protestantismus mitarbeitet und noch etwas von ökumenischer Theologie hält. Der Wind hat sich gedreht: Es gibt neue Formen protestantischer Rekonfessionalisierung.

Wir werden im folgenden zunächst (1) auf die Bemühungen der lutherischen Theologie der letzten Jahrzehnte um einen "differenzierten ökumenischen Lehrkonsens" verweisen, ehe wir (2) etwas näher auf die bereits erwähnte protestantische Kritik dieser Bemühungen eingehen. Es soll sodann (3) etwas zu den ökumenischen Implikationen und Potenzen der lutherischen Reformation selbst gesagt werden, den sich lutherische Theologie verpflichtet fühlen sollte. Und abschließend soll (4) noch ein Blick geworfen werden auf neue Herausforderungen für die Theologie in ihrer ökumenischen Dimension. Dadurch rückt die Frage nach der ökumenischen Verantwortung der lutherischen Theologie in noch einen weiteren Horizont.

1. Bemühungen um einen "differenzierten Lehrkonsens"

Die lutherischen Kirchen und die lutherische Theologie haben sich nicht immer leicht getan mit der ökumenischen Bewegung des 20. Jh.s. Das betraf, wie das Beispiel von Ernst Sommerlath zeigt, insbesondere die sozusagen innerprotestantische Ökumene, die zunächst im Vordergrund stand. Es gab eine breite lutherisch-konfessionelle Skepsis gegenüber allen Unionsversuchen mit den Kirchen reformierter Herkunft. Dies hat bereits im 19. Jh. zu lutherischen kirchlichen Sonderbildungen geführt (Altlutherische Kirche, lutherische Freikirchen, Missouri-Synode in den USA). Im 20. Jh. war nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland die Gründung der VELKD neben der EKD ein Zeichen solcher Skepsis. Dem entsprach auf Weltebene die Institution des Lutherischen Weltbundes neben dem Weltrat der Kirchen. Wir sehen inzwischen, daß solches Nebeneinander einen durchaus konstruktiven ökumenischen Sinn haben kann. Zunächst aber überwog die Warnung vor einem Überspielen der Wahrheitsfrage.

Immerhin zeigt ein Lutheraner wie der frühere schwedische Erzbischof Nathan Söderblom, daß es auch andere Haltungen in den lutherischen Kirchen gab. Söderblom war bekanntlich der wesentliche Promotor der ökumenischen Bewegung für Praktisches Christentum (Life and Work) in den 20er Jahren mit dem erklärten Ziel der Einung der Christenheit. Und natürlich begegnete man auch in der deutschsprachigen lutherischen Theologie seit jeher sehr unterschiedlichen Voten, insbesondere zur Frage einer lutherisch-reformierten Gemeinschaft.(3)

Dabei hat die lutherische Theologie (speziell die deutschsprachige) allerdings der Frage der Konsenses in der Wahrheit als Voraussetzung ökumenischer kirchlicher Gemeinschaft immer besondere Priorität eingeräumt. Hier dürfte der Impuls von CA VII wirksam geblieben sein: für die Einheit der Kirche entscheidend, aber auch ausreichend ist das "consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum". Dieser Impuls ist bei den theologischen Bemühungen um einen innerreformatorischen Konsens in der Abendmahlslehre spürbar gewesen, der zu den erwähnten Arnoldshainer Abendmahlsthesen und dann zur Leuenberger Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa geführt hat. Dieser Impuls war seit dem II. Vatikanischen Konzil bei den intensiven bilateralen lutherisch-katholischen Dialogen wirksam, die in den USA, in Deutschland, vor allem aber auf Weltebene in der Gemeinsamen römisch-katholischen/evangelisch-lutherischen Kommission seit etwa 1970 zu erstaunlichen, vielbeachteten Ergebnissen geführt haben. Die jüngste Phase ist in Deutschland und darüber hinaus durch das Dokument "Lehrverurteilungen ­ kirchentrennend?" von 1986 und die seither geführte umfangreiche Diskussion dazu gekennzeichnet.(4) In ihm wird empfohlen zu erklären, daß die Verurteilungen des 16. Jh.s den kirchlichen Partner von heute nicht mehr treffen. Daraus hervorgegangen sind die gegenwärtig noch laufenden Bemühungen um eine gemeinsame lutherisch-katholische Erklärung zur Rechtfertigungslehre auf Weltebene.(5) Das Engagement lutherischer Theologen im multilateralen Dialog auf der Ebene der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung dokumentiert sich nicht zuletzt durch die langjährigen lutherischen Direktoren des Genfer Sekretariats: den Amerikaner William Lazareth und den Deutschen Günther Gaßmann, sowie durch den maßgeblichen Einsatz lutherischer Theologen in der theologischen Arbeit an den Sachproblemen selbst(6).

Bei all diesen ökumenisch-theologischen Dialogen ist zunehmend eine Struktur des "consentire" ins Auge gefaßt worden, die der Formel der "versöhnten Verschiedenheit" entspricht ­ eine Formel, die wohl nicht zufällig auf einer Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes(7) als ökumenische Zielvorstellung proklamiert wurde. Sie meint eine Differenzierung oder gar Ablösung der im ÖRK bis dahin weithin vertretenen Zielvorstellung einer "organischen Union" der Kirchen und ihrer Lehren. Der erhoffte Konsens zwischen den Kirchen als Voraussetzung voller kirchlicher Gemeinschaft schließt ­ so ist nun die Meinung ­ die bleibende Verschiedenheit der bestehenden Bekenntnistraditionen nicht aus, ebensowenig eine Vielfalt von kirchlichen institutionellen und kulturellen Gestaltungen. Es geht in der Ökumene nicht um eine "Einheitskirche", sondern um kirchliche Einheit als Gemeinschaft in der Vielfalt. Man spricht jetzt von einem "differenzierten Konsens"(8). Es muß allerdings formuliert werden können, warum die einstigen kirchentrennenden Lehrgegensätze heute keinen kirchentrennenden Charakter mehr haben. Dies ist als Modell bereits bei der Leuenberger Konkordie wirksam geworden, es zeigt sich dann de facto in den weiteren insbesondere bilateralen Dialogergebnissen und ist nun auch im Dokument "LV" und in der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre maßgebend geworden. Es gibt ­ so wird gesagt ­ einsehbare und beschreibbare Gründe, die gegenwärtig zu dem Urteil berechtigen: die alten Verwerfungen treffen den heutigen Partner nicht mehr, stellen kein Hindernis für Kirchengemeinschaft mehr dar. Die Gründe liegen in dem Wandel der Art und Weise, wie die jeweiligen Partner ihre sie verpflichtenden Traditionen heute auslegen, wie sie insbesondere die biblische Überlieferung verstehen. Die in den Kirchen maßgebenden Traditionen müssen im Blick auf ihre Denkkategorien, ihre Begrifflichkeit, die Art ihres Schriftbezugs sowie im Blick auf die Zeitbedingtheit der damaligen Auseinandertzungen kritisch interpretiert werden. Dies wird mit dem Begriff der "Bekenntnis- oder Dogmenhermeneutik"(9) benannt. Die Struktur des "Lehrkonsenses" wäre dann nicht die Aufhebung der unterschiedlichen bindenden Traditionen zugunsten einer Einheitslehre, sondern die (allerdings formulierbare) Begründung dafür, warum die bleibenden Unterschiede in der Lehre heute keine kirchentrennende Wirkung haben, d. h. als unterschiedliche Ausformulierungen des einen christlichen Glaubens gelten können.

2. Zur theologischen Kritik an den Bemühungen um einen ökumenischen Lehrkonsens

Der beschriebene Prozeß des ökumenischen Dialogs hat in einigen Fällen zur Erklärung von Kirchengemeinschaft oder zu eucharistischer Gastbereitschaft geführt. Das zeigt das Beispiel der Leuenberger Konkordie, das zeigt auch der Dialog mit der anglikanischen Kirchengemeinschaft(10), mit der methodistischen Kirche(11), mit den Mennoniten(12), mit der altkatholischen Kirche(13). Daß es dazu im Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche noch nicht gekommen ist, liegt an einer unzureichenden Konvergenz in der Frage der kirchlichen Amtsstrukturen. Hierbei spielen ganz offensichtlich auch Faktoren eine Rolle, die jenseits des theologisch Erörterbaren liegen, die mit Rechtsstrukturen und geistlich-kirchlicher Praxis zu tun haben, weshalb eine Erweiterung des ökumenischen Paradigmas gefordert worden ist(14). Auch die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre wird die eucharistische Gemeinschaft noch nicht bringen. Hier stehen wir vor der Grenze des Suchens nach theologischem Konsens.

Schwer verständlich ist indessen die Kritik an der Suche nach dem Lehrkonsens überhaupt, wie sie seit einiger Zeit im Raum der deutschen evangelischen Theologie geübt wird und einleitend angedeutet wurde. Nach meiner Einsicht erfolgen Fragen und Einwände aus dreierlei Richtungen, die allerdings in dem gemeinsamen Vorwurf konvergieren, der in den ökumenischen Dialogen eingeschlagene Weg sei im Grunde eine Auslieferung des Protestantismus an katholische Voraussetzungen. Das Wort "katholisch" ist in diesem Zusammenhang von vornherein der Begriff für etwas Abzuwehrendes.(15) Für denjenigen, der im Auftrag der evangelischen Kirchen an diesen Dialogen teilgenommen hat, ist dies eine schmerzliche Erfahrung.

a) Die eine Richtung der Kritik bewegt sich auf der Ebene der materialen Ergebnisse der Dialoge und kritisiert deren Inhalt. Diese Weise der Kritik liegt exemplarisch vor in dem in der Bilanz negativen Urteil des Gutachtens der Göttinger Theologischen Fakultät zu den Ergebnissen der Studie LV.(16) Sie findet sich auch bereits in Jörg Baurs Streitschrift "Einig in Sachen Rechtfertigung?"(17). Hier wird de facto kritisiert, daß bei der Feststellung, die Verwerfungen der Refomationszeit träfen den Partner von heute nicht mehr, die lutherische Lehre so abgeschwächt oder verfälscht werde, daß dies im Grunde bereits ein Einschwenken auf katholische Positionen bedeute.(18) Ist es nicht bereits katholisch, wenn von einer Entscheidung und Mitwirkung des Menschen im Rechtfertigungsvorgang gesprochen oder das Eingebundensein von Liebe und Hoffnung in den rechtfertigenden Glauben zugestanden wird? Ein Eingehen auf die oben erwähnten hermeneutischen Einsichten ist bei dieser Kritik nicht zu erkennen, vielmehr gelten die Formulierungen der altlutherischen Lehre als Maßstab für eine ökumenische Verständigung (bzw. als Anzeige eines bleibenden Dissenses) heute. Das war auch das Problem der Kritik Ernst Sommerlaths am Abendmahlskonsens von Arnoldshain und Leuenberg. Erst wenn der andere die lutherische Lehre voll rezipiert hat, ist die Verständigung zureichend(19) ­ ein direkter Widerspruch zum Prinzip des "differenzierten Konsenses".

b) Eine zweite Form der Kritik geht nicht so sehr auf den Inhalt der jeweils in den Dialogen gewonnenen Aussagen ein. Vielmehr läuft sie auf die These hinaus, daß schon der Versuch, auf dem Boden der materialen Lehraussagen überhaupt zu einer Verständigung oder einem Konsens zu gelangen, verfehlt ist. Denn dabei werde das Evangelium an theologisch-kirchliche Lehrgestalten gebunden, die Selbstunterscheidung kirchlicher Lehre vom Evangelium als ihrem Gegenstand werde verkannt, und damit sei man schon auf katholischem Abweg. Die Devise habe vielmehr zu sein: auf der Ebene der Lehrgestalten kann (und muß unter Umständen) Gegensätzliches, Unvereinbares behauptet werden ­ je schärfer, desto besser und ehrlicher. Dennoch ist eine ökumenische Gemeinsamkeit im Geistlichen und Praktischen möglich und wünschenswert. Wo das erkannt ist, sei die Reife des evangelischen Theologie- und Bekenntnisverständnisses erlangt. Das katholische Selbstverständnis lasse trotz erheblicher Fortschritte diese Reife noch nicht erkennen.

Damit habe ich den Ansatz der Kritik an der Konsens-Ökumene benannt, den wir bei Eilert Herms finden.(20) Er ist letztlich dem theologischen Selbstverständnis Schleiermachers verpflichtet, das auf jener starken Trennung von Evangelium und kirchlicher Lehre basiert. Wie diese Option allerdings mit dem "consentire" von CA VII in Übereinstimmung zu bringen ist, der Forderung nach einem Lehrkonsens, bei dem die doctrina eine Form des Evangeliums selbst ist, bleibt rätselhaft. Von daher kommt es auch zu einer kaum haltbaren Interpretation der Leuenberger Konkordie durch Herms(21). Das in dieser Konkordie vorliegende Bemühen, auf der Lehrebene den (differenzierten) Konsens herzustellen und damit Kirchengemeinschaft zu ermöglichen, wird faktisch übergangen ­ und deshalb wird die Konkordie gelobt.(22) Es ist dann verständlich, daß Herms das Göttinger Votum gerade in seiner Unversöhnlichkeit auf der Lehrebene als vorbildlich rühmt(23), so daß sich hier der Schleiermacher verpflichtete Ansatz mit demjenigen eines neuorthodoxen Luthertums im antikatholischen Affekt verbindet.

c) Auch bei der Kritik des Wiener Systematikers Falk Wagner an dem ökumenischen Bemühen um Konsens ist die Differenz zwischen Evangelium und theologischer Lehre charakteristisch. Sie wird jetzt als Differenz zwischen Religion und Theologie bezeichnet, wie sie dem neuzeitlichen Protestantismus u.a. von J. S. Semler im 18. Jh. überkommen ist.(24) Die "kirchenbezogene Schultheologie der Berufstheologen", die sich noch an biblischen und kirchlich-dogmatischen Themen abarbeitet, zeigt nach Wagner, daß sie die Umformung des Altprotestantismus zum Neuprotestantismus im Grunde nicht mitvollzogen hat(25). Wagner kritisiert daher seinerseits eine lutherische Position wie diejenige der Göttinger Fakultät als "luftig-vormodern", weil sie das moderne Freiheitsbewußtsein leugne und die "passive Fremdkonstitution" des Menschen außerhalb seiner selbst, in Christus, festhalte(26). Das bedeutet aber nicht etwa eine Zustimmung Wagners zu den ökumenischen Dialogergebnissen, die die Freiheit des Menschen im Rechtfertigungsvorgang angemessen zu berücksichtigen versuchen. Vielmehr traktiert für ihn der ökumenische Dialog grundsätzlich vormoderne Fragestellungen, die fernab von allem wirklichen religiösen Leben des modernen Menschen angesiedelt sind. Und dies sei letztlich eine Frucht der durch Karl Barth initiierten "neuevangelischen Wendetheologie des Wortes Gottes"(27). Die "Lehr-Konsens-Ökumene", wie Wagner sie nennt, sei, wie wir schon hörten, "allein von Berufstheologen und Kirchenfunktionären gesteuert" und führe zu dem, was bereits Adolf von Harnack konstatiert habe: zu einer "fortschreitenden Katholisierung unserer protestantischen Landeskirchen"(28). Das "nach außen abgeschottete Milieu der Kerngemeinden" und die "geschlossenen Anstalten theologischer Fakultäten und kirchenleitender Ämter" werden als Folgeerscheinung solchen Theologieverständnisses gegeißelt.

Nun wird man sicher Wagners Kritik nicht in jeder Hinsicht für abwegig halten. Was indessen nicht in Wagners Blick tritt, ist die Tatsache, daß die ökumenische Bewegung selbst primär getragen war von religiöser Bewegung und daß die ökumenische Theologie nur dann richtig zu verstehen ist, wenn man sie in ihrer Zuordnung zu diesem Lebensvorgang begreift. Das ist freilich ein Lebensvorgang, der nicht ohne weiteres dem von Wagner favorisierten Bild des Neuprotestantismus zu subsumieren ist, weil er an der Kirche als verbindlicher Gemeinschaft orientiert ist. Vielleicht wäre also bereits dieser Lebensvorgang katholisierend? Man muß wohl sachgemäßer von zwei unterschiedlichen Lebensvorgängen sprechen, deren einem die ökumenisch-theologische Bemühung zugeordnet ist, die gerade nicht als akademisch abgeschottete bloße Berufstheologie diskriminiert werden kann. Auch die "vormoderne" lutherische Theologie war ja Exponent religiöser, geistlicher Erfahrungen. In den Auseinandersetzungen der ökumenischen Theologie geht es letztlich und zutiefst um Fragen religiöser sowie gemeindlich-kirchlicher Praxis, einer Praxis, die allerdings nicht loskommt von dem, was bei Falk Wagner als vormodern gilt. Dies hat die Suche nach einem ökumenischen Konsens zumindest gemein mit der aus Göttingen faktisch an ihren Ergebnissen geübten Kritik.

Die geschilderten drei Voten zum ökumenischen Dialog ­ vorgetragen von Theologen, die sich selbst der lutherischen Tradition verpflichtet wissen ­ sind also im einzelnen durchaus unterschiedlicher Art. Sie begegnen sich in der Kritik dieses Dialogs der letzten 30 Jahre als eines "katholisierenden" Vorgangs. Demgegenüber signalisieren sie eine gegenwärtige kontroverse Neubesinnung auf das, was eigentlich lutherisch oder evangelisch oder protestantisch wäre. Dies dürfte der Nerv dieser Auseinandersetzung um die ökumenische Theologie sein. Ob die katholisierende Gefahr in der Betonung der menschlichen Freiheit beim Heilshandeln Gottes ­ oder gerade in der Mißachtung der menschlichen Freiheit besteht, ob die katholisierende Gefahr die nicht zureichende Übereinstimmung in der Lehre ­ oder gerade die Suche nach zureichendem Lehrkonsens ist; ob katholisierend bereits das Ausgehen von kirchlicher Verbindlichkeit überhaupt ist oder nicht: darin unterscheiden sich diese Positionen. In jedem Falle erhält die abgelehnte Position das Prädikat "katholisch".(29) Worum es im Folgenden zu gehen hat, ist der Vorwurf an die lutherische Theologie, durch ihr Suchen nach ökumenischem Lehrkonsens dem Reformatorischen untreu zu werden und die katholische Schiene zu betreten. Wie nimmt sich dieser Vorwurf aus, wenn wir nun einen Blick auf das werfen, was ich das ökumenische Potential der lutherischen Tradition nennen möchte?

3. Die Katholizität der lutherischen Reformation

Gegenüber der Kritik an einer ökumenisch verpflichteten Theologie, die auf den Vorwurf des Katholisierens hinausläuft, ist nun mit Nachdruck die Katholizität der lutherischen Reformation selbst als ihr unverlierbares ökumenisches Potential zur Sprache zu bringen. Diese Katholizität ist gewiß nicht identisch mit dem Selbstverständnis des römischen Katholizismus, aber sie bildet doch eine überraschend konvergierende Perspektive gerade für das ökumenische Gespräch in der westlichen Christenheit.

a) Die Heilige Schrift als ökumenische Herausforderung. Die Reformation hat das Zeugnis der Heiligen Schrift gegen die Kirche ihrer Zeit ins Feld geführt. Glaube und Verkündigung der Kirche haben sich immer neu dem in der Schrift vorgegebenen Worte Gottes auszusetzen. Mit diesem Grundsatz hat die Reformation auf den Konsens der Gesamtchristenheit zurückgegriffen. Die Heilige Schrift als Kanon ist zunächst einmal als solche ein eminent ökumenischer Faktor. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die Erwiderungen der altgläubigen Seite auf die Kritik der Reformatoren eben diese Heilige Schrift als Argumentationsbasis gebrauchten: die Confutatio von 1531 ebenso wie die Dekrete des Trienter Konzils, insbesondere das Rechtfertigungsdekret. Die katholisch-reformatorische Kontroverse war ebenso wie die Kontroverse Luthers mit Zwingli wesentlich auch eine Kontroverse um die Frage der sachgemäßen Auslegung der Heiligen Schrift.

Die Lage hat sich seit dem 16. Jh. gewandelt. In der Folge der historisch-kritischen Erforschung der Heiligen Schrift ist es im Protestantismus ­ viel stärker als in der katholischen Theologie ­ selbst zu einer "Krise des Schriftprinzips"(30) gekommen. Es ist daher eher eine Problemanzeige als eine Lösung, wenn evangelische Theologen ihren katholischen Gesprächspartnern heute das "sola scriptura" als kritische Instanz gegenüber Tradition und Lehramt entgegenhalten. Und es scheint eine gewisse Plausibilität zu haben, auf die normative Geltung der Heiligen Schrift überhaupt zu verzichten. Ist sie nicht eine bloße "Setzung kraft kirchlicher Autorität", also selbst eine katholische Voraussetzung, die dem Wesen des Protestantismus widerspricht?(31) Hier zeigt sich dann freilich die ganze Verworrenheit der Lage.(32)

Geht man demgegenüber dennoch von der unableitbaren Maßgeblichkeit der Heiligen Schrift für Theologie, Verkündigung und Kirche aus, versteht man insbesondere auch die Systematische Theologie als Auslegung der Heiligen Schrift, dann wird man allerdings in Rechnung zu stellen haben: Die Botschaft vom geschichtlichen Handeln Gottes zum Heil der Welt tritt uns in einem vielstimmigen Chor entgegen, nicht in einer einheitlichen Lehrgestalt. Im Neuen Testament gibt es neben Paulus auch Johannes und Matthäus und natürlich die Botschaft Jesu. Und das Alte Testament setzt nochmals andere Akzente. Das erfordert gewiß eine innerbiblische Hermeneutik. Es verbietet in jedem Falle eine flächige Schriftbenutzung. Und das ist von großer ökumenischer Bedeutung. Die Heilige Schrift ist selbst eine Art Paradigma "versöhnter Verschiedenheit".(33)

Hinzu kommt noch eine weitere Einsicht. Wir sehen heute deutlicher als früher, daß die Väter des 16. Jh.s (besonders auch die Reformatoren) die Heilige Schrift im Lichte ihrer Erfahrung ausgelegt haben, daß z.B. einige Spitzensätze der lutherischen Tradition (wie das "simul iustus ac peccator" oder die lutherische Lehre von Gesetz und Evangelium) sich selbst bei Paulus (geschweige denn in anderen biblischen Traditionen) nicht ohne weiteres finden lassen.(34) Sie sind vielmehr eine situationsgemäße Interpretation des Textes ­ und es gibt exegetisch gesehen z. B. auch Argumente für das damalige katholische Paulusverständnis. Das "sola scriptura" wandelt sich so zugleich auch zur kritischen Rückfrage an die Theologie und Kirche, die sich vehement darauf beruft. Positiv: im gemeinsamen neuen Hören auf die Hl. Schrift in ihrer Vielfalt haben wir die Relativität unserer überkommenen konfessionellen Traditionen und unsere Gemeinsamkeit im Glauben neu entdeckt. Im gemeinsamen neuen Hören auf die Schrift in ihrer Vielfalt erscheint Luther als ein (wichtiger) Zeuge, neben dem andere Zeugen ihr Recht und ihren Ort haben. Darin zeigt sich noch einmal die ökumenische Bedeutung des Rückgriffs auf die Heilige Schrift.

b) Die Maßgeblichkeit kirchlicher Tradition. Zum ökumenischen Potential der lutherischen Reformation gehört auch ihr betonter Bezug auf die kirchliche Tradition. Dies meint ein Doppeltes. Auf der einen Seite halten die Reformatoren mit großem Nachdruck an der Kontinuität zur altkirchlichen Überlieferung und sogar zur römisch-katholischen Tradition fest.(35)Wie das auch für die Theologie des hohen Mittelalters zutrifft, ist durch den theologischen Vergleich von Thomas und Luther in überraschender Weise deutlich geworden.(36) Luther selbst insistiert in seiner antipäpstlichen Argumentation darauf, daß nicht die Papstkirche, sondern daß "wir die rechte alte Kirche sind"(37).

Auf der anderen Seite hat die Reformation die Tradition in das Licht ihrer eigenen Erkenntnisse gerückt und sie zusammen mit ihren eigenen Bekenntnissen zu einem erweiterten Stück Tradition werden lassen. Die Kühnheit, mit der die Refomatoren wagten, die kirchliche Tradition schöpferisch weiterzuentwickeln, ist beeindruckend. Es ermutigt uns freilich, auch unsererseits schöpferisch mit unserer Tradition umzugehen. Die Reformation ist weder Anfang noch Ende der Geschichte Gottes mit seiner Kirche. Wieder ist zu sagen: Luther ist im Gang der Glaubensgeschichte ein wichtiger Zeuge des Evangeliums, aber nicht ein einsamer Stern inmitten von lauter sonstiger Dunkelheit. Die Bindung reformatorischer Theologie an ihre eigene Tradition gestaltet sich indessen mitunter zu einem Traditionsprinzip, das der katholischen Traditionsbindung mindestens ebenbürtig ist und das weder das Zeugnis der Heiligen Schrift noch Einsichten der Dogmenhermeneutik als kritische oder weiterführende Instanzen zuläßt.(38) Könnte es nicht sein, daß in unserer Gegenwart neue Erfahrungen mit dem einen Evangelium, mit der einen Wahrheit des Glaubens zu neuen Interpretationen der Überlieferung führen? Und wäre es undenkbar, daß zu solchen Erfahrungen auch die neu gefundene geistlicheGemeinsamkeit über die Konfessionsgrenzen hinweg gehört, das gemeinsame neue Hören auf die Schrift z. B., so daß unsere eigene Tradition in diesem Lichte weitergeführt werden müßte?

c) Strukturen der Kirche. Ein ökumenisches Potential der lutherischen Reformation dürfte auch im Festhalten an der Struktur des (in der alten Kirche entstandenen) kirchlichen Amtes vorliegen ­ trotz aller notwendigen und bis heute teilweise unüberholten Kritik am römisch-katholischen Amtsverständnis. Daß es ein von Gott eingesetztes Amt (der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung) gibt und daß dieses Amt durch Ordination übertragen wird (CA V, XIV)(39), sollte in seiner Bedeutung für die ökumenische Verständigung nicht unterschätzt werden. Das betrifft auch das grundsätzliche Festhalten am bischöflichen Amt als Amt einer regionalen episkope und Lehrverantwortung (CA XXVIII), und es betrifft die an wenigen Stellen bezeugte Bereitschaft, sogar über den Petrusdienst des Papstes unter bestimmten Bedingungen konstruktiv nachzudenken(40). Die Gestalt der Kirche ist nicht beliebig.(41) Natürlich wären auf diesem Hintergrund die bis heute ungelösten Kontroversfragen zu nennen: vor allem die Frage, in welchem Sinne die bischöfliche Sukzession zum esse der Kirche (oder doch nur zu ihrem bene esse) gehört(42), und welcher juridische Status einem denkbaren gesamtkirchlichen Petrusdienst zukommen könnte(43). Aber wir haben hier in der Tat "katholische" Züge im lutherisch-reformatorischen Selbstverständnis vor uns, die eine ökumenische Verpflichtung enthalten. Wenn man sie in Erinnerung ruft, bringt man sich erst recht in den Verdacht, Ökumene auf dem Boden katholischen Denkens und katholischer Voraussetzungen zu betreiben. Nur wäre dann die Frage zu stellen, welches Luthertum, welche Art von Protestantismus es eigentlich ist, von dem aus es zur ökumenischen Begegung kommen soll, und ob das Insistieren auf einem "kontradiktorischen Widerspruch"(44) durch das Selbstverständnis der lutherischen Tradition wirklich gedeckt ist. Im Grunde ist die ökumenische Problematik, wie wir schon früher sahen, heute primär eine Frage des evangelischen ­ oder eben "protestantischen" ­ Selbstverständnisses.

d) Die Rechtfertigungslehre. Zu den Gaben der lutherischen Reformation an die eine Christenheit gehört im Zentrum der Artikel, um den es ihr zuerst und zuletzt recht eigentlich ging: der Artikel von der Rechtfertigung. Dies wird mit Recht heute im Dialog immer wieder unterstrichen, und deshalb ist der Plan einer gemeinsamen katholisch-lutherischen Erklärung zur Rechtfertigungslehre tatsächlich von besonderer Bedeutung.

Die Rechtfertigungslehre ist nicht eine Lehre unter anderen, sondern hat kriteriologische Bedeutung für das Ganze christlicher Lehre.(45) Daß die Rechtfertigungslehre ökumenisch insbesondere für ein gemeinsames Kirchenverständnis grundlegend ist, hat die letzte Phase des internationalen lutherisch-katholischen Dialogs zum Thema "Kirche und Rechtfertigung" deutlich gemacht.(46) Die lutherische Seite hat dabei betont, daß in allen Rechtsstrukturen und Lehrvollzügen der Kirche der Vorbehalt grundlegend ist: auch kirchliches Handeln und Lehren hat sich grundsätzlich dem Gericht des Wortes Gottes auszusetzen. Dies verbietet es, ihm etwa das Prädikat der Unfehlbarkeit zuzuerkennen. Das Dokument "Kirche und Rechtfertigung" hat hier das Stichwort "Verbindlichkeitsvorbehalt" als bleibende und notwendige Anfrage von Seiten der lutherischen Rechtfertigungslehre her geltend gemacht und eine entsprechende Interpretation der katholischen Lehre über den päpstlichen Primat erbeten.(47) Gleichzeitig wird dann auch deutlich, welche Lebensbedeutung der lutherischen Rechtfertigungslehre gegenwärtig zukommt. Sie ist eine befreiende Botschaft beim Umgang mit historischer und persönlicher Schuld, auch mit Schuld, die beim besten Willen unvermeidbar ist: in Politik, Wirtschaft, im Leben miteinander.(48)

Aber auch im Blick auf den Artikel von der Rechtfertigung bedarf es einer innerlutherischen Klärung, die dann allererst deutlich werden läßt, was mit diesem Artikel ökumenisch auf dem Spiel steht. Einer der neuralgischen Punkte im Dialog über den inhaltichen Sinn von Rechtfertigung ist die Frage: In welchem Maße ist der Mensch mit seinem Ja, mit seinen Entscheidungen einbezogen in das Geschehen von Heil? Ist die These von der absoluten Passivität des Menschen in der Heilsfrage zu halten?(49) Oder ist nicht das vom Geist erweckte Ja des Glaubens, das eine freie Entscheidung des Menschen impliziert, für das Geschehen von grundlegender Bedeutung?(50) Diese Frage wiederholt sich in den Auseinandersetzungen um das rechte Verständnis des Gottesdienstes, insbesondere des Herrenmahls: welche Stellung kommt hier dem eucharistischen und anamnetischen Handeln der Gemeinde ­ also der anabatischen Dimension des Gottesdienstes ­ zu? Muß ein lutherisches Verständnis hier nicht neue, biblisch und ökumenisch vorgegebene Dimensionen zurückgewinnen, wie sie jetzt in dem Entwurf einer Erneuerten Agende vorgesehen sind?(51)

Aus all dem wird deutlich: Die Rechtfertigungslehre als lutherische Gabe an die eine Christenheit und ihre Bedeutung als Kriterium richtiger Lehre bedarf selbst der Klärung, um in dieser ihrer Funktion ökumenisch (und auch in der christlichen Lebenspraxis) verantwortlich wirksam werden zu können. Dann aber kulminiert gerade in ihr die ökumenische Verpflichtung lutherischer Theologie.

4. Neue Herausforderungen

Im bisherigen sind noch einmal die Themen angeklungen, die einen der lutherischen Tradition verpflichteten Theologen angesichts des ökumenischen Dialogs in Atem halten. Sie sind verflochten mit Ansatz- und Grundlagenfragen der evangelischen Theologie überhaupt.

a) Dabei ist vorrangig das Verhältnis der lutherischen Theologie und Kirche zum römischen Katholizismus zur Sprache gekommen. Dies legt sich vom Aufbruch der lutherischen Theologie im 16. Jh. her nahe. Das evangelisch-katholische Verhältnis hat das politische und kulturelle Schicksal Europas durch Jahrhunderte hindurch mitbestimmt. Dabei hat der Konflikt der beiden großen Konfessionen zur Unglaubwürdigkeit des Christentums beigetragen und ist eine der Ursachen für die zunehmende Abkehr vom christlichen Glauben in Europa geworden. Die konfessionelle Zweiheit bestimmt noch die gegenwärtige Situation der christlichen Kirchen, zumal im Mutterland der Reformation. Beide Ausprägungen des Christentums nimmt auch die Öffentlichkeit ernsthaft zur Kenntnis.(52) Deshalb hat z. B. das Sozialwort der beiden großen Kirchen schon durch die Tatsache überkonfessioneller Gemeinsamkeit von vornherein ein besonderes Gewicht bekommen.

Die ökumenisch-theologische Diskussion ist dabei umfangen von einer viel elementareren Entdeckung: nämlich der Entdeckung des spirituellen und lebensmäßigen Reichtums der anderen Konfession, der für die Christen in unserem Jahrhundert vielfach eine ganz neue Erfahrung war. Vorurteile konnten und können in vielerlei Hinsicht korrigiert werden. Die eigene Frömmigkeit ist nicht mehr ohne das bereichernde Miteinander mit dem anderen denkbar. Die Frage nach der Zukunft des christlichen Glaubens und der Kirche kann heute nur gemeinsam gestellt und bedacht werden. In der Theologie ist eine Gemeinsamkeit entstanden, die bis zur Möglichkeit von Lehraufträgen katholischer Theologen an evangelischen Fakultäten und umgekehrt reicht. Die Väter katholischen und evangelischen Denkens im hohen Mittelalter sowie im Reformationsjahrhundert ­ Thomas und Luther ­ haben sich als offener füreinander erwiesen als es ein immer noch anzutreffendes Bild wahrhaben will. Das bedeutet, daß jede der beiden Kirchen sich auch theologisch neu zu definieren hat.(53)

b) Die ökumenische Verpflichtung der lutherischen Theologie hat aber noch andere Dimensionen. Es wurde bereits von den innerevangelischen Auseinandersetzungen gesprochen, die zu dem Ergebnis der Leuenberger Konkordie geführt hat. Hinzuweisen ist aber auch darauf, daß für die lutherische Theologie auch das weltweite Luthertum eine ökumenische Herausforderung darstellt. Die Frage der Amtsstruktur und die Frage des Vollzugs des Gottesdienstes stellt sich in Schweden z.B. ganz anders als in Deutschland, und auch wieder anders in den USA. Die eingangs benannte protestantische Rekonfessionalisierung stellt auch eine gewisse deutsche Provinzialisierung dar. Ökumenisch denken heißt: weltweit denken. Es heißt auch: anderen Kulturen innerhalb möglicher Gestaltwerdung des christlichen Glaubens bewußt Raum geben.

Dazu gehört dann auch die Wahrnahme von weiteren Ausprägungen des Christlichen, jenseits des Luthertums und jenseits des lutherisch-katholischen Gegenübers. Lutheraner sind häufig zu wenig gerüstet, um der anglikanischen oder der orthodoxen Tradition sachgerecht zu begegnen. Sowohl das Verständnis des eucharistischen Gottesdienstes wie die Frage des Amtes bekommen hier neue Facetten. Die lutherische Theologie hat also eine ökumenische Verpflichtung über die bisherigen Dialoge (mit den Reformierten und den Katholiken) hinaus. Sie hat diesen Auftrag nicht zuletzt auch angesichts der erhofften Integration Europas, bei der die Kirchen ihren ökumenischen Beitrag leisten sollten.

c) Die ökumenische Verpflichtung der lutherischen Theologie stellt sich über das alles hinausgehend aber auch so, daß nach den gemeinsamen Herausforderungen zu fragen ist, vor denen die Christenheit gegenwärtig steht und die ein innerchristliches Mißtrauen erst recht als kontraproduktiv erscheinen lassen. Dazu gehört die gemeinsame Herausforderung durch den Säkularismus, wie er besonders in Ostdeutschland begegnet, und sie ist verbunden mit der (noch allzu wenig erfolgten) gemeinsamen Aufarbeitung unserer Vergangenheit. Die Reflexion auf unsere unterschiedlichen Optionen etwa zum sozialistischen Staat (und zur neuen gesellschaftlichen Ordnung) ist eine notwendige Aufgabe.(54) Dazu kommt die gemeinsame Herausforderung durch die nichtchristlichen Religionen und die von ihnen geprägten Kulturen. Wir haben uns miteinander über deren grundsätzliche theologische Einschätzung zu verständigen und haben den Dialog mit ihnen aufzunehmen. Der christlich-jüdische Dialog ist ein Feld, das schon am weitesten beackert ist, wenn auch weithin in getrennten Versuchen von evangelischer und katholischer Seite. Kann man aber, wie vorgeschlagen wurde, von einer "Ökumene der Religionen" sprechen und darin ein ganz neues Paradigma der Ökumene sehen?(55) Offensichtlich gibt es hier neben einer gemeinsamen Aufgabe auch konfessionell differierende Optionen. Der katholischen Aussage über die Heilsmöglichkeit in anderen Religionen steht in der lutherischen Theologie vielfach die exklusive Bindung des Heils an das Wort der christlichen Verkündigung und den expliziten Christusglauben gegenüber.(56) Auch hier liegt eine gemeinsame und zugleich wechselseitige Herausforderung vor. Schließlich sind wir als Christen und Kirchen miteinander gerufen durch die tiefe Gefährdung der Welt am Ende des 20. Jh.s. Dies wird der entscheidende Gesichtspunkt für eine gemeinsame christliche Besinnung im Blick auf das Jahr 2000 zu sein haben. Was haben wir den Menschen und der Welt für ihren Weg in die Zukunft zu sagen und anzubieten? Werden sich die Menschen noch dafür interessieren, ob das Angebot von katholischer, evangelischer oder orthodoxer Seite kommt? Sie werden, wenn sie überhaupt Ausschau halten, fragen, wo Klage vor Gott erlaubt ist, wo sie Tröstung, Freude, Ermutigung finden, wo schöne Gottesdienste und unverkrampfte Menschlichkeit begegnen. Eine ökumenische Verpflichtung der lutherischen Theologie liegt deshalb auch darin, nicht nur innerchristliches Mißtrauen zu beenden, sondern Mißstände in den Kirchen (z. B. in der Politik des Vatikans) als gemeinsame Mißstände zu erleiden und zu bekämpfen und miteinander das Zeugnis von der barmherzigen und heilenden Liebe des dreieinigen Gottes zu feiern, zu verkündigen und zu praktizieren.

Es gilt Abschied von einem Auftrag zu nehmen, von dem Auftrag, an der Theologischen Fakultät Leipzig Systematische Theologie zu lehren. Dieser Lehrstuhl wird in Zukunft in besonderem Maße Theologie in ökumenischer Verantwortung betreiben. Daß dies sinnvoll und notwendig ist, dazu sollte dieser Abgesang, der auch biographische Gründe hatte, ein Beitrag sein. Das Werk theologischer Lehre hat mich seit genau 30 Jahren herausgefordert ­ seit ich im März 1967 eine Dozentur am damaligen Sprachenkonvikt in Berlin übernahm. Es war ein spannendes und schönes Werk. Was das Wort "Systematische Theologie" eigentlich meint, ist vielen unbekannt. Die gemeinte Sache ist: den christlichen Glauben heute zu verantworten und die Frage nach sachgerechtem christlichen Handeln heute zu stellen.

Ich habe diese Aufgabe wahrgenommen als Dienst an dem der Kirche in Schrift und Bekenntnis anvertrauten Evangelium, zugleich als Beitrag zum Gespräch der Wissenschaften an der Universität für eine menschenwürdige Zukunft und nicht zuletzt im Dienst an der einen Christenheit. Ich habe es getan im Kreis der Kollegen und mit den Studierenden ­ Theologie kann man nur gemeinsam betreiben. Und ich wollte helfen, die Schönheit der Theologie zu entdecken, die nicht nur fragt, wie es war, sondern die Antwort zu geben hat auf das Heute und Morgen des Glaubens und des christlichen Lebens. Das Reden vom Geheimnis Gottes ist immer wieder eine unmögliche Möglichkeit und sehr gefährlich. Nicht zuletzt die Erfahrung in der Ökumene ist es aber, daß Theologie getrieben werden kann, ohne das Gemeinte zu zerreden, vielmehr als Ruf in das Geheimnis Gottes hinein.

Fussnoten:

*Abschiedsvorlesung an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig am 7. April 1997.
Ich widme diesen Aufsatz Ernst-Heinz Amberg zu seinem 70. Geburtstag am 11. Juni 1997. Uns verbindet die Verehrung für unseren gemeinsamen Lehrer Ernst Sommerlath und eine durch Jahrzehnte währende gemeinsame Verantwortung für die ThLZ, deren langjähriger Herausgeber Ernst-Heinz Amberg gewesen ist.
(1)Vgl. Zur Lehre vom heiligen Abendmahl. Hrsg. v. G. Niemeier, München 1959, 13.
(2) Falk Wagner: Umformungskrisen des Protestantismus in der modernen Gesellschaft (Vortrag im Rahmen einer Ringvorlesung an der Ev.-theol. Fakultät Wien, 1996), Manuskript, 34. Dieser Text ist (mit Kürzungen) erschienen in: Wiener Jahrbuch für Theologie 1, 1996 (Ev. Press-Verband: Wien 1996), 157-183. Die Zitatnachweise erfolgen nach dem mir freundlicherweise zur Verfügung gestellten Manuskript.
(3) Vgl. z. B. die Beiträge in: Abendmahlsgemeinschaft? (Beih. EvTh 3, 1938)
(4) Lehrverurteilungen ­ kirchentrennend? I. Hrsg. v. K. Lehmann u. W. Pannenberg, Freiburg/Göttingen 1986 (im Folg. abgekürzt: LV), dazu die unter gleichem Titel als Bd. II und III erschienenen Dokumentationsbände, sowie: Lehrverurteilungen im Gespräch. Die ersten offiziellen Stellungnahmen aus den evangelischen Kirchen in Deutschland, Göttingen 1993, sowie den Antwortband LV IV, 1994.
(5) Der endgültige Textvorschlag einer "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" vom Lutherischen Weltbund und dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen (Fassung 1997) ist nun den Entscheidungsgremien der Mitgliedskirchen des LWB sowie den zuständigen Gremien der römisch-katholischen Kirche zur Beschlußfassung zugegangen.
(6) Wolfhart Pannenberg, John Reumann (USA), Torleiv Austad (Norwegen) und viele andere.
(7) Daressalam 1977.
(8) Harding Meyer: Zur Gestalt ökumenischer Konsense, in: Unterwegs zum einen Glauben. FS Lothar Ullrich, hsg. v. W. Beinert, K. Feiereis u. H.-J. Röhrig, Leipzig 1997 (Erfurter Theol. Studien 74), 621-630, bes. 626 ff.
(9) Dazu schon Joachim Rogge: Zur Frage katholischer und evangelischer Dogmenhermeneutik, in: ThLZ 98, 1973, 641-655; ferner: LV I, a.a.O., 20 ff., 43 ff.
(10) Vgl. die Meißener Gemeinsame Feststellung (der Kirche von England und der deutschen evangelischen Kirchen) von 1988 sowie die Porvooer Gemeinsame Feststellung (der britischen und irischen anglikanischen Kirchen und der nordischen und baltischen lutherischen Kirchen) von 1992.
(11) Luth. Kirchenamt und Kirchenkanzlei der Ev.-methodistischen Kirche (Hrsg.): Vom Dialog zur Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft, Hannover und Stuttgart 1987.
(12) Bericht vom Dialog VELKD/Mennoniten 1989-1992 = Texte aus der VELKD 53/1993. Am 17. und 24. März 1996 wurde in Gottesdiensten in Hamburg und Regensburg die gegenseitige Einladung zur Teilnahme an der Feier des heiligen Abendmahls vollzogen.
(13) Dazu: Was hat die Ökumene gebracht? Hrsg.v. H. Brandt und J. Rothermund, Gütersloh 1993, 15-22.
(14) Vgl. Dietrich Rischl: Ökumenische Theologie, in: D.Ritschl/W. Ustorf: Ökumenische Theologie ­ Missionswissenschaft (Grundkurs Theologie, Bd. 10,2), Stuttgart 1994, bes. 27 ff. und 62 (das Modell der Konvivenz).
(15) Die Atmosphäre gegenüber dem ökumenischen Dialog speziell mit der Römisch-katholischen Kirche ist weithin von so etwas wie einem Grundmißtrauen getragen.
(16) Überholte Verurteilungen? Hrsg. v. D. Lange, Göttingen 1991.
(17) Tübingen 1989. Dazu die Antikritik in: U. Kühn/O.H.Pesch: Rechtfertigung im Disput, Tübingen 1991. Kürzlich wurde die Kritik Baurs auch von der Bekenntnisbewegung "Kein anderes Evangelium" übernommen.
(18) Vgl. Überholte Verurteilungen?, a.a.O., 39 f. 41. 43. 45. Vgl. J. Baur, a.a.O., 51 f.
(19) Vgl. Überholte Verurteilungen, a. a. O., 31; J. Baur, a. a O., 110.
(20) Eilert Herms: Von der Glaubenseinheit zur Kirchengemeinschaft, Marburg 1989, bes. 72 ff. ("Grundkonsens" ­ "Grunddissens") und 136 ff. (Konsensustexte und konfessionelle Identität). Vgl. bereits E. Herms: Einheit der Christen in der Gemeinschaft der Kirchen, Göttingen 1984.
(21) Von der Glaubenseinheit..., a. a. O., 77 ff.
(22) Die entscheidenden Lehrkonsens-Aussagen der Konkordie über das Abendmahl Ziff. 18-20, die im Kern die Übereinkunft ermöglicht haben, werden in der Hermsschen Interpretation überhaupt nicht erwähnt.
(23) In ThLZ 118, 1993, 1063.
(24) Vgl. den o. Anm. 2 erwähnten Text von Wagner, 17 ff.
(25) Ebd., 23.
(26) Ebd., 25.
(27) Ebd., 2 und öfter.
(28) Ebd., 34.
(29) Für einen ostdeutschen Betrachter mag die Art, wie in der früheren DDR Kirche konzipiert und in Ansätzen praktiziert wurde, das Verständnis für die skizzierten Voten zusätzlich erschweren.
(30) Vgl. W. Pannenberg: Die Krise des Schriftprinzips (1962), in: ders.: Grundfragen systematischer Theologie (I), Göttingen 1967, 3-21
(31) Vgl. F. Wagner: Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh 1995, 82.
(32) Zum Ganzen vgl. die im Auftrag des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischerTheologen hrsg. Bände:Verbindliches Zeug nis I und II, hrsg. v. W. Pannenberg u. Th. Schneider, Freiburg/Göttingen 1992 und 1995. Der geplante Band III wird voraussichtlich im kommenden Jahr erscheinen.
(33) Vgl. schon den bekannten Aufsatz von E. Käsemann: Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, in: ders. Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1960, 214-223; sodann etwa den für Band III von "Verbindliches Zeugnis" (a. a. O.) vorgesehenen Beitrag von Thomas Söding: "Mitte der Schrift" ­ "Einheit der Schrift". Grundsätzliche Erwägungen zur Schrifthermeneutik.
(34) Vgl. dazu etwa schon P. Althaus: Paulus und Luther über den Menschen, Gütersloh 2. A. 1951, unter kritischem Rückgriff v.a. auf Adolf Schlatter. Für den gegenwärtigen ökumenischen Dialog vgl. die hermeneutischen Überlegungen zum Schriftverständnis in LV I, a. a. O., bes. etwa 32. 44 und z. B. 54.
(35) Das zeigt sich in Confessio Augustana in Art. 1 und 3 zu Trinitätslehre und Christologie sowiein der bekannten Formulierung am Ende von Art. 21.
(36) Hierfür stehen insbesondere die Arbeiten von Otto Hermann Pesch, beginnend mit seiner großen Abhandlung: Die Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin, Mainz 1967.
(37) WA 51, 487, 2.
(38) Die Gemeinsame Stellungnahme der deutschen evangelischen Kirchen zum Dokument LV von 1994 stellt fest, daß die Kirchen der Bitte, die Bekenntnisse sollten "im Lichte der hier formulierten Ergebnisse ausgelegt" werden, "nicht entsprechen" können, "wenn damit gemeint wäre, daß das Dokument eine Auslegungsinstanz gegenüber den Bekenntnisschriften bilden würde, denn das entspricht nicht reformatorischem Verständnis von der Stellung der Bekenntnisse" (Ziff. 4.2. des Beschlusses; vgl. den Text dieser Gemeinsamen Stellungnahme in: ÖR 44, 1995, 99-102). Auch hier zeigt sich ein hermeneutisch nicht zureichend reflektiertes Bekenntnisverständnis. Bereits in der Diskussion der 70er Jahre, ob die Leuenberger Konkordie den Rang eines Bekenntnisses einnehmen könne, und sogar in manchen noch früheren Überlegungen zum Rang der Barmer Theologischen Erklärungen kommt ein solches ­ m. E. bedenkliches ­ unhermeneutisches Bekenntnisverständnis zum Ausdruck, das allerdings auch mit der Bedeutung der Bekenntnisse im Rahmen der Rechtskonstitution der evangelischen Kirchen zusammenhängt.
(39) Es geht in CA V nicht nur um von Gott eingesetzte Funktionen, sondern um das an Personen gebundene geistliche Amt, von dem dann weiteres in CA XIV und im Tractatus Melanchthons gesagt wird.
(40) Vgl. den bekannten Zusatz zur Unterschrift Melanchthons unter die Schmalkaldischen Artikel, aber auch Luthers Äußerung WA 40 I, 181, 11.
(41) So auch: Die Kirche Jesu Christi (Dokument der Leuenberger Gemeinschaft von 1994), Kap. I, Einleitung (vgl. die von W. Hüffmeier besorgte Ausgabe: Leuenberger Texte 1, Frankfurt 1995, 21)
(42) Diese Frage ist auch Gegenstand des Dialogs mit der anglikanischen Kirche. In Provoo wurde sie de facto im Sinne des "bene esse" beantwortet (vgl. die Provooer Gemeinsame Feststellung, a. a. O., n. 51. 53).
(43) Hier ist die Auseinandersetzung mit den Festlegungen des Vaticanum I und II mit dem Ziel einer Neuinterpretation durch die römisch-katholische Kirche notwendig. Vgl. dazu U. Kühn: Papsttum und Petrusdienst, in: ders.: Die eine Kirche als Ort der Theologie, Göttingen 1997, 213- 224. ­ Vgl. ferner das im kommenden Jahr zu erwartende Dokument der Bilateralen Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der VELKD "Ich glaube die Gemeinschaft der Heiligen".
(44) E. Herms: Einheit der Christen..., a. a. O., 136. 198 u. ö.
(45) LV I, 75. Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre hält in Ziff. 18 als katholische Position fest, daß es neben der Rechtfertigungslehre noch andere Kriterien gibt. Dies muß für die lutherische Seite Anlaß für die Frage sein, in welchem Sinne die Einzigartigkeit des Kriteriums der Rechtfertigungslehre gelten kann. Man kann aus ihr z. B. keine ethischen Normen ableiten, wie jetzt in der Diskussion um die Frage nichtehelicher Lebensgemeinschaften kritisch geltend gemacht worden ist (vgl. Die Ehe als Leitbild christlicher Orientierung. Texte aus der VELKD 75/1997, insbes. Kap. 8. 1 und 9). Ein ähnliches Problem stellt sich auch im Blick auf Kriterien für sachgemäße kirchliche Strukturen.
(46) Gemeinsame römisch-katholische und evangelisch-lutherische Kommission (Hrsg.): Kirche und Rechtfertigung, Frankfurt 1994.
(47) Ebd., Ziff. 205-222.
(48) Es ist deshalb von großer Bedeutung, daß und wie die reformatorische Botschaft von der Rechtfertigung bei der Behandlung des Themas "Gerechtigkeit" auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag (Leipzig, Juni 1997) zur Sprache kommt.
(49) So J. Baur und das Göttinger Gutachten.
(50) Das Dokument LV spricht von einem "wahrhaften Beteiligtsein" des Menschen und von der "Anwort des Menschen", die allerdings durch das Wort der Verheißung selbst gewirkt ist. "’Mitwirkung’ kann es nur in dem Sinne geben, daß das Herz beim Glauben dabei ist, wenn das Wort es trifft und den Glauben schafft." (a.a.O., 53) Wieso ist es dann als bedenklich anzusehen, wenn die Antwort des Glaubens als eine Antwort "von Person zu Person" beschrieben wird (Überholte Verurteilungen...,41, J. Baur, a.a.O., 53 f.)? In diesem Zusammenhang wäre natürlich auch an das biblische, zumal das nichtpaulinische Zeugnis zu erinnern (Mk. 1, 15; Apg. 2, 37 f. etc.).
(51) Gegen das im Entwurf der Erneuerten Agende vorgelegte eucharistische Gesamtverständnis des Hl. Abendmahls hat sich mehrheitlich (leider) z. B. der Theologische Ausschuß der VELKD ausgesprochen.
(52) Dabei überwiegt in den südlichen und westlichen Bundesländern das katholische Element, in den nördlichen und östlichen Teilen Deutschlands die evangelische Tradition ­ soweit sie nicht dem radikalen Traditionsabbruch unter der SED-Herrschaft zum Opfer gefallen ist.
(53) Der Schematismus Schleiermachers (Der christliche Glaube, § 24), demzufolge im Katholizismus das Verhältnis des einzelnen zu Christus von seinem Verhältnis zur Kirche abhängig sei, während es im Protestantismus umgekehrt wäre, ist überprüfungsbedürftig.
(54) Vgl. dazu den noch in diesem Jahr erscheinenden Band des Ökumenisch-theologischen Arbeitskreises (in den neuen Bundesländern): Wege der Kirchen im Umbruch der Gesellschaft. Eine ökumenische Bilanz.
(55) Vgl. dazu die in o. Anm. 14 genannte Publikation mit weiteren Verweisen, z. B. auf K. Raiser und H. Küng.
(56) Dies wird angedeutet bei G. Hintzen: Konsens und Differenz im Kirchenverständnis, in: ÖR 46, 1997, bes. 67 f.