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Ausgabe:

Februar/1999

Spalte:

138–141

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Lüdemann, Gerd u. Martina Janßen

Titel/Untertitel:

Bibel der Häretiker. Die gnostischen Schriften aus Nag Hammadi. Eingel., übers. u. kommentiert.

Verlag:

Stuttgart: Radius 1997. 628 S. 8. Geb. DM 96,-. ISBN 3-87173-128-5.

Rezensent:

Hans-Gebhard Bethge

Nachdem es schon seit mehr als zwei Jahrzehnten eine englische Gesamtübersetzung der Texte des Handschriftenfundes von Nag Hammadi gibt (3. Auflage 1988), wird das Fehlen einer entsprechenden Publikation in deutscher Sprache immer wieder und immer mehr beklagt. Daß dies so ist, hat freilich auch bestimmte Ursachen. Zu ihnen gehört es, daß ein solches Vorhaben schwerlich von Einzelnen, sondern nur von einem Team geleistet werden kann, dessen Mitglieder die dafür erforderliche Kompetenz auch auf dem Gebiet der koptischen Linguistik haben sollten. Eine komplette Übersetzung braucht zudem eine solide Textbasis und ihre Erarbeitung braucht Zeit, wenn man sich einem bestimmten Qualitätsstandard verpflichtet weiß. - Dennoch ist es natürlich mehr als bedauerlich, daß eine verläßliche deutsche Gesamtübersetzung noch immer nicht vorliegt. Diesem Desiderat will nun der hier vorzustellende Band begegnen. Mit den Namen der beiden Bearbeiter steht die Nag-Hammadi-Forschung im Hinblick auf die konkrete Arbeit mit den Originaltexten freilich bislang nicht in einem Zusammenhang, so daß man das Buch mit einiger Neugier zur Hand nimmt.

Sein Titel und auch der Untertitel sind m. E. überaus unglücklich gewählt und zumindest mißverständlich, was wohl auch den Bearbeitern im Grunde bewußt ist (vgl. 11). Es ist zum einen aus verschiedenen hier nicht darzulegenden Gründen nicht möglich, die in den Codices von Nag Hammadi enthaltenen Schriften als eine Textsammlung etwa in dem Sinne anzusehen, daß hier das Selbstverständnis oder die Lehre einer besonderen Gruppierung zu erheben wäre. Zum anderen sind, wie auch in einigen Einleitungen mit Recht hervorgehoben wird, einige der Texte mit Sicherheit nicht gnostisch (z. B. ActPt, Askl, AuthLog, Eug, OgdEnn, Platon, Sextus, Silv), bei anderen ist es in der Forschung umstritten bzw. der Stellenwert gnostischer Weltanschauung ist nicht klar zu bestimmen (z. B. EvThom, ExAn oder LibThom).

Zu Beginn des Bandes erfährt man im Vorwort (7), daß es sich bei den hier publizierten Texten um ursprünglich wohl eher zur internen Nutzung geschaffene Arbeitsübersetzungen handelt, die eine unterschiedlich lange und sicher auch nicht immer in gleicher Weise intensive Bearbeitung erfahren haben, was seitens der Bearbeiter bewußt nicht ausgeglichen wurde. An nicht wenigen Stellen wird das, wohl nicht nur für Kenner der Texte, immer wieder spürbar. Daß dies im Interesse einer schnelleren Veröffentlichung in Kauf genommen wurde, ist m.E. bedauerlich, ja unverständlich, und es hat, wie u. a. an einigen Beispielen zu zeigen sein wird, auch Folgen, die vermeidbar gewesen wären.

Das den Texten vorangestellte Abkürzungsverzeichnis (8 f.) bietet statt der sich in der wissenschaftlichen Literatur eingebürgerten Abkürzungen (vgl. TRE XXIII, 732 f.) unverständlicherweise z. T. eigentümlich Neues und das auch noch in sich nicht stimmig (vgl. das Nebeneinander von "EpJk" [NHC I,2] oder "OgEn" [NHC VI,6] und "OT" [NHC II,5] oder "SchrNot" [NHC VI,7b]). In der Einführung in die Edition ist - und das ist zur Gesamteinschätzung wichtig bzw. erklärt vieles - zu lesen, daß den hier publizierten Texten die Editionen des Coptic Gnostic Library Project (veröffentlicht in den Serien NHS bzw. NHMS) zugrunde liegen. Andere ebenso wichtige wie gute, z. T. auch bessere Textausgaben werden nicht herangezogen, so - bis auf eine Ausnahme - die Bände der Bibliothèque Copte de Nag Hammadi (BCNH), bzw. finden nur z. T. Berücksichtigung, darunter Publikationen von Mitgliedern des Berliner Arbeitskreises für koptisch-gnostische Schriften, obwohl beide Projekte ausdrücklich gewürdigt werden.

Den Texten werden jeweils zumeist knappe Einleitungen vorangestellt, die Wesentliches zum Verständnis zur Sprache bringen, allerdings auch auf manch Wichtiges nicht eingehen können. Anmerkungen zu vielen Textstellen verweisen auf biblische sowie patristische und gnostische Textbelege, bringen gelegentlich Übersetzungsvarianten oder geben kurze Erklärungen. Die Darbietung der Texte selbst erfolgt entsprechend der Abfolge in den Nag-Hammadi-Codices, wobei die mehrfach überlieferten Schriften jeweils nur ein Mal geboten werden, z. T. - drucktechnisch ausdrücklich hervorgehoben - ergänzt aus Parallelversionen, im Falle von SJC aus dem Codex BG. Die Bearbeiter haben sich für Zwischenüberschriften entschieden, was dem Verständnis sicher zugute kommt. Gleiches darf für die stichische oder strophische Wiedergabe einiger entsprechender Passagen (u. a. bei StelSeth oder Protennoia) gelten.

Bei der Wiedergabe der Texte wird ein "Weg zwischen Treue zum koptischen Original und Allgemeinverständlichkeit" (7) angestrebt. Dies ist nun allerdings in höchst unterschiedlicher Weise gelungen. Neben Texten, bei denen sich kritische Bemerkungen oder Anfragen in den bei solchen Vorhaben üblichen Grenzen bewegen, gibt es eben auch solche, wo unverhältnismäßig viele Ungenauigkeiten oder Fehler zu konstatieren sind. Daß dies so ist, hängt ursächlich auch damit zusammen, daß sich die Bearbeiter sehr eng am Textverständnis der genannten englischsprachigen Editionen orientieren. Damit ist es übrigens gegeben, daß z. B. neue Versuche, etwa Lakunen zu füllen oder durch Emendationen zu einem anderen Textverständnis zu gelangen, wo es unausweichlich scheint oder durch alternative Abgrenzungen bzw. Zuordnungen von Textelementen zu anderen Lösungen zu kommen, nicht angestrebt bzw. berücksichtigt werden. Dies ist nicht prinzipiell zu monieren, sondern ganz einfach nur zu konstatieren. Gleichwohl kann man es bedauern. Nun haben die genannten Editionen ja durchaus - und das wirkt sich eben auch bei den hier gebotenen Texten aus - eine unterschiedliche Qualität, so daß es eigentlich, vor allem bei schwierigen (z. B. 2LogSeth) oder schlecht erhaltenen Schriften, nahegelegen hätte, auch andere Ausgaben heranzuziehen bzw. zu konsultieren. Doch dies geschah offenbar kaum. Die hier zu lesenden Texte sind daher leider an vielen Stellen nicht auf dem gegenwärtig möglichen und m. E. auch nötigen Stand der Koptologie bzw. des besten erreichbaren Textverständnisses.

Bedauerlicherweise sind eine nicht geringe Zahl an vermeidbaren Fehlern und Ungenauigkeiten festzustellen. So erfolgt, um es hier nur an dem bekanntesten Text zu zeigen, im EvThom die Setzung von Ergänzungs- oder Konjekturklammern des öfteren nicht korrekt oder fehlt ganz, eine Beobachtung, die auch für andere Texte zutrifft (z. B. EpPt [die Überschrift des entsprechenden Kapitels ist unvollständig]). Im Falle von 65,1 wird so überhaupt nicht ersichtlich, daß sich das "gütiger" einer bestimmten Lakunenfüllung verdankt. EvThom 61 und 64 werden unvollständig und in 69,2 die eindeutig finale Konjunktion kausal wiedergegeben. Die Tempora des koptischen Originals in EvThom 20; 55; 68; 101 finden sich im deutschen Text nicht wieder. Ähnliches läßt sich auch bei anderen Schriften feststellen, wo z. T. darüber hinaus nicht selten eine ziemlich freie bzw. nicht genaue Wiedergabe geboten wird, wie etwa der Schluß der ApcPt erkennen läßt. In EvThom 114,2 kommt es durch die Nichtbeachtung der 2. Person Singular fem. zu einem völlig anderen, jedenfalls nicht intendierten Sinn (vgl. u. a. auch HA p. 87,6 oder ApcPt p. 84,3 f.).

Der im koptischen Manuskript vorhandene Titel von NHC VI,2 wird nicht korrekt wiedergegeben und fehlt völlig am Beginn der ApcPt. Überhaupt wird an nicht wenigen Stellen manches übergangen bzw. ungenau oder nicht konsequent wiedergegeben (vgl. z. B. EpPt p. 139,9; 140,23 oder Melch p. 5). Häufig hat man den Eindruck bzw. zeigt es sich, daß die Anlehnung an die genannten Editionen so weit geht, daß der hier gebotene Text sich den englischen Übersetzungen und nicht immer dem koptischen Wortlaut verdankt, ja diesem nicht selten nicht (vgl. u. a. EpPt p. 135,8 f.), nicht genau (vgl. z. B. EpPt p. 134,8 f.) oder eben nur annäherungsweise entspricht (vgl. etwa EpPt p. 140,23). Bei einigen Texten wird das übernommene Textverständnis bis hin zur Wiedergabe des DE (vgl. EpPt nahezu durchgehend) oder der Interpunktion sichtbar (vgl. Teile von UW), vor allem aber entstehen durch dieses Verfahren solche Fehler, die bei einer durchgehenden Orientierung bzw. Überprüfung am Originaltext vermeidbar gewesen wären. Einige Stellen aus Dial zeigen dies deutlich, und auch bei anderen Schriften ist Vergleichbares festzustellen. Wo in der englischen Übersetzung von St. Emmel ein "you(r)" begegnet, findet sich im koptischen Text von p. 125,20; 137,7; 146,4 ganz eindeutig die zweite Person Singular (mask. oder fem.) und nicht Plural; p. 120,12.14; 133,14 muß jeweils mit "euch" und nicht mit "ihr" wiedergegeben werden. Die Wiedergabe des OUDE von EpPt p. 138,28 mit "nicht tut" entspricht ebenfalls der Übersetzung in NHS von M. Meyer.

Am Schluß des Bandes findet sich neben einem das Verständnis mancher Passagen sicher erleichternden knappen Glossar (617-623) noch ein Literaturverzeichnis, verstanden als "Auswahl", was an sich nicht zu kritisieren ist. Freilich ist es erstaunlich, daß so grundlegende Veröffentlichungen wie die Facsimile Edition (1972 ff.), nahezu alle Bände der Serie BCNH (1977 ff.), z. T. seit Jahren vorhandene deutsche Übersetzungen (z. B. von M. Krause, P. Nagel, K. Koschorke oder Mitgliedern des Berliner Arbeitskreises für koptisch-gnostische Schriften, u. a. in der Neubearbeitung der Neutestamentlichen Apokryphen [I6, 1990; II5, 1989] oder in Bänden der Reihe TU) nicht oder kaum einmal genannt werden, und auch ein Hinweis auf die von D. Scholer zusammengestellte Nag Hammadi Bibliography, 1970-1994, NHMS XXXII, 1997, fehlt. Neuere Literatur zum - um wiederum nur die bekannteste Schrift zu nennen - EvThom sucht man nahezu vergeblich. Und auch anderes Wichtiges ist nicht erwähnt. Das ist mehr als bedauerlich.

Dieser Band wird vielleicht - und das wäre ja an sich zu begrüßen - bei manchen Benutzerinnen und Benutzern das Interesse für die Nag-Hammadi-Schriften wecken oder fördern, doch kann man ihn zumindest nicht uneingeschränkt empfehlen. Da die Zielgruppe dieses Bandes sicher nicht unter den Spezialisten zu suchen ist, sondern wohl eher ein breiter Leserkreis angesprochen werden soll, wird man fragen dürfen, ob die intendierten Leserinnen und Leser nicht überfordert sind. Ein weiterführender Beitrag zur Forschung wird mit dem hier präsentierten deutschen Texten nicht geleistet. Eine wirklich solide, den neuesten Stand der Erforschung berücksichtigende bzw. repräsentierende und diese somit fördernde deutsche Gesamtübersetzung steht nach wie vor aus, doch es besteht Grund zu der Erwartung, daß dies sich in absehbarer Zeit ändern wird.