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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

961–963

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Schulz, Hans-Joachim

Titel/Untertitel:

Bekenntnis statt Dogma. Kriterien der Verbindlichkeit kirchlicher Lehre.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 1996. 421 S. 8° = Quaestiones Disputatae,163. Kart. DM 68,­. ISBN 3-451-02163-3.

Rezensent:

Rolf Becker

Der Vf. lehrt Ostkirchengeschichte und Ökumenische Theologie an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Würzburg. Er legt hier eine für alle am ökumenischen Dialog Beteiligten beachtenswerte Untersuchung vor, deren Desiderat das einer biblisch-liturgischen Kriteriologie und Hermeneutik der für die Ökumene verbindlichen apostolischen Überlieferung ist. Diese Kriteriologie wird nicht nur systematisch-analytisch auf der Basis hermeneutisch richtungsweisender Texte der katholischen Kirche, sondern auch im Durchgang durch die Brennpunkte der Konzilsgeschichte verwirklicht.

Zwei jüngere ökumenische Projekte verschaffen dem Anliegen dieser Untersuchung aktuell und beispielhaft Geltung: einmal der gegenwärtige Katholisch-Orthodoxe Dialog mit seiner Implikation einer sachgemäß unterschiedlichen Bewertung der altkirchlichen Ökumenischen Konzilien gegenüber den späteren abendländischen; zum anderen das Katholisch-Evangelische Projekt "Lehrverurteilungen ­ kirchentrennend?".

Allerdings reicht für den Vf. das Resumee dieses Projektes, daß manche der Lehrverurteilungen durch historische Veränderung der konfessionellen Positionen gegenstandslos geworden sind, für eine Aufarbeitung der hermeneutischen Problematik von Trient noch nicht aus. Denn insofern sich auch das katholische Kirchentum in Positionen gewandelt hat, die in Trient durch Anathemata geschützt wurden ­ wie dies z. B. durch die Liturgiereform des II. Vaticanums illustriert wird ­ ist damit zugleich eine generelle Neuinterpretation der Verbindlichkeit des Trienter Konzilsgeschehens vordringlich geworden und das Desiderat einer ganzheitlichen Hermeneutik der katholischen Überlieferung angesprochen.

Die in Trient fixierten Gegensätze waren in der späten nachtridentinischen Theologie und bis in die Jahre des II. Vaticanums hinein oft als dogmatische aufgrund der Anathem-Androhung der tridentinischen Kanones angesehen worden. Doch zeigt die Analyse der Konzilsakten von Trient, daß damals eine Anathem-Androhung nicht eo ipso die Leugnung einer "geoffenbarten Wahrheit" bzw. einer apostolisch-kirchenkonstitutiven Tradition betraf. Heutige Forschung kann freilich geltend machen, daß in Trient das Dogmenverständnis des I. Vaticanums, das von einer Anathem-Androhung auf eine lehramtlich eingeschärfte Offenbarungswahrheit schließen läßt, überhaupt noch nicht vorlag. Das griechische Wort "dógma" kennzeichnet in seiner in der griechischen Patristik vorkommenden Doppelbedeutung (dokeîn = scheinen; beschließen) einerseits die philosophische oder die häretische Lehrmeinung, und ist damit zunächst nicht geeignet, auf den Glauben der Kirche bzw. die Glaubensnorm bezogen zu werden. Andererseits wird das Wort auf Konzilsbeschlüsse nur angewandt unter deutlicher Einschränkung auf die disziplinär-rituellen Beschlüsse, da der Glaube der Kirche nicht Gegenstand voluntaristischer Beschlußfassung sein kann.

Bei Vinzenz von Lerin begegnet zuerst der Gedanke der Überwindung der "dógmata haereticorum" durch das "dógma catholicum". ­ Um im Geist der Aufklärung den Kreis freier Bewegung und Ansicht so weit als möglich ziehen zu können, reduziert dann erst der franziskanische Theologe Philipp Neri Chrismann in einer 1792 erschienenen Schrift, das verbindlich zu Glaubende auf das unter Anathem-Androhung Definierte. Glaubensgegenstand ist dabei nur noch eine formal und explizit geoffenbarte Wahrheit, die historischer oder philosophischer Erkenntnis nicht zugänglich ist. Die Bulle "Ineffabilis Deus", mit der Pius IX. am 8. Dezember 1854 das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis Mariens definiert, verwendet dann als erstes lehramtliches Glaubensdokument das Wort "dógma" in dem modernen durch Philipp Neri Chrismann gekennzeichneten Sinn: "autoritative Vorlage" einer "geoffenbarten Wahrheit".

Wenn das Konzil von Trient mit seinen Anathemata Grenzen der Kirchengemeinschaft markiert, von denen einige nach Auffassung der Konzilsväter durch die kirchenkonstitutive apostolische Überlieferung selbst vorgegeben waren, andere um der Kirchendisziplin willen einschärfungsbedürftig erschienen, so hat eine heutige überlieferungsgeschichtliche Hermeneutik die Aufgabe, den unterschiedlichen Stellenwert dieser Tradition deutlich herauszuarbeiten.

Die Aktualität und punktuelle Zuspitzung solcher Fragen der Überlieferungshermeneutik, wie sie im Katholisch-Orthodoxen Dialog und im gewandelten Verhältnis zwischen der Katholischen Kirche und den Kirchen der Reformation sich aufdrängen, muß man im Auge behalten, wenn im I. Teil der Arbeit eine biblisch-liturgische Kriteriologie der normativen apostolischen Überlieferung auf der Basis der hermeneutisch wichtigsten Texte des Ökumenismusdekrets und der Offenbarungskonstitution Dei Verbum entworfen wird.

Für den Vf. zielt die ",Hierarchie’ der Wahrheiten" (Ökumenismusdekret) nicht nur auf eine durchsichtigere Struktur in einem statischen und inhaltlich fixierten Gesamtgefüge "katholischer Dogmen". Nein, hier wird auch ein Selektionsprinzip benannt, das dazu berechtigt, traditionsgeschichtlich spät und partikulär ausgewiesene "dogmatische" Wahrheiten in ihrem Offenbarungscharakter von der apostolischen Überlieferung und deren Niederschlag in der Schrift und von der ältesten Liturgie her zu hinterfragen. Wenn ein solches "Unterfangen" teilweise über die quellenmäßig dokumentierte Aussageabsicht der Väter des II. Vatikanischen Konzils hinausgeht, so ist zu bedenken, daß deren eigentliche Intention nicht im Status quo der Erarbeitung und Verabschiedung des Textes eingefroren ist.

Der katholischen Universitätsexegese in Deutschland müßte es stärker als bisher ­ so meint der Vf. ­ gelingen, die in Dei Verbum eingeschärfte Beachtung der historischen Aussageabsicht der biblischen Schriftsteller und die gleichzeitig geforderte Berücksichtigung der kirchlichen Überlieferung bei der Auslegung der Schrift in der Weise zusammenzuführen, daß der vom frömmigkeitsgeschichtlichen Überlieferungskontinuum mit dem AT geprägte Traditionsstand des Hagiographen im urkirchlichen liturgisch orientierten Lebenskontext hinreichend in das Verständnis der Aussageabsicht des Hagiographen einbezogen wird.

Der II. Teil der Arbeit zeigt, wie moderat die altkirchlichen ökumenischen Konzilien ihre Lehrautorität einschätzten. Gerade für die grundlegenden Konzilien von Nicaea (325), Konstantinopel (381) und Ephesus (431) kann der Vf. nachweisen, daß sie nicht "Dogmen" (im späteren Sinn) "definieren" und nicht über den Glauben "entscheiden", sondern den apostolischen Glauben der Kirche bezeugen und vergegenwärtigen wollten. Sie bauen vor allem auf die Evidenz, mit der ihre "Darlegung" des Glaubens (der Ausdruck "ékthesis" wird zu dieser Zeit noch dem Wort "sy´mbolon" vorgezogen) das Schriftzeugnis und die liturgische Bekenntnistradition der Kirche in sich widerspiegelt. Die vier weiteren Ökumenischen Konzilien der Reichskirche folgen diesem Verständnis konziliarer Glaubensartikulation. Da, wo Traditionsverankerung geschieht (Nicaea II, 787), bleiben "apostolische" und "kirchliche" Überlieferung bei aller inhaltlichen Entsprechung genau unterscheidbar.

Die Verabsolutierung einer vereinseitigten abendländischen Tradition und Lehre gegenüber der auf den ökumenischen Konzilien der Alten Kirche manifesten ostwestlichen Gesamttradition und Konsensfindung steht im Mittelpunkt des III. Teils der Ar-beit. Weiterhin geht es in diesem Teil um eine hermeneutische Neubewertung des Geschehens und der Lehre der Konzilien von Florenz und Trient und des I. Vaticanums. Der Vf. beruft sich dabei auf Papst Paul VI., der 1974 mit der restriktiven Bewertung des II. Konzils von Lyon (1274) als "6. Generalsynode" des Abendlandes ein grundsätzliches Zeichen zur Aufarbeitung der abendländischen Konzilsgeschichte gesetzt hat (betroffen sind in diesem Zusammenhang ohnehin die fünf Lateransynoden und die Konzilien von Lyon I, 1245; und Vienne, 1311).

Da die altkirchlich-ökumenischen Konzilien nur das apostolische Kerygma vergegenwärtigen, nicht aber eine selbsttragende Grundlage des Glaubens sein wollen, kann ihre Christologie und Trinitätslehre heute nicht mehr als absoluter Maßstab des Schriftverständnisses der Kirche figurieren. Die von Dei Verbum geforderte Beachtung der historischen Aussageabsicht der ntl. Schriftsteller läßt heute die atl. Vorprägung christologischer Schlüsselbegriffe wie "Sohn Gottes" und "Zeugung" (als Ausdruck der Erwählung durch Gott) in den Blick kommen, die im NT überhöht, aber keineswegs aufgegeben wird. "Trinitarische" Strukturen neutestamentlicher Glaubensartikulationen erweisen sich vor allem als Strukturen der Deutung, die dem Heilshandeln Gottes durch Jesus Christus im Heiligen Geist entsprechen, das in Taufe und Herrenmahl als geistgewirkte Partizipation des Christusmysteriums erfahren wird (Teil IV, B) .

Da im Lichte heutiger Forschung die ad-hoc formulierten Aussagen der konziliaren Christologie und Trinitätslehre als äußerst zeitbedingte (Teil IV, A) in ihrer antihäretisch-kontradiktorischen Struktur wahrnehmbar werden und ihre sekundäre Absicherungsfunktion erkennbar wird, "faszinieren" um so mehr die christlichen Glaubensinhalte in den schon urgemeindlich vorgeprägten zentralen Zeichen, Symbolen und Bildern der Liturgie, d. h. die frühchristlichen Taufbekenntnisse (Teil IV, B) und die frühchristlichen und altkirchlichen Eucharistischen Hochgebete des Ostens ­ für den Vf. bes. die Anaphoren des Hippolyt und des Basilius v. Caesarea (Teil V, A).