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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

958 f

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Kasack, Wolfgang [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirchen und Gläubige im postsowjetischen Osteuropa.

Verlag:

München: Sagner i. Komm. 1996. 234 S. 8° = Arbeiten und Texte zur Slavistik , 63. Kart. DM 42,­. ISBN 3-87690-601-6.

Rezensent:

Erich Bryner

In diesem Band sind die Referate abgedruckt, die an der Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde im November 1995 in Bonn gehalten wurden. Das Symposion war der Analyse der Veränderungen gewidmet, welche die Politik von Glasnost’ und Perestrojka in der Sowjetunion, die Wende in Osteuropa von 1989/90 und das Ende der Sowjetunion (1991) den dortigen Kirchen brachten.

Der Schwerpunkt gilt Rußland. Nikolai Artemoff, München, Priester der Deutschen Diözese der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland, unterscheidet drei Teile der Russischen Orthodoxen Kirche: das Moskauer Patriarchat, die Auslandskirche und die Katakombenkirche in Rußland. Dem Moskauer Patriarchat wirft der Vf. vor, daß es die eigene Geschichte in der Sowjetzeit nicht aufgearbeitet habe, daß es sich noch immer nicht von der Loyalitätspolitik des Patriarchatsverwesers Sergij Stragorodskij dem Sowjetregime gegenüber distanziert habe, daß es einen Ausschließlichkeitsanspruch in Rußland vertrete und eine fragwürdige Außenpolitik ("Ökumenismus") betreibe. Die Russische Auslandskirche gründe nicht eigene Gemeinden in Rußland, um parallele Strukturen aufzubauen, sondern lediglich aus einer drängenden pastoralen Problematik heraus.

Mark (Arndt), Erzbischof der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland mit Sitz in Berlin, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Geistlichkeit, kritisiert die leitenden Persönlichkeiten des Moskauer Patriarchates wegen der "Unentschlossenheit" und "zweideutigen Ungenauigkeit" ihrer offiziellen Äußerungen und sieht im Aufbau eines neuen Vertrauensverhältnisses zwischen Geistlichen und Laien die wichtigste Aufgabe der Zukunft. Dr. Gerd Stricker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut "Glaube in der 2. Welt" in Zollikon bei Zürich, gibt in seinem Beitrag "Katakombenkirche im Sowjetstaat eine Legende?" eine Übersicht darüber, was die heutige Forschung über die orthodoxen Untergrundkirchen weiß, und arbeitet heraus, dab es in der Situation extremster Verfolgungen der orthodoxen Kirche im Sowjetstaat seit 1926 nicht eine bestimmte Untergrundkirche gegeben habe, sondern eine "Vielzahl von nebeneinander existierenden und z. T. miteinander konkurrierenden orthodoxen Gruppen im Untergrund" (195). Viel geistliches Leben in der Sowjetzeit spielte sich in der Illegalität ab. Die Fülle von Einzelnachrichten führte jedoch dazu, daß Legenden zu wuchern begannen. Eigenartigerweise gibt es den kirchlichen Untergrund auch heute noch; es sind Gruppen, die das Moskauer Patriarchat ablehnen.

Der Slavist Wolfgang Kasack, Köln, Organisator der Tagung, analysiert in seinem Beitrag "Der Christ in der Diktatur und in der Freiheit" christliches Glauben und Bekennen in der Sowjetzeit und dem heutigen Rußland und zieht Erfahrungen aus Deutschland zum Vergleich heran. Seine Beobachtungen stützt er auf seine umfangreiche Kenntnis der schönen Literatur des einstigen sowjetischen und heutigen postsowjetischen Rußland. Mit dem Phänomen des "homo sovieticus" und den Erblasten einer 70jährigen ideologischen Verformung des Menschen setzt sich der Politikwissenschaftler Paul Roth, München, auseinander. Georg Kretschmar, Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche in St. Petersburg, berichtet authentisch über die gegenwärtige Situation seiner Kirche. Hans-Dieter Döpmann gibt einen Überblick über die griechisch-katholischen (unierten) Kirchen auf dem Gebiet der einstigen Sowjetunion bis hin zum "Uniatismus"-Dokument von Balamand (1993) und der päpstlichen Enzyklika "Ut unum sint" (1995).

Mit der Situation der römisch-katholischen Kirche in Ungarn beschäftigt sich der Bonner Kirchenhistoriker Gabriel Adrianyi. Über die Lage der Kirchen in Bulgarien berichtet die Bulgaristin Rumjana Pawlowa, Sofia und Köln. Der evangelische Theologe Gerhard Sauter, Bonn, umreißt die theologischen Aufgaben der Kirche Polens und Pfarrer Werner Nicklaus aus dem ostdeutschen Lehnin reflektiert die Möglichkeiten und Schwierigkeiten christlicher Existenz in einem diktatorischen und einem freiheitlich-demokratischen Gesellschaftssystem.

Nach Eckehart Lorenz, Pfarrer in Heidelberg und einst Referent für gesellschaftspolitische Fragen des Lutherischen Weltbundes in Genf, wußte man in Genf vor der Wende sehr viel über die Kirchenverfolgung in den Ländern des Sowjetkommunismus; manche Vertreter halten bis zum heutigen Tag nostalgisch an "sozialistischen Visionen" fest. Auf die Frage "Haben die Kirchen den Neuaufbau im Osten bewältigt?" gibt der Gießener Ostkirchenspezialist Rudolf Grulich eine differenzierte Antwort: Der Neubeginn 1990 habe darunter gelitten, daß zahlreiche Kirchenführer überfordert, zahlreiche Gemeinden sehr klein gewesen seien, an Spiritualität, Buße und Aufarbeitung der Vergangenheit habe es oft gefehlt, Wille zur Restauration, Sorge um das Materielle, und oft auch eine Verbindung mit Nationalismen seien markante Schattenseiten einer an sich erfreulichen Entwicklung.

Insgesamt liegt ein Band von inhaltlich reichen, fachlich kompetenten Analysen des aktuellen Problemkreises vor. Merkwürdigerweise sind die Beiträge nicht nach inhaltlichen Gesichtspunkten, sondern in der alphabetischen Reihenfolge der Verfassernamen angeordnet.