Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

956 f

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Gazer, Hacik Rafi

Titel/Untertitel:

Die Reformbestrebungen in der Armenisch-Apostolischen Kirche im ausgehenden 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. XI, 231 S. gr.8° = Kirche im Osten, 24. Kart. DM 78,­. ISBN 3-525-56442-2.

Rezensent:

Friedrich Heyer

Hac.ik Gazer schrieb ein Buch über die weithin unbekannte Geschichte der Apostolischen Kirche Armeniens von 1874, dem Eröffnungsdatum der Georgean Akademie am Sitz des Katholikats in Ejmiacin, bis 1937, dem Datum der Vernichtung aller kirchlichen Institutionen in der Sowjetunion durch die Ezevscina, die auch die armenische Kirche traf und das Jerusalemer Patriarchat zum theologischen Führungszentrum aufsteigen ließ. Kerngeschehen ist in dieser Periode eine Reformbewegung, die nicht ihre Kraft gewonnen hätte, wenn nicht junge Armenier als Stipendiaten an protestantischen Fakultäten Deutschlands, insbesondere in Leipzig, Berlin und Marburg, bei den Meistern des liberalen Protestantismus, Adolf von Harnack und Martin Rade, studiert hätten. Die "Freunde der Christlichen Welt" ­ Rade, Paul Rohrbach und Ewald Stier ­ verschafften mit dem "Notwendigen Liebeswerk" die Stipendien.

Der Vf. legt die Studiengänge der drei jungen armenischen Theologen Karapet Mkrtcean, Garegin Yovsep’ean, Ervand Minasean und die Reformimpulse, die sie als Rückkehrer und nun als Dozenten an der Georgean Akademie auslösten, dar. Die Reformprogramme zeigen ein breites Spektrum. Da gilt es, den Rückstand in der modernen Wissenschaftskultur aufzuholen. Karapet bringt in seiner Vita, die er im Rahmen seiner Leipziger Dissertation niederschreiben mußte, sein "Achtung vor deutscher Wissenschaft" zum Ausdruck. "Ich werde mich bemühen, mit gleicher Treue und redlichem Fleiß dem Ideal echter Wissenschaft nachzugehen".

Karapet hatte sich 1899 für eine Reform der Ausbildung der armenischen Geistlichen einzusetzen. Den besser gebildeten Priestern dürften jedoch keine Privilegien zugesprochen werden. Selbstlosigkeit und Selbstaufopferung müßten durch Erziehung und Ausbildung geweckt werden.

Malak’ia Ormanean, der 1888 nach einem glanzvollen Jahr die Georgean Akademie von Ejmiacin hatte verlassen müssen, half, nach Konstantinopel zurückgekehrt, bei der Gründung einer Akademie im Kloster Armas in Nikomedia nach dem Vorbild von Ejmiacin. Das neue Bildungsinstitut widmete sich zunächst nur dem zölibatär lebenden Klerus. Seit Mai 1892 erschien unter dem Namen "Masik" eine anspruchsvolle Zeitschrift. Am 18. Juni 1895 wurden die ersten Abelas geweiht. Es waren die Schüler dieser Akademie, die die Reformidee weitertrugen.

Ein weiteres Thema, zu dem über Jahrzehnte hinweg Reformbemühungen liefen, war die Forderung nach Reinigung der Riten. Fremde Einflüsse sollten beseitigt werden, überflüssige Teile gekürzt. Hier war es Ter Minasean, der die urchristliche Einfachheit oder eine Gestaltung wie im armenischen 5. Jh. forderte. Eine Übersetzung der Heiligen Schrift, die bisher im Gottesdienst in der altarmenischen Sprache zur Lesung gekommen war, sollte in Neuarmenisch herausgegeben werden. Statt "im Geist und in der Wahrheit" anzubeten, würden in der armenischen Kirche äußere Zeichen und sinnlose Formen praktiziert.

Per Minasean sah das armenische Volk zu Beginn des 20. Jh.s dem Aberglauben oder dem Unglauben verfallen. Die Entstehungsgründe der Kirchenkrise erfaßte er, dem deutschen Philosophen Rudolph Eucken folgend, in dem Widerspruch zwischen dem "Alten, Ursprünglichen" und dem hervorkommenden "Neuen, Gegenwärtigen". Nach Eucken gibt es ja im gesamten Verlauf der Geschichte stets eine (zeitgemäß sich wandelnde) "unmittelbare Gegenwart der ewigen Wahrheit".

Einen zweiten Grund für die Kirchenkrise sah Per Minasean im falschen Verständnis der Kleriker von ihrem geistlichen Amt, als ob sie eine besondere Schicht zur Vermittlung zwischen Gott und Mensch wären und als ob der einfache Laie nicht von sich aus mit Gott in Verbindung treten könnte. Das war gewiß keine orthodoxe Deutung. So konnte die Formierung einer Antireformpartei nicht ausbleiben. Der Vorsteher des Hl. Sinods, 1911 zum Katholikos gewählt, Georg Suranean, hielt sich offiziell den Kirchenparteien gegenüber neutral. Faktisch aber stand er auf Seiten der "Drusiner", die grundsätzlich gegen alle Reformen eingestellt, seit Juli 1909 alle wichtigen Ämter besetzt hielten. Der Gegensatz der Parteien hatte sich so verschärft, daß die gemeinsamen Mahlzeiten aufgegeben werden mußten.

Ein immer wieder aufgegriffenes Reformthema war auch das Verlangen nach einer kirchlichen Organisationserneuerung. Als Rußlands "provisorische Regierung" den seit 1836 aufgezwungenen Poloz˜enie aufhob, tagten 67 armenische Geistliche seit Juli 1917, um ein Konzil vorzubereiten. Vorschläge für dies Konzil, das nie zustande kam, wurden ausgearbeitet. Katholikos Georg V. erließ nun selbst die nötigen Anordnungen.

Quer durch die vier unterschiedlichen armenischen Jurisdik-tionsgebiete wirkte der Zögling von Armas, Babgen Kiuleserean. Dieser wechselte von Antelias nach Jerusalem und war ein Jahrzehnt, von 1914 bis 1924, als Bischof in den USA tätig. Dadurch erklärt sich auch, daß er wie kein anderer sich mit den religiösen Reformideen der amerikanischen kongregationalistischen Armenienmissionare auseinandersetzte. Eine neue Predigtkultur erhob er zum Programm. G. hat sein Thema strikt begrenzt. Er versagt sich jeden Seitenblick auf die Reformentwürfe in der russischen Orthodoxie, die seit 1905 unter Graf Witte erarbeitet wurden. Er vergleicht die Reformideen der mit dem Kommunismus konformen Azat Yekelici nicht mit den Programmforderungen der russischen Obnovlency, obwohl die armenische Kirchenbewegung doch nur ein Ableger der russischen ist.

Die geglückte Studie G.s über die armenischen Reformbewegungen läßt hoffen, daß dem Autor noch künftige Arbeiten über die kirchlichen Entwicklungen im modernen Armeniertum gelingen. Dem Autor ist ein eigener Reformdrang anzuspüren.