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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

950–952

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Maurer, Ernstpeter

Titel/Untertitel:

Der Mensch im Geist. Untersuchungen zur Anthropologie bei Hegel und Luther.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1996. 316 S. gr.8° = Beiträge zur evangelischen Theologie, 116. Pp. DM 168,­. ISBN 3-579-01868-X.

Rezensent:

Christofer Frey

Mit einer anspruchsvoll geschriebenen Untersuchung hat sich der jetzt in Dortmund lehrende Vf. in Bonn habilitiert. Seine Arbeit benutzt Teile der "Phänomenologie des Geistes" als Entdeckungszusammenhang für Probleme des Selbst- und Gegenstandsbewußtseins, um in Luthers Auslegung von Röm 7 und 8 einen theologischen Begründungszusammenhang zu finden. (Diese von H. Reichenbach stammende Unterscheidung wird von G. Sauter und seinen Schülern gern aufgenommen, vgl. Maurer, 31, 305).

Maurers Anliegen betrifft die Reflexion ­ nicht als Modus der kantischen "Urteilskraft", sondern als vergeblichen Versuch der Selbstkonstitution des Selbstbewußtseins. Dieses Thema hat seit den 50er Jahren v. a. der Tübinger Philosoph W. Schulz bearbeitet ("Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik", 1957), um die Metaphysik zu verabschieden; affirmativ wurde es hingegen von F. Cramer und, ihm nachgehend, von F. Wagner, bearbeitet, um die allgemeine Vernunft mit dem einzelnen und dem anderen zu vermitteln. Maurer versucht einen dritten Weg zu gehen: Die Aporien des Versuchs des Selbstbewußtseins, sich durch Reflexion selbst zu konstituieren, verweisen auf ein externum, das in Gottes Offenbarung gesetzt wird (claritas externa ­ 283). Der Vf. entwirft damit eine negative Theologie der Existenz, die nicht von sich aus eine positive Theologie aufschließt.

Die überaus dichte und sprachlich verschachtelte (z. B. deutsche und lateinische Begriffe vermischende) Abhandlung analysiert teils nach-, teils nebeneinander vor allem die ersten und letzten Abschnitte der "Phänomenologie des Geistes" sowie Luthers Auslegung von Röm 7 und 8 (Römerbriefvorlesung, Wider Latomus und einzelne Abschnitte aus "De servo arbitrio").

Eine Einleitung will eine doppelte Dialektik bei Hegel festhalten. Eine zerstörerische Selbstbegründung der Vernunft und eine selbstvergessene Zuwendung zum Gegenstand (27, 29, 40 ff., ferner 236 ff., 270). Damit zeigt der Vf. eine eher fragwürdige Auswahl an: Von den durch Hegel in der "Phänomenologie" verarbeiteten Themen aller drei Kritiken Kants fallen die Bereiche der (sich konstituierenden) praktischen Vernunft und der Urteilskraft meist aus (Ausnahmen etwa: 83, 87). Die Bedeutung der Ästhetik für das romantische, das unglückliche Bewußtsein tritt zurück. Auch wird nicht festgehalten, daß Hegel im "einzelnen" das Allgemeine mit dem Besonderen vermittelt findet. (Die "Wissenschaft der Logik" wäre häufiger heranzuziehen gewesen.)

Die eigentliche Abhandlung (34 ff.) beginnt mit dem Teil "Reflexion als philosophisches und theologisches Problem". Ein erstes Kapitel befaßt sich mit dem "Gegenstands- und Selbstbewußtsein in Hegels ’Phänomenologie des Geistes’" (39 ff.). Es bewegt sich durch Kants Themen der Anschauung und des Begriffs (51), um mit "Herr und Knecht" (71) ein Thema praktischer Vernunft aufzunehmen. Ziel ist eine spezifische Hegel-Lektüre: Hier vollendet sich nicht ein System im Begriff, sondern öffnet sich die in sich zurückkehrende Bewegung des Selbstbewußtseins zur Erfahrung (90 ­ ferner: 59, 90, 255). Aber die "Versöhnung" (89 f.) wird nicht Gegenwart, sondern endet im "unglücklichen", ja im "zerrissene(n) Bewußtsein" (106, 233). Der Vf. blendet also die geschichtlich orientierten Passagen der "Phänomenologie des Geistes" zugunsten einer eher geschichts- und gesellschaftsvergessenen Anthropologie des Selbstbewußtseins aus.

Das "Problem der Reflexion in Luthers Auslegung von Röm 7" (110 ff.) zielt auf die antiaristotelische Existenzdialektik in den theologisch-anthropologischen "Aspekten" des Fleisches und des Geistes in der einen Person des Menschen (129 f.). Die Reflexion des alten bzw. neuen Menschen endet nicht in aristotelisch konzipierter Habitualität, sondern in "Kongruenzen", also Entsprechungen (135 ff.), wobei wohl vorauszusetzen ist, daß die "Kongruenz von Kongruenzen" dialektisch bleibt, der Mensch ­ ganz "Fleisch" (128 ff., 148) ­ wird ganz "Geist" (35 ff., 91, 129 ff., 148, 191, 233 ff.) und bleibt doch im Widerspruch ("personaler Diskontinuität", 143). Dieser Mensch kann sich als "Geist" nicht einfach und auch nicht vollständig selbst finden oder einholen; seine Identität bleibt mit dem Gegensatz verspannt (148). Weil der Vf. in diesem Punkt Hegel und Luther nur durch Akzente unterschieden sieht (149), bleibt er beim "unglücklichen Bewußtsein" stehen (152) und nimmt Hegels Überzeugung von der positiven Kraft der Negation, die das Subjekt Substanz werden läßt, nicht als philosophisch-theologisches Gegenprogramm wahr.

Der Lutherschen Auslegung von Röm 8 widmet sich das erste Kapitel eines zweiten größeren Teils ("Theologische und philosophische Dialektik im Lebensvollzug", 159 ff.).

Im Grunde müßte der Vf. die Konfrontation mit Hegel nun fortsetzen und die absolute Idee (Wissenschaft der Logik) bzw. das absolute Wissen (Phänomenologie des Geistes) untersuchen, die in schwer zu durchschauender Weise in absoluter Freiheit das Sein aus sich entläßt. Der Vf. konzentriert sich jedoch auf Luther und untersucht die "Begegnung mit dem Schöpfer und den Geschöpfen" (159 ff.). Aus der "mortificatio" geht eine neue Ontologie hervor (189), die sowohl die einzelne geschöpfliche Wirklichkeit begegnen läßt (193) als auch die Personmitte durch den Geist ersetzt (191). Diese Ontologie allerdings ist gebrochen (23, sie muß nicht aristotelisch sein ­ 136, sie kann niemals homogen werden ­ 277). Daraus folgt für die Anthropologie, daß die Affekte in die Mitte rücken (201 ff., ferner 171, 179 ff.) und den Menschen "exzentrisch" bestimmen (201 ff.), für das Thema der Freiheit, daß der gebundene Wille nicht mechanisch, sondern in seiner eigenen inneren Konsequenz festgelegt wird (290).

Der Vf. holt den Dialog mit Hegel nach, beschränkt ihn aber auf das "absolute Wissen" (211 ff., 242). Damit verliert der größte Teil der Phänomenologie des Geistes die Beachtung. Auf dem Weg dahin verschwinden entweder Subjekt oder Substanz ineinander (213) (die Phänomenologie wendet sich dem Schädelknochen zu statt dem Gehirn ­ 217 ff.).

Durch den Gang nach innen bis zum Gewissen (233) und nach außen ins unmittelbare Verhältnis zum Gegenstand (239) gewinnt der Vf. nicht explizierte Bezüge zur modernen Sprach- und Religionsphilosophie, zu deren Gegenstands- und Offenbarungsverständnis (239). Durch das philosophische Thema der Versöhnung hindurch sucht der Vf. Analogien zu Luthers Aussagen der Übertragung der Sünde auf Christus (248); ob jedoch von einer "Kongruenz" von Sünde und Versöhnung (248, 261ff.) die Rede sein sollte, wäre zu fragen. Überhaupt entfaltet der Begriff der "Kongruenz" (z.B. 58, 136, 138, 143 ff., 203, 248 ff., 254, 277 f., 293, 307) Qualitäten eines Jokers; beispielsweise ermöglicht er es, auf Seiten Hegels göttliche Selbstoffenbarung und dialogische Selbstgewißheit (245) und ihre Entäußerung in Raum und Zeit mit der leiblichen Gegenwart Christi im Abendmahl auf Seiten Luthers zu analogisieren (254). Die communicatio idiomatum wird zur ontologischen Kategorie (17, 163 passim)!

Auf dieser Grundlage entfaltet der Vf. sprachphilosophische Gedanken (Näherbestimmung der Metapher, z. B. 263 ff., 271, 280), Ansätze zu einem Entwurf ontologischer Relativität (277ff.), einen Versuch der Neudefinition der Anschauungsformen von Raum und Zeit (279 ff.) sowie Bestimmungen der Verborgenheit Gottes (mit Hinsicht auf Luthers "De servo arbitrio") (286 ff.). Auch hier dominiert die Kongruenz ­ jeweils von göttlichem und menschlichem Willen ­ in Verborgenheit und Befreiung und damit inkommensurabel (293).

Die Interpretation Luthers kann an bewährte Interpretationen anschließen (z. B. Nilsson, Iwand ­ 160 ff. ­ oder Jüngel ­ 287ff.). Schwieriger hingegen steht es mit der Interpretation Hegels: Der Vf. hat den geschichtlich-teleologischen Zug der Phänomenologie des Geistes vernachlässigt und stattdessen eine Art Existenzdialektik anhand einiger ihrer Passagen entfaltet. Gerade im Blick auf die Kategorien wäre ein beständig kontrollierender Blick auf die "Wissenschaft der Logik" notwendig gewesen. Nicht nur sprachlich schwierig, sondern ein Indiz ist der vielfach verwendete Begriff der "Schleife" (u.a. 42, 44, 53, 81, 91, 157, 208), mit dessen Hilfe die Selbsteinholung der Subjektivität (oder deren Mißglücken) entfaltet und die Notwendigkeit eines externen Anstoßes zur Selbstfindung (im geistlichen Menschen) demonstriert werden soll. Die Subjektivitätstheoretiker unter den gegenwärtigen protestantischen Theologen werden sich damit nicht zufriedengeben. Schwieriger aber gestaltet sich der Vergleich Hegels mit Luther in der Frage der Geschichte (des Geistes), die erst die Subjektivität hervortreibt: Sie hat nach Hegel ihr Telos (in der absoluten Idee bzw. im umfassenden Begriff) in sich und ist sich selbst die Theodizee, während sie nach Luther ihre Rätsel bis zum "lumen gloriae" offenhält (WA 18, 785). Dann wird die Gegenwart Gottes nicht nur in einer einzelnen Wirklichkeit (306), sondern in einer endlichen erfahren; die Kreuzestheologie (Gott setzt sich selbst mit dem Tod auseinander) müßte zum Schlüssel der Erörterung Luthers werden.