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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

949 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Dirscherl, Erwin

Titel/Untertitel:

Die Bedeutung der Nähe Gottes. Ein Gespräch mit Karl Rahner und Emmanul Levinas.

Verlag:

Würzburg: Echter 1996. 535 S. gr.8° = Bonner dogmatische Studien, 22. Kart. DM 56,­. ISBN 3-429-01825-0.

Rezensent:

Horst Georg Pöhlmann

Der Vf. stellt zwei weltoffene theologische und religionsphilosophische Systeme gegenüber, die in gleicher Weise in Gott die Mitte der Welt, keine Hinterwelt und Überwelt, sehen und beide von der Urerfahrung herkommen: Man kann nicht die Welt aussperren, ohne sich selbst einzusperren. Obschon beide Denker Theologie als Anthropologie verstehen, weichen sie doch im Entscheidenden voneinander ab, eine Provokation für den Vf., Stellung zu beziehen. Mit einer fast fotographischen Präzision werden die Positionen der beiden Denker nachgezeichnet und verglichen. Das geschieht in einem hohen Abstraktionsgrad, so daß einem manchmal fast angst wird vor den philosophischen Steilwänden. Was will Rahner, was will Levinas, was will der Vf., der durch sie zu einem eigenprofilierten Konzept stimuliert wird?

Beide, der römisch-katholische Theologe Rahner und der jüdische Philosoph Levinas, deuten "Offenbarung Gottes" als "Nähe" Gottes (12). Rahner umschreibt diese Nähe Gottes als seine "Selbstmitteilung" ­ ganz im Gegensatz zur Neuscholastik, die sie als Sachmitteilung und gratia creata et infusa verstehen konnte (13). Gott gibt nicht etwas, sondern sich selbst, favor und donum sind nicht getrennt wie in der Neuscholastik, sondern die Gabe ist der Geber, ähnlich wie in der reformatorischen Theologie. Dabei erfährt der "Personbegriff" bei Gott eine revolutionäre Umdeutung, wenn er nicht nur, wie in der scholastischen Theologie, als "Selbstand und Relationalität", sondern als "Selbstweggabe", somit "Selbstmitteilung an den Anderen" in "Liebe " begriffen wird (135), indem "der Vater im Sagen des Wortes sich wegschenkt an das Andere seiner selbst im Wort und im Hl. Geist" (138). Gleichwohl ist diese Selbstmitteilung Gottes, in der seine Nähe erfahren wird, bei Rahner eine "Seinsmitteilung", also etwas Ontologisches (484). Ganz anders versteht Levinas diese Selbstweggabe Gottes, nicht ontologisch als Seinsfülle, von der man einen Teil abgibt, sondern ganz unontologisch als Selbstaufgabe Gottes, der nichts ist und hat und leer wird. Der ganz Andere wird nach Levinas nur erfahrbar im "anderen Menschen", die Nähe Gottes wird nur erfahrbar im "fremden und... nackten, mittellosen und nicht begehrenswerten Menschen" und in seinem "Antlitz, das mich fordert" und mich als Geisel nimmt (415).

Anders Rahner, wo das zwei getrennte Vorgänge sind: die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten (452). Während Rahner in seinem Geschichtsoptimismus über die Geschichtskatastrophen hinwegsieht, weil sich die Welt irreversibel auf ihre Vollendung der absoluten Zukunft zuentwickelt und Auschwitz diesen göttlichen Fahrplan nicht unterbrechen konnte, sind in Levinas Denken "die Spuren der conditio iudaica" und "der Opfer der Shoah eingeschrieben" (361 f.). Das Jenseits ist nicht der Horizont der Hoffnung und die absolut schöne, wahre und gute Zukunft, auf die sich alles hinentwickelt, sondern das Jenseits ist der Andere und nur er. Gott stört geradezu die mystische Unmittelbarkeit des Menschen zu ihm, indem er in unser Leben als Störenfried einfällt «face à face» im leidenden Anderen (397, 415). Bevor ich überhaupt Zeit habe, über das Unendliche nachzudenken, remple ich ans Unendliche an, wenn sich mir ein leidender Mensch in den Weg stellt und mich nicht weitergehen läßt. "Die Sehnsucht nach dem Guten ist" nach Levinas "ein Luxus". Sie "geschieht als Heimsuchung durch das Antlitz des Anderen" (431). So wird "der Leib" ­ nicht "das Bewußtsein" ­ zum "Organ der Transzendenz", die "Sinnlichkeit" zum "Ort des Empfangs von Sinn" (416). Gott "kommt" mir nicht "in einem einzigen Menschen auf unmittelbare Weise nahe" wie in der christlichen Menschwerdung Gottes, sondern in jedem armen Menschen (482). "Der Messias ist der Mensch, der leidet", nicht nur einer (483). "Kann die Herausforderung durch Levinas nicht bedeuten, sich neu einer kenotischen Christologie zuzuwenden, die... von der Gnade und Güte so zu sprechen erlaubt, daß die Opfer nicht überspielt werden" (486)? Kann man, so der Vf. weiter ­ wie Rahner "von der Relation des Subjekts zu Gott sprechen, ohne ­ wie bei Levinas ­ im selben Atemzug von dem Nächsten zu sprechen... Die Geradheit des Bezugs von Ich und Gott wird" bei Rahner "nicht durch den Anderen gestört". Erst "nachträglich" kommt er bei ihm vor. Der Vf. fragt zu Recht, ob hier noch "Nächstenliebe und Gottesliebe" ganz radikal eine "Einheit" sind (452)? "Der andere" ist "Gott und der Nächste" "zugleich". Beide "befallen das Subjekt von außen, im Antlitz des Anderen, wie von innen im Gewissen" in der "Geiselschaft für den Anderen" (486).

Die Konzeption des Vf.s ist überzeugend. Er riskiert als katholischer Theologe viel, weil er sich ins Neue, Ungebahnte vorwagt und vorgepflasterte Wege verläßt. Gottesliebe und Nächstenliebe sind im NT in der Tat identisch, wie nicht nur die Weltgerichtsrede Mt 25,31 ff., sondern auch die Zuordnung der Gebote der Gottesliebe und Nächstenliebe in Mt 22,39 zeigt, wenn es hier vom letzteren Gebot heißt: "das andere ist ihm gleich". Der Vf. hätte sich aber auch auf den 1Joh-Brief berufen können, wo nicht nur gesagt wird: Wo Gott ist, ist die Liebe, sondern ständig der Umkehrschluß gemacht wird: Wo Liebe ist, ist Gott. (1Joh 4,7 f.12.16). Es bleiben sicher manche Fragen an Levinas offen: Warum soll Gott nur im Unglück des Anderen begegnen, warum nicht auch im Glück des Anderen? Wenn Gott nur im Mitmenschen begegnet, was dann, wenn der Mitmensch ausfällt? Fällt dann auch Gott aus? Braucht Gott wirklich den Mitmenschen, um uns zu begegnen?

Der Vf. hat das Verdienst, einen erfahrungstheologischen Entwurf gewagt zu haben, der Gott wirklich im Alltag verortet. Religion ist nicht nur ein Streuzucker und Sahnehäubchen, sondern das Mehl, das Ei und die Butter des Kuchens.