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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

947 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Axt-Piscalar, Christine

Titel/Untertitel:

Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1996. VII, 318 S. gr.8° = Beiträge zur historischen Theologie, 94. Lw. DM 128,­. ISBN 3-16-146373-0.

Rezensent:

Joachim Zehner

Die von der Münchner Evangelisch-Theologischen Fakultät im Sommersemester 1993 angenommene und für die Drucklegung geringfügig veränderte Habilitationsschrift setzt sich zum Ziel, die traditionelle Erbsündenlehre in ihren Anliegen unter neuzeitlichen Bedingungen durch einen Rückgriff auf zentrale Einsichten Schleiermachers und Kierkegaards und in Abgrenzung zur Hamartiologie Müllers zu reformulieren. Der Titel "Ohnmächtige Freiheit" (in Anlehnung an eine Formulierung Schleiermachers [284]) steht für das Dilemma neuzeitlicher Subjektivität, "daß die Freiheit immer schon von sich selbst anfängt und darin eo ipso ihrem wahren Wesen als endlicher Freiheit widerspricht" (3). Die aporetische Verfaßtheit menschlicher Freiheit soll auf ihre "erbsündentheoretische Aussagerelevanz hin durchsichtig werden" (3) und die "verdankte Freiheit" des Glaubens zur Geltung gebracht werden (300).

Ein einführendes Kapitel ("August Tholuck: Sündenerkenntnis aus der Seelengrube", 6-25) situiert das Thema in der Sündenerfahrung des einzelnen, auf die der Erweckungstheologe in antispekulativer und christlich-apologetischer Ausrichtung gegen ein Verständnis des Bösen als des Negativen rekurrierte. Gefragt wird nach dem Vehältnis von Subjektivität und Sünde.

Das zweite Kapitel zu "Julius Müller: Sünde als Manifestation unbedingter Selbstbestimmung des Menschen" (26-140) bietet die Negativfolie für die beiden folgenden Theologen, indem eine am Gesetz orientierte Sündenlehre vorgestellt wird, deren Kern die Zurechung der Sünde als Schuld im Gewissen ausmacht. Müller versuchte die Faktizität der Sünde aus der Freiheit des endlichen Subjekts zu begründen. Mit ausgeprägtem Spürsinn für die berechtigten Intentionen dieser Sündenlehre werden deren Defizite in der Durchführung analysiert: die außerzeitliche Selbstbestimmung eines jeden Geschöpfs und vor allem der Begriff der menschlichen "formalen Freiheit", der­ um der Selbständigkeit des endlichen Subjektes willen ­ letztlich zur Selbstbeschränkung Gottes und zu gnadentheologischen Defiziten führt (137).

Es war Kierkegaards Vigilius Haufniensis ("Der Begriff Angst"), der im Axiom neuzeitlicher Freiheitstheorie, daß die Freiheit von sich selbst anfängt, die konstitutionstheoretische Krise der Freiheit als solcher erkannte ("Sören Kierkegaard: Die Krise der Freiheit als Selbstkonstitution", 141-173). Dieses Verständnis ist der Sicht Müllers prinzipiell überlegen, weil bereits im Vollzug der Freiheit als Freiheit, im autonomen Selbstbegründungsversuch selbst, der Mensch sich verfehlt, zum "Sprung" in die Sünde ansetzt und in Sünde ist; es gibt demnach keine "Möglichkeit einer Wahl des Selbst für oder gegen Gott" (172). Kierkegaard war es darüber hinaus gelungen, die prinzipielle Bestimmung der "Erbsünde" ­ das wird der Pannenbergschülerin Axt-Piscalar wichtig ­ so durchzuführen, "daß sie uns unmittelbar in unseren konkreten Selbstvollzügen angeht" (173), indem die Psychologie als "Medium der Selbstbeobachtung" und als eigenständige Disziplin herangezogen wird (144).

Die Vfn. erschließt die Parallelen zwischen Kierkegaard und Schleiermacher durch eine originelle Interpretation, die bei der subjektivitätstheoretischen Grundlegung in der Einleitung und nicht primär in der sündentheologischen Durchführung in der Glaubenslehre ansetzt ("Friedrich Schleiermacher: Die mit Ohnmacht behaftete Freiheit", 174-293). Indem der "Herrenhuter höherer Ordnung" vom im Vollzug von Selbsttätigkeit "an und für sich" immer schon mitgesetzten schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl ausging, propagierte er als erster Theologe des 19. Jh.s ein Sündenverständnis, das die "Erkenntnis der Sünde als Sünde an den Glauben bindet" (300). Diese Linie Schleiermachers kann in Exkursen weiter ausgezogen werden ("Die Ohnmacht der Freiheit als ’Krankheit zum Tode’ (Kierkegaard)", 206-219; "Kierkegaard, Ritschl, Barth zum Erkenntnisgrund der Sünde", 237-242; "Die Vorstellung vom ’Reich der Sünde’ bei Albrecht Ritschl", 271-277): Schleiermacher ist mit dieser Einsicht, "wenn man so will, ein antizipativer Barthianer" (246)!

"Ertrag: Subjektivität und Sünde" (294-303): In der Verbindung von Kierkegaards scharfsinniger Analyse der Krise neuzeitlicher Freiheit und Schleiermachers Ansatz beim schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl liegt die Möglichkeit, die Anliegen metaphysisch-ontologischer Aussagen vormoderner Hamartiologie zu bewahren und auf das Selbstverständnis des Menschen der Moderne hin auszulegen: "Die subjektivitätstheoretische Bestimmung des Selbst leistet die Möglichkeit einer Beschreibung des Phänomens der Sünde dadurch, daß sie die Sünde auf den Vollzug unmittelbarer Selbsttätigkeit hin auslegt und sie als faktischen Widerspruch zum Charakter des Gesetztseins unserer Selbsttätigkeit aufzeigt" (301).

Damit geht einher erstens die "Überwindung einer moralisierenden Verengung des Sündenbegriffs" und zweitens eine "Plausibilisierung der Rede von der Sünde durch die Beschreibung des in sich ambivalenten Vollzugs von Subjektivität" (ebd.). Zusammenfassend: "Darin, daß wir uns selbstverständlich sind, liegt das Wie-Gott-sein-Wollen der Sünde" (303). Die Anliegen der traditionellen Erbsündenlehre (Sündersein gilt für den natürlichen Menschen als solchen, und Sünde ist außerdem eine zu verobjektivierende Macht, die das Subjekt von außen beherrscht) werden subjektivitätstheoretisch wieder zur Geltung gebracht und der Sündenlehre eröffnet sich "eine verstärkte Beschreibungsrelevanz im Hinblick auf die Wirklichkeit der Sünde" (302).

Die Vfn. hat eine differenzierte, anspruchsvolle und in der historischen Einordnung stringente Grundlagenstudie vorgelegt, die m. E. auch einen grundlegenden Beitrag zur schwierigen, neuzeitlichen Erbsündenproblematik darstellt; man darf gespannt sein, wie die Vfn. in weiteren Publikationen dem ­ vor allem am Gesetz orientierten ­ Schuldcharakter der Tatsünden Rechnung tragen wird. Leider verzichtet die systematische Theologin fast ganz darauf, ihre leitende Fragestellung in die "Forschungslandkarte" aus gegenwärtigen hamartiologischen Untersuchungen einzuzeichnen bzw. ihre Erträge damit zu vermitteln. Im Literaturverzeichnis fehlen einige der im Fußnotentext genannten Titel.