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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

944 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schulthess, Peter u. Ruedi Imbach

Titel/Untertitel:

Die Philosophie im lateinischen Mittelalter.

Verlag:

Zürich-Düsseldorf: Artemis & Winkler 1996. 605 S. gr.8°. Lw. DM 148,­. ISBN 3-7608-1127-2.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Im vorliegenden Handbuch wird die philosophiehistorische Darstellung mit einem umfangreichen lexikalischen Anhang verknüpft. Der lexikalische Teil (von R. Imbach und Doris Nienhaus erarbeitet) enthält viele Personen, die in keiner der üblichen Darstellungen der Philosophie Erwähnung finden. Es war durchaus die Intention der Verfasser, den Reichtum und die Vielfalt der mittelalterlichen Philosophie durch die Berücksichtigung der Minores zu dokumentieren (9). Das ist ein durchaus löbliches Unterfangen. Es wäre Beckmesserei, würde man nun auflisten, wen man trotzdem nicht findet. So legt auch die aufgeführte Literatur Wert darauf, bei den unbekannteren mittelalterlichen Autoren umfangreicher zu sein als bei den häufig genannten, wobei eine gewisse Willkür natürlich kaum zu vermeiden ist. Vielleicht hätte man bei Thomas, Albert, Ockham u. a. sich überhaupt auf die Artikel in den bekannten Lexika (LexMA, LThK und TRE [nicht genannt!]) und auf seitdem erschienene Literatur beschränken sollen, um noch mehr Platz für die anderen zu gewinnen. Der Rez. muß gestehen, daß ihm etliche dieser "Minores" bisher selbst dem Namen nach unbekannt waren. So erfüllt das Handbuch seinen Zweck, gerade auf diese oft unbekannten und ungenannten mittelalterlichen Denker hinzuweisen. Mittelalterliche Philosophie und Theologie ist eben wesentlich vielfältiger, als dies weithin bekannt ist. Hier erfüllt das Buch seinen Zweck ganz sicher. Einige kleine Fehler blieben stehen.

Der Vf. stellt seine "Philosophie im lateinischen Mittelalter" dar als "ein(en) an der Rezeption der (spät-)antiken Texte orientierte(n) Überblick". Das kann man sowohl bedauern als auch begrüßen, je nachdem, was man erwartet. Es fällt aber auf, daß der Vf. das Mittelalter sehr spät (im 8. Jh.) ansetzt, weil es "bis zu Alkuin aus verschiedenen Gründen keine eigentlich nennenswerte Diskussion oder gar Entwicklung philosophischer Themen gibt". Auch das wird man hinterfragen können. Als terminus ad quem der Darstellung nennt er Nikolaus von Kues, was sicher überzeugend ist. Dadurch, daß die Darstellung nicht so sehr an der Verbindung von Glaube und Vernunft, sondern am textrezeptionsbezogenen Ansatz orientiert ist, gewinnt die Diskussion vor allem des Trivium an Gewicht. Damit tritt deutlich hervor, welche Bedeutung deren Autorität für mittelalterliche Denker hat. Man wird aber fragen müssen, ob damit nicht das eigentliche Thema mittelalterlichen Denkens zu kurz kommt. Es fällt weiterhin auf, daß in der Darstellung nicht die einzelnen Denker, sondern vielmehr die Probleme und deren Lösungsversuche im Mittelpunkt stehen. Das unterscheidet dieses Buch wohltuend von zahlreichen anderen, die auf dem Büchermarkt angeboten werden. Zu fragen ist, warum zahlreiche Zitate aus zweiter Hand gebracht werden. Hier hätte sich der Vf. die Überprüfung an einer Edition nicht ersparen sollen. Bei allein handschriftlicher Überlieferung wird man das dagegen nicht immer fordern können.

Einige Probleme bzw. Fragestellungen seien aus der Sicht des Rez. genannt:

1. Kann man wirklich noch sagen, "die Denker der Philosophie des Mittealters können in Scholastiker und Antischolastiker (z. B. Mystiker) eingeteilt werden" (23) ­ man denke nur an Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart!

2. Ist Metaphysik nicht auch Theologie, nur eben "philosophische Theologie" (zu 22)? Isaak v. Stella nennt Plato sogar den "magnus theologus" (39)!

3. Warum wird der Einfluß des Aristoteles vor den des Plato gesetzt? So groß sein Einfluß auch war, so war er doch zeitlich ziemlich begrenzt, der Einfluß von Plato durchzieht aber das ganze Mittelalter (so auch 53), dazu wurde Aristoteles ja häufig platonisch interpretiert (vgl. auch den Liber de causis). Mit Recht wird Augustins Einfluß auf das ganze Mittelalter betont (76).

4. Ganz gewiß hat Ambrosius nicht behauptet, daß "Brot und Wein nur Symbole (figurae) und Gleichnisse (similitudines) des wahren Leibes und Blutes seien" (93). Hier hat schon Berengar Ambrosius falsch interpretiert!

5. Mit dem Vf. möchte der Rez. den positiven Charakter des Topos "Magd der Theologie" für die Philosophie hervorheben (101). Nur dadurch hat ja die Philosophie ihren so eminent wichtigen Platz im mittelalterlichen Denken eingenommen!

6. Vorsichtig sollte man mit dem Epitheton "Renaissance" sein und nicht von einer ",Renaissance’ im 12. Jh." sprechen (124).

7. Die Universität Erfurt wurde erst 1392 gegründet (146, vgl. auch die Karte 331, wo Leipzig ganz fehlt).

8. Unklar bleibt (147) der Unterschied von Baccalaureus und Magister.

9. Richtig ist, daß im 13. Jh. ein neuer Wissenschaftsbegriff ansetzt, der dann im 14. Jh. Gestalt gewinnt (Ockham, Buridan). Hier ist der aristotelische Einfluß mit Händen zu greifen. Ebenso richtig ist es, daß das 14. Jh. als eine Zeit erkannt wird, "die philosophisch äußerst innovativ und interessant ist" (237), sonst kann man auch die Renaissance-Philosophie nicht begreifen.

10. Mehrfach versucht der Vf., eine Linie von Dietrich von Freiberg zu Nikolaus von Kues zu spannen (237, 292). Das hat der Rez. auch versucht (vgl. KuD, 1997/1, 2-19). Nur kann bisher nicht nachgewiesen werden, daß Nikolaus Dietrich gekannt, geschweige denn gelesen hat.

11. Kann man von einem "theologischen Gott" sprechen (257)? Von einer "philosophischen Theologie" wird man dagegen sprechen müssen.

Das Buch kann dem empfohlen werden, der tiefer in das Denken des Mittelalters eindringen und auch bisher wenig begangene Pfade begehen will. Er wird ­ wie der Rez. ­ manch Neues erfahren.