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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

941–944

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Friedlander, Albert H.

Titel/Untertitel:

Leo Baeck. Leben und Lehre. 2. Aufl. Mit einem Nachwort in der Taschenbuchaufl. von A. H. Friedlander u. B. Klappert.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser 1996. 350 S., 1 Porträt 8° = Kaiser Taschenbücher, 84. Kart. DM 48,­. ISBN 3-579-05084-2.

Rezensent:

Wolfgang Wiefel

Als Karl Heinrich Rengstorf im Juni 1956 Leo Baeck in Münster zu den Franz-Delitzsch-Vorlesungen begrüßen konnte, wo er unter dem Titel Von Moses Mendelssohn bis Franz Rosenzweig Typen jüdischen Selbstverständnisses vorstellte, war es das erste Mal, daß in Deutschland ein Repräsentant des Judentums vor einer Theologischen Fakultät lehrend auftrat. Die berühmte Begegnung von Karl Ludwig Schmidt und Martin Buber hatte bei Jahresanfang 1933 in einem jüdischen Lehrhaus stattgefunden. Was wußten die damaligen Hörer von Leo Baeck?

Daß er Rabbiner im Berlin der Vorkriegszeit war, Vorsitzender der Reichsvereinigung der deutschen Juden in schwerster Zeit, dann Seelsorger seiner Gemeinde, mit der er ins Zwangsghetto von Theresienstadt deportiert worden war, zuletzt weltweit wirkender Lehrer in London und Cincinnati. Nur ganz wenigen war bekannt, daß da jemand sprach, der über Jahrzehnte hin wichtige Stationen der evangelischen Theologie mit eigenen Beiträgen kritisch begleitet hatte, ohne Antwort zu erhalten. Dabei scheint es geblieben zu sein. Während nacheinander zuerst Martin Buber, dann Franz Rosenzweig, schließlich Gershom Scholem von aufgeschlossenen Gesprächspartnern rezipiert worden sind, wurde Baeck nahezu vergessen. R. Mayers aus einer Preisarbeit erwachsene Studie von 1961 blieb eine Ausnahme. Einen Versuch, den Bann zu brechen, hat der Hg. dieser Biographie, Bertold Klappert, unternommen, als er den Londoner Rabbiner und Schüler Baecks, Albert H. Friedlander, nach Wuppertal auf die dortige judaistische Gastprofessur einlud und in der Folge für eine Neuauflage von dessen Darstellung des Lebens seines Lehrer sorgte, die nun in unveränderter Gestalt erscheint.

Hier wird nicht nur der Lebensweg des 1873 in Lissa (Provinz Posen) geborenen und 1956 in London gestorbenen Gelehrten nachgezeichnet. Es geht vor allem um seinen Beitrag zur jüdischen Theologie und zur Auseinandersetzung zwischen Judentum und Christentum in diesem Jahrhundert. Man hat Baeck den Liberalen zurechnen wollen. Daran ist nur soviel richtig, daß er sich sowohl der in Mittelosteuropa gepflegten (Neu-)Orthodoxie als auch einem theologisch überhöhten Zionismus versagte. Am ehesten kann man in ihm den Prototypen und Interpreten eines neuzeitlichen Judentums sehen, das sich durch Geschichte und Tradition in Pflicht genommen sieht, ohne sich gegenüber dem geistigen Lebens Europas, speziell Deutschlands, abzuschließen. So fordert ihn nicht nur die Philosophie, vor allem Spinoza (dem seine Dissertation galt) und Kant (der ihm durch seinen Lehrer Hermann Cohen vermittelt wurde) zur Antwort heraus, sondern auch die zeitgenössische protestantische Theologie. Die entscheidenden Knotenpunkte sind: Harnack, die Wendezeit der frühen zwanziger Jahre, das kritische Jesusbild der Synoptikerforschung.

Wenn ein nahezu unbekannter Rabbiner aus Oppeln 1905 eine Schrift über das Wesen des Judentums veröffentlichte, so macht schon der programmatische Titel deutlich, daß es ihm um ein Gegenstück zu Harnacks Vorlesungen über das Wesen des Christentums ging. So sehr es den aufgeklärten Juden sympathisch berühren mußte, wie hier das Evangelium Jesu als Botschaft vom Vatergott und dem unendlichen Wert des Menschen herausgestellt und zum Maßstab gewählt wurde, so kritisch mußte die Reaktion auf zwei Aspekte ausfallen: die Darstellung des Judentums in der neutestamentlichen Zeit, vor allem des pharisäisch geprägten und die von Ritschls Theologie bestimmte Konstruktion des Reich-Gottes-Gedankens und des Messianismus. Es waren dies in der Tat ­ der weitere Gang der Forschung zeigte es ­ Schwachstellen der Harnackschen Deutung. Jahrzehnte später hat K. Stendahl in seiner Einleitung zur englischen Ausgabe von Baecks später Schrift über den Pharisäismus (1966) auf das relative Recht von dessen Position gegenüber Harnack verwiesen.

Als Baeck 1912 von Düsseldorf nach Berlin ging, wurde er nicht nur Gemeinderabbiner, sondern zugleich Dozent für Midraschforschung und Homiletik in der Lehranstalt (seit 1919: Hochschule) für die Wissenschaft des Judentums. In der Festschrift zu deren 50jährigem Bestehen findet sich jene Studie, die rückschauend als Kernstück des theologischen Lebenswerks gelten darf (dazu: 124-142). Sie trägt den Titel Romantische Religion und war als erster Abschnitt eines geplanten, aber nie ausgeführten Werkes über klassische und romantische Religion gedacht. Daß der Gegensatz von Judentum und Christentum mit idealtypisch-geistesgeschichtlichen Kategorien bezeichnet wird, darf bei einem Schüler Wilhelm Diltheys nicht verwundern, eher schon, wenn Baeck in diesem Zusammenhang die aufklärerische Antithetik von «evangelium Jes» und «evangelium de Jesu» übernahm, ersteres dem Judentum zuordnete, letzteres mit Paulus anheben ließ. Aufmerksame christliche Leser (so es sie denn gegeben hätte) wären wohl provoziert worden, wenn sie wahrnahmen, daß er die eindeutigsten Ausprägungen der von ihm verworfenen romantischen Religion bei Schleiermacher und bei Luther fand, die in seiner Sicht ihm näher zusammengerückt erscheinen als bei den liberalen und dialektisch-theologischen Zeitgenossen. Scharfblickend sieht er hier die für das Wesen des Judentums in seinem Sinne unerträgliche Absage an rationale Philosophie und das Humanum konstituierende Ethik. Friedlander erkennt hier die erst dem heutigen Leser deutliche Korrelation zu Carl Schmitt, dessen gleichzeitig erschienenes Jugendwerk über die Politische Romantik exakt die entgegengesetzte Wertung enthält.

Daß Baeck in den Jahren der Weimarer Republik über sein Wirken als Prediger, Organisator und Dozent hinaus auch als Autor fruchtbar blieb, zeigt die Bibliographie, die 33 Artikel in der 2. Auflage der RGG und über 20 wissenschaftliche Aufsätze aus dieser Zeit aufweist. Wie sehr sich sein Verständnis des Judentums durch die im Zeichen der Apologetik stehenden Auseinandersetzungen vertieft hatte, wird an den Veränderungen der 2. Auflage des Hauptwerks Das Wesen des Judentums (1922) gegenüber der 1. deutlich, die hier erstmals untersucht sind. Ein Gleiches wird aber auch in einer Reihe von Vorträgen erkennbar, die bereits thematisch die Polaritäten anzeigen, die für ihn jetzt wichtig geworden sind: Geheimnis und Gebot (in: Wege im Judentum, Berlin 1933, 33-48), Vollendung und Spannung (ebd., 9-32), Tod und Wiedergeburt (ebd., 49-71).

Die Ächtung und Isolierung des deutschen Judentums, die seiner Auslöschung vorangingen, bedeuteten für das öffentliche Wirken und das wissenschaftliche Schaffen Baecks einen tiefen Einschnitt. Für die Publikation verblieben seit 1933 allein die Almanache und Reihen des Schocken Verlags und einige wenige jüdische Zeitschriften. Es ist bewegend zu sehen, wie 1938, in einer Zeit, wo auf christlicher Seite Bestrebungen sich regten, Jesus vom Judentum abzutrennen, Baeck das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte (Schocken-Bücherei 87) darstellte.

Die 120 Seiten dieser Schrift fielen zu gleichen Teilen auf die geschichtliche Einordnung und die Präsentation der als echt angesehenen synoptischen Überlieferungseinheiten. Der Hinweis, daß hier eine jüdische Antwort auf die neutestamentliche Arbeit christlicher Theologen gegeben wurde, die ohne Resonanz verhallte (dazu B. Klappert im Nachwort unter der schönen Überschrift: Die neu geschriebene Evangelienrolle, 288 f.), ist heute noch von Wichtigkeit. Dies gilt auch, wenn man konstatiert, daß die wissenschaftliche Abhängigkeit von C. G. Montefiore einerseits und der Erforschung der Synoptiker von H. J. Holtzmann bis K. L. Schmidt nicht zu übersehen ist. Das Erscheinungsjahr machte eine Wirkung nahezu unmöglich. (Das Exemplar der Berliner Staatsbibliothek, das ich 1953 zur Hand nahm, war noch unbenutzt.) Der Neudruck von 1961 kam spät, vielleicht zu spät.

Es gehört zu den wichtigsten Vorzügen dieser Biographie, daß sie auch das Spätwerk Baecks zu Wort kommen läßt (202-254). Der knapp dem Tode Entronnene kannte weder Resignation im Blick auf die eigene Gemeinschaft noch Gesprächsverweigerung nach außen. Er ist bei den ersten Versuchen jüdisch-christlicher Begegnung in Europa die zentrale Gestalt. Die bereits in Theresienstadt skizzierte Phänomenologie jüdischer Existenz Dieses Volk erscheint im letzten Lebensjahr. Sie bildet mit den spät veröffentlichten Londoner Vorlesungen Epochen jüdischer Geschichte (vgl. Rez. des Vf.s ThLZ 101, 1976, 262-264) die abschließende Gestalt eines Lebenswerks, das wahrzunehmen christliche Theologie weithin versäumt hat.

Eine zusammenfassende Rückschau, wie sie der mit allen Verästelungen vertraute Schüler hier dargeboten hat, legt freilich auch die Defizite bloß, die zum Teil erklären mögen, warum die Wirkung vor allem in Europa ausblieb. Sieht man auf die Rezeption der jüdischen Bibel und der Frühgeschichte Israels, so findet sich bei Baeck wenig, was über Heinrich Graetz hinausgeht. Die Beschäftigung mit der Traditionsliteratur bleibt auf den Bereich des Midrasch, ja dessen praktische Anwendung beschränkt; der "Wärmestrom" (Bloch) jüdischen religiösen Lebens von gnostisierender Heterodoxie über die Kabbala bis zum Chassidismus und seinen Ausläufern bleibt ihm fremd. Die spekulative Tiefe eines Abraham Heschel ist ebensowenig seine Sache wie der Kulturzionismus Achad Haams. Es ist der selbstauferlegte Zwang, das Judentum als eine dem denunzierten Typus des Romantischen entgegengeartete klassische Religion zu konstruieren, der der Wahrnehmung Schranken setzte und auch die Nachwirkung begrenzt.