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Ausgabe:

Februar/1999

Spalte:

127–138

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Eckart Reinmuth

Titel/Untertitel:

Lazarus und seine Schwestern - was wollte Johannes erzählen?
Narratologische Beobachtungen zu Joh 11,1-44

Die Geschichte von der Erweckung des Lazarus ist für manche ein Gipfel der Anstößigkeit unter den neutestamentlichen Wundererzählungen; mit ihrer eigensinnigen Realistik, die zugleich merkwürdig unbestimmt und schwebend wirkt, legt sie geradezu den Finger auf die Wunde neuzeitlichen Wunderverständnisses. Andererseits spricht diese Erzählung ganz elementare Erfahrungen angesichts des Todes eines nahen Angehörigen an - seien es Trauer und Leid, Anteilnahme (vgl. V. 19.31.33.36), Hoffnung auf Geborgenheit im Tod, auf eine Auferstehung gar, ein Weiterleben nach dem Tode (V. 24) ... Ich lese diesen Text als Zuspruch und Herausforderung angesichts dessen, was wir von Tod und Sterben zu wissen meinen - konkret wohl auch da, wo wir Mitmenschen als Trauernde zu Gräbern begleiten. Wo man freilich voraussetzen will, dieser Text erhalte seine Bedeutung vom angeblich Geschehenen, von der Faktizität seiner Inhalte her1, liegt die Gefahr nahe, den Glauben an ein scheinbar beweiskräftiges Argument zu binden2. Indessen scheint mir die erzählerische Gestaltung mit der adressatenbezogenen Botschaft dieses Textes so eng verbunden zu sein, daß es lohnt, dieser Spur zu folgen. Die Frage ’was wollte Johannes erzählen’ soll klären, was eigentlich mit Hilfe dieses Erzähltextes kommuniziert werden soll. Dazu werden im folgenden einige narratologische Beobachtungen zusammengestellt.

Zur erzählerischen Gestaltung

Die Lazarusgeschichte steht im Johannesevangelium an bedeutsamer Stelle3; sie enthält zugleich Anspielungen und Verweise auf den vorlaufenden Kontext, die ihre Bedeutung unterstreichen und ein reflektierendes Verstehen herausfordern. So wird z. B. auf das sechste Wunder in 11,37 ausdrücklich Bezug genommen (vgl. 9,7); auch die Metaphorik in 11,9-10 (Tag/Nacht/Welt/Licht) spielt auf die Geschichte der Blindenheilung an (vgl. 9,4 f.). Die V. 4.40 erinnern mit dem Zusammenhang ’Wahrnehmung der Herrlichkeit des Sohnes - Glauben an ihn’ an 2,11. Ging es im ersten Wunder um eine Hochzeit, so geht es im letzten um den Tod.

Auch die liebevolle Verbindung Jesu mit Lazarus und seinen Schwestern4 erhält mit Blick auf den Kontext wichtige Bedeutung. An 15,9-17 kann z. B. deutlich werden,5 daß die Geschwister in dieser Hinsicht die Glaubenden repräsentieren6 - der Tod des Lazarus und der Glaube der Schwestern werden also vor dem Hintergrund der Lebensverbindung mit Jesus veranschaulicht: Selbst die durch die Liebe Jesu besonders ausgezeichneten Geschwister sind mit der Realität des Todes konfrontiert.7 Wie also ist das Leben aus Christus für die Glaubenden zu denken - und wie die Lebensverbundenheit mit ihm angesichts des Todes?

Der von Johannes mit der Exposition (V. 1-2) angeschnittene und im weiteren Kontext präsente Erzählzusammenhang erinnert an synoptische, insbesondere lukanische Motive und Erzählinhalte.8 Johannes bezog offenbar seine Charakterisierung der beiden Schwestern aus Lk 10,38-42 oder einer entsprechenden Erzähltradition; das Dienen Marthas wird im nachlaufenden Kontext (12,2) sogar explizit aufgegriffen.9 Aus der unbestimmten Erzählankündigung 11,1 wird eine Konkretion, die auf das Wissen der intendierten Rezipienten, also derjenigen, die der Erzähler sich als Adressaten vorstellt, Bezug nimmt.10 Dabei fällt auf, daß im Gegensatz zu Lk 10,38 f. in der Exposition der Lazarusgeschichte Maria zuerst genannt und näher gekennzeichnet wird; in Lk 10,38 f. wurde zuerst Martha eingeführt, dann ihre Schwester. Mit den Namen des Schwesternpaares Joh 11,1 wird an ihre Geschichte erinnert, und sie wird einführend zugleich gegensätzlich - nämlich offenbar vom erzählten Ende Lk 10,41 f. her - akzentuiert. Joh 11,2 nimmt in der Vergangenheitsform auf die Salbungsgeschichte Lk 7,36 ff. Bezug, denn das Tun der hier geschilderten ’Sünderin’ entspricht dem in Joh 11,2 erinnerten; dabei handelt es sich um den markanten Einzelzug des Trocknens seiner Füße mit ihrem Haar. Maria wird als diejenige vorgestellt, die in dieser Geschichte gehandelt hat11 - ab 12,3 wird das unter anderem Gesichtspunkt12 tatsächlich erzählt. Wir haben also eine textexterne Analepse und zugleich textinterne Prolepse vor uns.13

Der Nachsatz V. 2c ’deren (sc. Marias) Bruder war krank’ fügt eine neue Information hinzu: Der kranke Mann aus V. 1a mit Namen Lazarus ist der Bruder des Schwesternpaares Maria und Martha. Auch Lazarus ist den intendierten Rezipienten bekannt. Lk 16,19-31 endet in direkter Rede mit dem Satz: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde. Vor allem dieser offene Schluß V. 31 kann der Anlaß gewesen sein, eine Totenerweckungsgeschichte14 an den Namen des Lazarus15 zu hängen und erzählerisch den Todesbeschluß gegen Jesus (V. 46-53) zu folgern. Anknüpfungsmöglichkeiten waren mit den Motiven der Krankheit (Lk 16,20) und des Sterbens (Lk 16,22) des Lazarus, seinem postmortalen Geschick (vgl. Joh 11,24) und dem Gespräch über die Möglichkeit seiner Rückkehr ins Leben (Lk 16,27-31) gegeben.

Die Exposition Joh 11,1-2 spricht also den intendierten Rezipienten auf seine Kenntnis der Figuren dieser Erzählung an und führt ihn so in das erzählte Geschehen ein.

Weitere expositionelle Elemente finden sich in den V. 17-19; sie dienen an dieser Stelle dem Perspektivenwechsel von den Jüngern und Jesus zu den Schwestern. Die Ortschaft Bethanien (vgl. 11,1) wird in der Nähe Jerusalems lokalisiert16 - mit dem adressatenbezogenen Sinn, die Todesnähe Jesu zu symbolisieren; diese wird im vorlaufenden Kontext bereits angesprochen (vgl. V. 8.16). V. 30-31 stellen erzählerisch die Voraussetzung her, daß Maria mit Jesus außerhalb des Dorfes zusammentrifft und von den trauernden Juden begleitet wird. V. 38b beschreibt das Grab und bildet somit die Voraussetzung für das weitere Geschehen. Diese expositionellen Teile stellen eine besondere Verbindung zum Leser oder Hörer her; sie haben tendenziell metanarrativen, also nicht eigentlich erzählenden, sondern den Erzählinhalt kommentierenden Charakter.17

Im Blick auf die unterschiedlichen Detaillierungsgrade der Geschichte kann man beobachten, daß die kondensierteste, also am meisten raffende Erzählform keine (oder allenfalls sehr kurze, handlungsbezogene) direkte Rede enthält, sondern diese vorbereitet. Sie hat im Blick auf den höchsten Detaillierungsgrad, die direkte Rede, ebenfalls expositionelle Funktion; vgl. z.B. V. 3.6.20.28 f.

Als weiteres Gestaltungselement kann man direkte Reden ohne expliziten textinternen Adressaten bestimmen; vgl. V. 4.36.37.18 Diese direkten Reden sind erzählerische Mittel, die die Anrede der intendierten Rezipienten unterstützen. Sie dienen ihrem reflektierenden Verstehen, indem sie dazu auffordern, die in den direkten Reden getroffenen Bewertungen zu überprüfen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Unter Einbeziehung dieser Beobachtungen kann die Erzählung in drei Abschnitte gegliedert werden:19

V. 1-16: Jesus wird von der Krankheit des Lazarus berichtet, aber er bleibt noch zwei Tage20 ’an dem Ort, wo er war’ (V. 6; vgl. 10,40).

V. 17-37: Auf dem Weg nach Bethanien (vgl. V. 30) kommt es zur Begegnung mit Martha und dann mit Maria.

V. 38-44: Jesus kommt zum Grab und erweckt den Lazarus vom Tod.

Dieser letzte Abschnitt bildet den erzählten Höhepunkt der Wundergeschichte. Der erzählerische Progreß wird durch die Textsignale, die sich auf die Annäherung Jesu an das Grab beziehen, unterstützt.21 Am Anfang ist Jesus außerhalb Judäas. Die Problematik der Rückkehr nach Judäa - motiviert durch die Krankheit des Lazarus (vgl. V. 6) - wird in V. 7 f.16 ausdrücklich thematisiert. Die zweite Phase lokalisiert Jesu Aufenthalt außerhalb Bethaniens (vgl. V. 20.29 f.); die dritte außerhalb des Grabes (vgl. V. 38).

Dieser Lokalisierung scheint V. 17 zu widersprechen: Als Jesus kam, fand er Lazarus schon vier Tage im Grabe liegend. Das klingt, als sei Jesus direkt zum Grab gekommen. Aber der Vers enthält keine wirkliche Ortsangabe, sondern die im Blick auf die Perspektive Jesu geschilderte Zeitwahrnehmung bei seinem Kommen nach Bethanien. Er enthält die adressatenbezogene Information, daß Lazarus bereits gestorben war, als Jesus von seiner Krankheit unterrichtet wurde.22 Der Leser/Hörer weiß folglich, daß nicht Jesu Zaudern den Tod des Lazarus bewirkte. Es handelt sich zugleich um einen erzählerischen Vorgriff (vgl. V. 39b), durch den die Spannung und Dynamik des Erzählten gesteigert werden soll. Dieser Vorgriff ist Teil der Exposition (V. 17-19) für den Abschnitt V. 17-37. Jesus begibt sich ja erst später ans Grab (V. 34.38). V. 38 beschreibt das Kommen Jesu zum Grab; die erzählte Annäherung findet hier ihr Ziel.23 Die Formulierung in V. 17 kann also nur durch den Perspektivenwechsel auf Bethanien veranlaßt sein; sie teilt dem Adressaten mit, daß Lazarus bei der Annäherung Jesu bereits vier Tage im Grabe liegt.

Im Blick auf das erzählte Wunder sind Jesus und Lazarus die eigentlichen Protagonisten; freilich - Lazarus tritt nicht auf: Er bleibt bis zuletzt stumm (V. 44); keine Antwort auf den lauten Ruf Jesu (V. 43) ist zu hören. Er bleibt Objekt des Geschehens. Der erzählte Geschehensverlauf wird indessen auf vielfältige Weise in metanarrativen Elementen und direkten Reden reflektiert. Hier wird die Kontaktnahme zu den Adressaten intensiviert; hier wird das erzählte Geschehen diskursiv kommentiert und bewertet.

Unter diesem Gesichtspunkt kann der Mittelteil der Erzählung weiter differenziert werden: Hier werden die Dialoge Jesu mit Martha und Maria wiedergegeben. Beide Dialoge werden durch die übereinstimmende Äußerung der Schwestern parallelisiert: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben (V. 21.32 kyrie, eis es ode uk an apethanen ho adelphos mu); die Formulierung unterscheidet sich an beiden Stellen lediglich durch die Stellung des Possessivpronomens. Beachtet man diese Parallelisierung,24 so führt der erste Dialog zum Ich-bin-Wort in V. 25 f. als Aussagegipfel der gesamten Erzählung; der zweite Dialog führt in V. 33-37 zum entsprechenden Handeln, das dann in V. 38 ff. erzählt wird. Dieses dient also der Interpretation des Aussagegipfels in V. 25 f.

Dieser Spitzensatz in V. 25 f. wird mit der eindringlichen Frage ’Glaubst du das?’ (pisteueis tuto) beendet. Sie ist kontextintern an Martha gerichtet, und sie richtet sich in gleicher, wenn auch vermittelter Weise an die Adressaten des Johannesevangeliums; sie unterstreicht die Bedeutung der eben formulierten Aussage im Munde Jesu. Sie thematisiert zugleich, was eigentlich in dieser Geschichte erzählt und an den Glaubensweisen der beiden Schwestern verdeutlicht werden soll.

Der Glaube der Schwestern

V. 20 differenziert das Verhalten der Schwestern (s. o.); Martha wird aktiv und geht Jesus entgegen, Maria bleibt im Haus sitzen. Mit der Anrede Marthas an Jesus V. 21 f. wird deutlich: Sie traut Jesus gleichsam jedes Wunder zu - im konkreten Sinn eben auch das, den Tod ihres Bruders verhindert haben zu können - und sie bringt ihr ungebrochenes Zutrauen zu dem, was Jesu Gebet vermag, zum Ausdruck. Für den Leser oder Hörer des Johannesevangeliums ist damit eine reflektierende Perspektive angesprochen und der Bezug auf den Diskurs über die Bedeutung der Wunder für den Glauben hergestellt.25

Martha spricht in V. 24 ihr - die Antwort Jesu in V. 23 in ihrem Sinne aufnehmendes - Bekenntnis mit dem Ausdruck des Wissens aus: Ich weiß, daß er auferstehen wird - bei der Auferstehung am letzten Tag - oida hoti anstesetai en te éschate hemera. Sie drückt aus, was sie ’weiߒ (vgl. bereits V. 22!).

Marthas Glaube bezieht sich auf die eschatologische Auferstehung.26 Sie bringt zum Ausdruck, welches Geschick sie für ihren toten Bruder erwartet. Dieses selbst bleibt ja unanschaulich, unzugänglich. Es geht um die Frage, wie der Tod ihres Bruders für sie in ihrer Wirklichkeit verstehbar und bestehbar sein kann. Martha ’weiߒ um sein Geschick; dieses Wissen ermöglicht ihr, mit dem Tod des Bruders zu leben.

Ihre Perspektive wird durch die Antwort Jesu überboten, ja durchkreuzt. Denn Jesus bestätigt ihr Wissen nicht, sondern sagt mit seiner Hilfe die Gegenwart des Lebens an. ’Ich bin die Auferstehung und das Leben’ - dieser Satz bezieht den Glauben und das Wissen der Frau auf eine andere, gegenwärtige Wirklichkeit. Denn er spricht vom Hier und Jetzt, von der Präsenz der Beziehung zu ihm selbst.

Das erzählte Mißverständnis und seine Beantwortung durch Jesus hat eine analoge Struktur z. B. zu dem Gespräch mit der Samaritanerin in 4,25-26 (vgl. auch das Gespräch mit Nikodemus 3,1-11). Der Adressat befindet sich außerhalb dieses Mißverständnisses; er weiß aus dem vorlaufenden Kontext, was tatsächlich geschieht (vgl. 11,4.11 ff. und das hier erzählte Mißverstehen der Jünger). Es geht Martha wie der samaritanischen Frau, wie Nikodemus, wie den Jüngern, und es soll auf diese Weise offenbar eine wichtige Einsicht vermittelt werden: Das ’Wissen’ hergebrachten Glaubens wird überboten und mit der Beziehung zu Jesus verbunden; es findet Erfüllung im gelebten Vertrauen auf Christus.

Mit dem ’Ich-bin-Wort’ macht Jesus eine implizite Aussage auch über das Geschick des Lazarus: ’Leben, auch wenn er stirbt’ bezieht Lazarus in das mit Jesus präsente Leben ein und führt zugleich die eschatologische Auferstehungshoffnung der Martha an dieses heran - ihre Auferstehungshoffnung wird in dieser Perspektive nicht überflüssig, leer oder gegenstandslos.

Jesu Satz sagt im Kern: Der Glaube an ihn ist Auferstehung und Leben. Nur darum kann der Nachsatz das physische Sterben ausdrücklich einbeziehen. Es geht gerade nicht um etwas nachträglich zu Erlangendes, um einen Ersatz für Marthas Wissen über das Geschick ihres Bruders nach seinem Tod, sondern um die Gegenwart dieses Lebens.

Für den Leser des Johannesevangeliums ist die Äußerung Jesu im vorlaufenden Kontext vorbereitet; er ist bereits davon unterrichtet, wovon Jesus spricht.27 Das Leben, von dem Jesus spricht, hat den letzten Tag, von dem Martha sprach, hinter sich; es hat vom Tod zum Leben gefunden, auch wenn der Tod das physische Leben jederzeit zerstören und vernichten kann. Der Hinweis auf das physische Sterben ist für die Selbstaussage Jesu entscheidend.

Die Lebenszusage selber bleibt letztlich merkwürdig unanschaulich, und es ist zu vermuten, daß die theologische Abzielung des Johannesevangeliums diese Unanschaulichkeit bewußt einkalkuliert. Johannes weiß um die offene Realität seiner Adressaten; er weiß um den grundlegenden Unterschied zwischen der Verbindung mit dem irdischen Jesus und der Bewährung des Glaubens nach Ostern. Eben deshalb hält er die Gestalt dieses Glaubens für die konkrete Wirklichkeit seiner Adressaten offen.

Die eindringliche Frage ’glaubst du das?’ V. 26b ist nicht inquisitorisch gemeint; sie bezieht sich vielmehr auf die Existenzbestimmung der textintern und textextern Angeredeten. Sie unterstreicht die Bedeutung des Glaubens in seiner Beziehung zu der mit Christus präsenten Auferstehung, seinem ’Leben’. Sie setzt sich zugleich dem ’Wissen’ der Martha aus (vgl. V. 24a). Dieses Wissen bezog sich auf einen Überzeugungsinhalt, der mit ’daߒ (ÙÈ) eingeleitet und referiert wird. Die Selbstidentifikation Jesu überholt das in der Ansage von Leben und Auferstehung in seiner Person und Gegenwart. Die Antwort auf Jesu Frage wird - der Form der Frage entsprechend - auf den ersten Blick mit einem analogen Satz formuliert: Ich glaube, daß (hoti) du der Christus bist, Gottes Sohn, der in die Welt gekommen ist. Mit diesem Bekenntnis schließt der Dialog.

Wieder ein ’daߒ-Satz. Aber er spricht nicht in der dritten Person über das Schicksal des Bruders, sondern sagt in der zweiten Person die Identität Jesu aus28 - dessen, der die Auferstehung ist und das Leben.

Man kann die im Perfekt gehaltene Äußerung Marthas (ego pepisteuka) paraphrasieren: ’Ich bin zu dem Glauben gekommen und habe ihn auch gegenwärtig,29 daß ... - ich bin zu
diesem Glauben schon vor deiner Frage (V. 26c) gekommen.’
Ihre Antwort erscheint durch das, was Jesus eben sagte (V. 25f.), nicht verändert30; auch der Inhalt ihrer Antwort geht auf seine Rede nicht ein. Die Frage, ob Marthas Bekenntnis als vollgültig oder vorläufig verstanden werden soll, wird kontrovers diskutiert.31 Einerseits entspricht ihr Bekenntnis - auch in Verbindung mit der Lebenszusage - dem ersten Schluß des Evangeliums 20,31, andererseits scheint ihre Antwort sich darauf zu beschränken, traditionelle Elemente frühjüdischer Messiaserwartung nun auf Jesus anzuwenden. Im Blick auf den vorlaufenden Kontext bezieht sich die im Perfekt gehaltene Antwort Marthas auf das Zutrauen, das sie Jesus gegenüber in V. 21 f. zum Ausdruck bringt. Sie erneuert dieses Zutrauen mit ihren Worten. Offensichtlich schlägt der Autor anhand des Bekenntnisses der Martha - sie kam vom ’Wissen’ zum Glauben - eine Brücke zum Adressaten; dieser kann das Wort Jesu V. 25 f. voll erfassen. Er versteht mehr als Martha und die anderen Handlungsträger in dieser Geschichte; mehr als die Jünger (vgl. V. 8.12.16)32, mehr als ’die Juden’33 (V. 31.33.36 f.). Auch deshalb endet diese Szene offen, in direkter Rede.

V. 28 spricht davon, daß Martha ihre Schwester ’heimlich’ ruft34 und ihr sagt, der Lehrer35 ’rufe sie’ (Ho didaskalos parestin kai phonei se.). Davon wurde nichts erzählt. Die Einführung dieses Erzählelements in der direkten Rede Marthas V. 28b soll Aufmerksamkeit erwecken. Zweimal wird das Verb mit dem Stamm ’Ruf’, ’Stimme’ gebraucht. Der Erzähler verbindet mit dieser Notiz eine kontextbezogene Symbolik. Denn überall da, wo im vorlaufenden Kontext vom ’Ruf’ (phoné) Jesu die Rede ist, geht es um den Ruf in die Fülle des Lebens, das mit ihm Gegenwart wird: 3,8.29; 5,25.28; 10,3.4.16.27.36

Maria ’hört’ also die Stimme des ’Hirten’, die Stimme des Lebens. Sie hat - im Gegensatz zu ihrer Schwester - bisher keine Initiative ergriffen. Johannes interpretiert in seiner Geschichte das Verhalten der beiden Schwestern und seine Bewertung durch Jesus aus Lk 10,38-42 (s. o.). Maria wird in dieser Hinsicht in ihrer rezeptiven Haltung positiv geschildert. Ihre Reaktion in V. 29 entspricht diesem Bild. Überdies ist der Leser oder Hörer durch V. 2 auf eine besondere Betonung der Rolle Marias vorbereitet. Heißt es von Martha V. 20, ’als sie hörte, daß Jesus kommt’ (Hos ekusen hoti Iesus erchetai), so wird von Maria lediglich gesagt: ’als sie (das) hörte’ (hos ekusen) - es ist also ein innerer Bezug zum Ruf Jesu hergestellt.37

Maria folgt der Stimme, und ihr Verhalten wird von den mittrauernden Juden falsch gedeutet (V. 31). Dies dient als erzählerisches Motiv, Maria zu folgen und weiter anwesend zu bleiben (vgl. V. 36 f.39.41 f.45). Der Erzähler nutzt die V. 28-31 zu einer erneuten Exposition, um den gleichen Detaillierungsgrad für den Dialog mit Maria wie für den mit Martha zu erreichen.

Marias Begegnung mit Jesus ist anders als die Marthas. Maria fällt Jesus, als sie ihn sieht, zu Füßen und wiederholt in V. 32 lediglich den Satz ihrer Schwester aus V. 21. Der Partizipgebrauch (legusa auto) legt die Vorstellung nahe, daß Maria knieend spricht.38 Der ’Dialog’ besteht aus nur diesen Worten. Die direkte Rede Jesu in V. 34 (sowie dann in V. 39) richtet sich im Plural an die Maria begleitenden Juden. Der Leser oder Hörer weiß, daß sein Handeln dazu dienen wird, Gott und so auch seinen Sohn zu verherrlichen (V. 4) und die Jünger (V. 15) sowie Martha (V. 26) zum Glauben zu führen. Marias Haltung wird in V. 33 mit der der trauernden Juden parallelisiert: Sie weint wie sie. Ihre Haltung unterscheidet sie nicht von der der mit ihr trauernden Juden (V. 31).39

Jesus, die Trauernden, das Grab

Die scheinbar das Mitgefühl Jesu ausdrückenden Verben der V. 33b-38 beziehen sich unmittelbar auf das ihm begegnende Unverständnis. Die Aussage V. 33b ist Reaktion auf das Weinen Marias und der Juden, die in V. 38a auf die kritische Frage V. 37; an beiden Stellen wird das Verb embrimáomai gebraucht. Was aber bedeutet V. 35 ’Jesus weinte, Jesus gingen die Augen über’ (edakrysen ho Iesus)? Das Verb dakryo wird im Neuen Testament nur an dieser Stelle verwendet. Es ist Jesu Reaktion auf die Aufforderung ’Komm und sieh,40 wo der Tote liegt’. Die Ankunft am Grab wird erst in V. 38 geschildert. Die Frage ’wo habt ihr ihn hingelegt’ dient nicht der Information Jesu41, sondern der Möglichkeit, an dieser Stelle die Realität des ’vollen Grabes’ zu unterstreichen. Der vorlaufende Kontext zeigt die Trauerhaltung Marias, die der der Juden gleicht; der nachlaufende Kontext zeigt das Unverständnis gegenüber Jesus. Sein Weinen ist nicht das Mitgefühl des Trauernden, sondern gilt der vor dem Tod versagenden Hoffnung.

Die vorwurfsvolle Frage ’der Juden’ in V. 37 - die Rezipienten wissen sich an das zweitägige Zögern Jesu in V.6b erinnert -
gleicht inhaltlich der Voraussetzung, die die beiden Schwestern Jesus gegenüber zur Geltung bringen (V. 21.32). Alle trauen Jesus die Wundermacht einer Krankenheilung zu - nicht aber Macht gegenüber dem Tod. Sie wissen sich mit dem Wundertäter Jesus eins diesseits der Grenze des Todes. Jesus hat in ihren
Augen versagt. Sein Wesen, wie es in V. 25 f. zum Ausdruck kommt, wird von niemandem erkannt.42 Dies bringt sein ’Grimm’ erzählerisch zum Ausdruck und umschreibt damit ein Motiv seines Handelns am Grab (V. 38a).

Die Szene ab V. 38 zeigt Jesus als den, der die Handlung bestimmt. Er geht zum Grab; Frage und Antwort aus V. 34 sind überholt. Viermal wird von ihm der Imperativ gebraucht (V. 39.43.44 zweimal).

In der Situation, als Jesus den Befehl zur Öffnung des Grabes gibt (V. 39), wird erneut Martha - als die Schwester des Verstorbenen - eingeführt. Sie will die Öffnung des Grabes mit dem Argument der fortgeschrittenen Verwesung des Toten verhindern. Sie bringt zur Geltung, was in ihrer Welt zu bedenken ist. Sie gibt wiederum zu erkennen (vgl. V. 24.27), mit welchen Tatsachen sie in dieser Welt zu rechnen hat und zu rechnen bereit ist. Mit der Antwort Jesu V. 40b werden die Adressaten des Johannesevangeliums aufgefordert, zwischen dem Angebot Jesu und dem Glauben der Martha zu unterscheiden und damit zugleich den eigenen Glauben zu reflektieren.43 Die an die bereits gegebene Zusage erinnernde Antwort - ’wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen’ (ean pisteuses opse ten doxan tu theu)- bezieht sich in der Wortwahl nicht auf den Dialog V. 21-27, sondern auf die Ankündigung Jesu gegenüber den Jüngern V. 4.44 Die V. 4 und 40 bilden folglich eine Rahmung, eine inclusio. Herrlichkeit Gottes und Auferstehungsleben interpretieren sich zugleich gegenseitig. Dafür ist der Hinweis auf den Glauben in der Antwort Jesu konstitutiv. Nur er macht das Sehen, um das es geht, möglich.

Dieser Zusammenhang steht offenbar auch hinter der Gestaltung von V. 41. Während der Stein weggehoben wird (eran un ton lithon), hebt (eren) Jesus die Augen zum Gebet. Durch den zweimaligen, unterschiedenen Gebrauch des Verbs wird sinnfällig, daß die Vorbereitung zur Wiederbelebung des Lazarus - die Arbeit am Stein, der das Grab verschließt - in eine andere Richtung als das Beten Jesu geht. Die Wirklichkeit der Lebenszusage, die mit Jesus verbunden ist (V. 25 f.), hat sich in seinem Beten erfüllt; sie schließt den gestorbenen Lazarus ein (vgl. kan apothane V. 25b, u mè apothane V. 26). Jesu Dankgebet V. 41b.42 erfolgt direkt nach der Öffnung des Grabes; es bezieht sich auf eine Bitte Jesu, die im vorlaufenden Kontext nicht erzählt wurde. Es ist Aufgabe des Lesers, ihren Inhalt zu folgern. Dafür bietet sich das unmittelbar vorausgehende Stichwort ’Herrlichkeit Gottes’ (V. 40; vgl. V. 4) und die damit verbundene Interpretation des Auferstehungslebens (V. 25 f.) in erster Linie an. Jesu Bitte an den Vater schloß den toten Lazarus in die Zusage des Lebens ein. Sein Dankgebet kommentiert diese Lebenszusage mit dem Hinweis auf die anwesenden Zeugen. Er erfolgt lediglich, damit sie glauben können, ’daß du mich gesandt hast’ (hina pisteusosin hoti sy me epesteilas) V. 42b.45 Die Bedeutung des in V. 43 f. beschriebenen Geschehens wird also mit narrativen Mitteln relativiert. Es hat versinnbildlichende Funktion im Blick auf die in V. 25 f. formulierte Lebens- und Glaubenszusage. Freilich - diese schloß
den physischen Tod ausdrücklich ein. Die erzählte Erweckung des Lazarus steht dazu in Spannung. Lazarus hat seinen Tod erneut vor sich (vgl. 12,10!). Sein Geschick wirft die Frage nach der Bedeutung von ’Leben und Auferstehung’ (V. 25 f.) für die Glaubenden auf.

V. 45 zeigt, daß der Erzähler die Aufmerksamkeit der Rezipienten für Maria wach halten will.46 Aber sie tritt nur mit direkter Rede in V. 32b auf - und da wiederholt sie, was schon ihre Schwester zu Jesus gesagt hatte (vgl. V. 21). Mit der anschließenden Erwähnung ihres Weinens (V. 33a) schwenkt die Perspektivierung auf die ebenfalls weinenden Juden über; von V. 33b-39a an sind sie und Jesus die Handlungsträger. Es scheint, als ob diese Zurückhaltung den Rezipienten die Möglichkeit geben soll, Marias Glaubenshaltung von der ihrer Schwester zu unterscheiden.

Dafür kann die zweite Geschichte in Bethanien sprechen: die Todessalbung 12,3-8. Jesus rechtfertigt das Handeln Marias mit dem Hinweis auf seinen Tod V. 7: Laß sie, damit sie es für den Tag meines Begräbnisses tue. Mit Maria gelingt es dem Erzähler also, eine Verbindung zwischen dem Grab des Lazarus und dem Jesu, zwischen dem Leben des Lazarus und dem Jesu herzustellen. Und es ist die Glaubenshaltung der Maria, die jetzt (12,3; bes. V. 1: sechs Tage vor dem Todespassa) das Wesentliche erkennt und tut. Hier ist ihre Antwort. Martha hatte sie in V. 27 gegeben. Ihr galt die tadelnde Rückfrage Jesu in V. 40b.

In dieser Hinsicht endet der narrative Diskurs über den Inhalt und die Kraft des Glaubens vor der Erfahrung des Todes erst in 12,7 - zugleich ergibt sich damit (12,3) die inclusio zu 11,2. Diese Erwähnung der Salbung in Bethanien erinnert den Rezipienten an seine Kenntnis der Erzählinhalte (s. o.) und weckt zugleich sein Interesse für die Geschichte Marias; und sie ist textintern Prolepse für das ab 12,1 Berichtete. Deshalb kann 11,2 als Indiz für die vom Autor beabsichtigte relecture, das erneute Lesen des Johannesevangeliums, bewertet werden.47 Erst beim wiederholten Lesen des Makrotextes werden die vielen Pro- und Analepsen deutlich und verständlich. Zu diesen gehört auch die Erinnerung an das Schweißtuch (sudarion) Jesu, das 20,7 in besonderer Weise hervorgehoben wird; vgl. 11,44: ’sein Gesicht verhüllt mit einem Schweißtuch’. Lazarus hat den physischen Tod wiederum vor sich. Der intendierte Leser indessen hat gleichsam die Auferstehung Jesu hinter sich.48

Was sieht er? Die Leseanweisungen in V. 4.40 fordern dazu auf, die Herrlichkeit Gottes in der Gegenwart des Todes zu sehen. Nimmt man die bisher beobachteten Indizien der narrativen Gestaltung wahr, so ist die Lebenszusage Jesu von dem erzählten Machterweis an Lazarus zu unterscheiden. Sein Geschick kann das Leben, von dem Jesus spricht, nur zeichenhaft und - vor der erneuten Todesgrenze - fragwürdig darstellen. Die Schlußszene ist zurückhaltend gestaltet. Sie endet in V. 44c in direkter Rede; dadurch erhält die Erzählung ein offenes Ende. Eindringlich wird dieser ins Leben Zurückgerufene mit den Attributen seines Todes versehen: stinkend, stumm,49 mit Binden umwickelt,50 der Kopf mit dem Sudarion umhüllt.
Diese narrative Gestaltung regt zum erneuten Lesen der Geschichte an. Was wollte Johannes erzählen? Das Sehen, das Martha verheißen war (vgl. V. 40), führt zu neuem Sehen
(vgl. 1,14). Die einförmige Klage der Schwestern (V. 21.32) wird zum Hinweis, daß Jesu Abwesenheit zum Interpretament dafür werden kann, was ’Tod’ bedeutet.51 Die Lebenszusage im Angesicht des Todes geht weit über das Geschick des Lazarus hinaus, sie stellt es gleichsam in den Schatten.52

Diese Geschichte ist kein Mirakel, das vorgibt, die Realität des physischen Todes überspringen zu wollen. Sie dient vielmehr dazu, den Lesern und Hörern des Evangeliums von der Überwindung des Todes vor dem Hintergrund seiner unerbittlichen Wirklichkeit so zu erzählen, daß sie die Lebenszusage Jesu, die ihnen gilt, aufnehmen können. Johannes hat keinen Glauben vor Augen, der sich über den Tod Illusionen macht; und er weiß genau zwischen seiner unbetretbaren Welt (vgl. V. 38) und dem Leben als dem entscheidenden ’Hier und Jetzt’
des Glaubens (V. 25 f.) zu unterscheiden. Das ’er wird leben, auch wenn er stirbt’ wird auf diese Weise illustriert, erzählt.53 So wird die Herrlichkeit Gottes sichtbar: im Angesicht des Todes; und nur so wird sie zu seiner Überwindung.

Summary

Looking at the interplay between the narrative structure and the ad hominem form of the parable, ’The Raising of Lazarus’, an attempt is made here to answer the question, what is being communicated by St. John in this narrative text. Special attention is paid first of all to its intertextuality, to the different degrees of explanatory detail, and to the narrative structure. Against this backgroud, it is shown that the text is concerned with a reflective narrative including specifically the person to whom it is addressed. It is a narrative discourse about the way, power, and relevance of faith in relation to the experience of death. The powerful Lazarus metaphor is used to distinguish itself from, and surpass Jesus as the ’giver of life’ (John 5:25 f.), in order to convince the reader of the gospel of the need to accept the victory of life over death and its inexorable reality.

Fussnoten:

1) So vermittelt z. B. die zuletzt erschienene Kommentierung dieser Perikope (U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1998) den Eindruck, es handle sich um ein ’realistisches’ Geschehen: "Und was nun geschieht, grenzt in seiner Ungeheuerlichkeit ans Absurde, - wenn der Glaube darin nicht das Zeichen wahrnimmt, das weit hinaus über den - eher abstoßenden - irdischen Aspekt der Wiederbelebung dieses Toten unter extremen Bedingungen, auf das Wunder aller Wunder hinweist: auf die Auferstehung des gekreuzigten Sohnes Gottes. Nicht daß jenes Wunder weniger ’realistisch’ wäre als dieses ..." (180 zu V. 43 f.). Die vorliegenden Überlegungen versuchen demgegenüber, das "Absurde" des erzählten Geschehens im Zusammenhang der narrativen Gestaltung der Perikope und ihrer intendierten Botschaft zu verstehen.

2) W. Neidhart, Vom Erzählen biblischer Geschichten, in: Erzählbuch zur Bibel. Theorie und Beispiele, W. Neidhart, H. Eggenberger [Hrsg.], Zürich/Einsiedeln/Köln 41984, 15-113, stellt im Blick auf das Erzählen von Wundergeschichten zutreffend fest: "Der Religionslehrer, der mit einiger Betonung ein wörtliches Verständnis von Wundergeschichten vertritt, macht die Frage, ob diese Geschichten passiert sind, zur entscheidenden Glaubensfrage. Er zwingt die Schüler, die Gottesfrage gleichzeitig und in gleichem Sinn wie die Wunderfrage zu beantworten. Für sie bedeutet dann: ’Ich kann nicht glauben, daß die Wundergeschichten einen historischen Sachverhalt wiedergeben’ gleichzeitig: ’Ich kann mit dem Gott der Bibel nichts anfangen. Ich muß mir eine Weltanschauung ohne Gott aufbauen’" (85 f.). Kursivschreibungen in Zitaten entstammen jeweils dem Original.

3) Joh 11 und 12 bilden die Klimax des johanneischen Erzählfadens; ab Kap. 13 wendet sich die Erzählung dem Passionsgeschehen zu (vgl. 13,1), so daß die Kapitel 11 und 12 das Ende des vorderen Teiles bilden. Die Lazarusgeschichte erzählt das siebte und zugleich letzte Wunder Jesu im Johannesevangelium. Auch im Blick auf diese Zählung (zur Bedeutung der Siebenzahl vgl. z. B. Gen 4,24; Ex 12,15; Jos 6,4; Sach 4,2.10; Hiob 2,13; Mk 16,9; Lk 8,2; Mt 18,21 f.; Act 6,3; Offb 1,4.12.16; 5,1.6) bildet sie den Höhepunkt der erzählten Wundertaten Jesu. Sie mündet ein in den formellen Todesbeschluß des Hohen Rates gegen Jesus (11,46-53). Die Erweckung des Lazarus ist in der Perspektive des Johannesevangeliums der letzte Anstoß für den Todesweg Jesu.

4) Die Gestaltung zeigt, daß damit kein bedeutungsloses Nebenmotiv gemeint ist. Die Botschaft an Jesus V. 3 lautet: Der, den du liebst, ist krank (ide hon phileis asthenei). V. 5 spricht im Autorkommentar von der Liebe Jesu zu Martha und ihren Geschwistern (egapa de ho Iesus ten adelphen autes kai ton Lazaron). Jesus spricht in V. 11 von Lazarus als ’unserm Freund’ (Lazaros ho philos hemon). Und ’die Juden’ interpretieren das Weinen Jesu als Ausdruck seiner Liebe zu Lazarus V. 36 (Ide pos ephilei auton).

5) Vgl. auch 5,20 f.; 13,1.34; 16,27; 17,26.

6) Vgl. den Gebrauch der Worte agapan in 15,9.12.17, agape in 15,9 f.13, philos in 15,13-15.

7) Vgl. S. M. Schneiders, Death in the Community of Eternal Life: History, Theology, and Spirituality in John 11, Interpretation 41 1987, 44-56: 46.

8) Vgl. dazu H. Thyen, Die Erzählung von den Bethanischen Geschwistern (Joh 11,1-12,19) als ’Palimpsest’ über synoptischen Texten, in: The Four Gospels 1992, FS F. Neirynck, F. van Segbroeck, C. M. Tuckett, G. van Belle, J. Verheyden [Hrsg.], BETL 100, Leuven 1992, 2021-2050; U. Busse, Johannes und Lukas: Die Lazarusperikope, Frucht eines Kommunikationsprozesses, in: A. Denaux [Hrsg.], John and the Synoptics, BETL 101, Leuven 1992, 281-306.

9) Johannes verwendet das Verb diakoneo nur hier und 12,26.

10) Vgl. dazu I. R. Kitzberger, Mary of Bethany and Mary of Magdala - Two Female Characters in the Johannine Passion Narrative, NTS 41 1995, 564-586: 571.

11) Vgl. Kitzberger, Mary 572.

12) Die passionsbezogene Deutung in Joh 12,7 f. spricht dafür, daß nun der Erzählinhalt Mk 14,3 ff.(7 f.) im Vordergrund steht.

13) Vgl. M. W. G. Stibbe, A Tomb with a View: John 11.1-44 in a narrative-critical Perspective, NTS 40 1994, 38-54: 52.

14) Natürlich sind auch die synoptischen Totenerweckungserzählungen (Tochter des Jairus Mark 5,21-43 und der Sohn der Witwe zu Nain Lk 7,11-17) im Hintergrund der vorliegenden Erzählung zu sehen.

15) Anders zuletzt Wilckens, Johannesevangelium 175. Die Tatsache, daß es sich im Kontext des Lukasevangeliums um den Namen der fiktiven Gestalt einer Parabel handelt, schließt die oben vertretene Annahme nicht aus.

16) ’etwa eine halbe Stunde entfernt’ (V. 18 - die Entfernung betrug 15 Stadien, ca. 3 km).

17) Weitere metanarrative Elemente finden sich z. B. in V. 5.13.

18) Die V. 9-10 sind wegen ihres gnomischen Charakters und der Einleitung der direkten Rede in V.11 - ’das sagte er, und danach spricht er zu ihnen’ - ebenfalls hier einzuordnen.

19) Vgl. Stibbe, Tomb, 41.

20) Vgl. dazu - unter Hinweis auf 2,3 f.; 7,3-9 - C. H. Talbert, Reading John: A Literary and Theological Commentary on the Fourth Gospel and the Johannine Epistles, London 1992, 171 f.; D. A. Lee, The Symbolic Narratives of the Fourth Gospel. The Interplay of Form and Meaning, JSNT SuppSer 95, Sheffield 1994, 199.

21) Vgl. Stibbe, Tomb 42 f.

22) Vgl. Kitzberger, Mary 573.

23) Vgl. auch V. 34: Wo habt ihr ihn hingelegt - komm und sieh es.

24) Sie wird unterstützt durch die Wendung ’als sie hörte ...’ hos ekusen in V. 20.29.

25) Vgl. dazu im vorlaufenden Kontext 1,50; 2,23-25; 3,2 ff.; 6,26 ff.; 7,31 u. ö.

26) Vgl. für den ’letzten Tag’ Jes 2,2; Micha 4,1; für jüdische Auferstehungshoffnung z. B. Dan 12,1-3; 2 Makk 7,22-24; 12,44; Act 23,8.

27) Vgl. z. B. 3,16.18; 5,24 f.; 6,40.

28) Vgl. zu dem ’du bist...’ andere gleichlautende Identifikationsaussagen in bezug auf Jesus: 1,49; 6,69; ferner 10,24; 18,33.

29) Vgl. BDR 340: Das Perfekt drückt die ’Dauer des Vollendeten’ aus. Perfektgebrauch im Johannesevangelium bei ’glauben’: z. B. 3,18; 6,69; 8,31; 16,27; 20,29. Das Verb wird im Ganzen 92x im Johannesevangelium gebraucht; im Präsens z. B. 1,50; 4,42.

30) Vgl. F. Moloney, The Faith of Martha and Mary. A Narrative Approach to John 11,17-40, Bibl 75 1994, 471-493: 477.

31) Ausgewogene Überlegungen bietet Lee, Narratives 205.f. Sie weist zusätzlich auf die kritische Bedeutung von V. 39 für die Annahme hin, V. 27 enthalte gleichsam die Klimax des Credos und folgert überzeugend, daß "the narrator leaves open the question of the extent of that faith" (206). Vgl. ähnlich B. J. Byrne, Lazarus: A Contemporary Reading of John 11: 1-46, Collegeville 1991, 54.

32) Sagt V. 15 ausdrücklich, daß das Geschehen dazu dienen soll, daß sie glauben können - so zeigt die Antwort des Thomas in V. 16 vordergründig völliges Mißverstehen, hintergründig zugleich einen Bezug zu der durch die Auferweckung des Lazarus endgültig beschlossenen Hinrichtung Jesu; vgl. V. 47 ff.

33) Zur literarischen Gestaltung ihres Porträts vgl. Stibbe, Tomb 47 f.

34) Die Notiz ist offenbar von der erzählerischen Absicht geleitet, daß dadurch Marias Weggehen ’falsch’ verstanden wird, die Juden ihr nachgehen und so welthafte Öffentlichkeit hergestellt wird: Sie werden Zeugen des weiteren Geschehens.

35) Die Bezeichnung ’Lehrer’ erinnert den Leser an andere gleichlautende Anreden: 1,38; 3,2. An diesen beiden Stellen im vorlaufenden Kontext sprechen die ersten Jünger bzw. Nikodemus Jesus mit dem Wort ’Lehrer’ an und werden damit zugleich seiner tatsächlichen Identität nur teilweise gerecht. Vgl. dazu Moloney, Faith 480. Vgl. auch 13,13 f; 20,16; die Anrede ’Lehrer’ ist bekanntlich gleichbedeutend mit Rabbi; vgl. 4,31; 6,25; 9,2; 11,8 - beide Worte werden im Johannesevangelium regelmäßig verwendet, um ein begrenztes Erfassen der Identität Jesu zum Ausdruck zu bringen.

36) Vgl. Moloney, Faith 480. Besonders die entsprechenden Wendungen in Kap. 10, die die Bedeutung der Stimme des guten Hirten thematisieren, sind dem Leser/Hörer gegenwärtig. Zum Zusammenhang der Kap. 10+11 vgl. Talbert, Reading 164 ff.171.

37) Vgl. zum gefüllten ’Hören’ im Johannesevangelium: 1,37.40; 3,8. 29.32; 4,42.47; 5,24.25.28.30; 6,45; 7,40.51; 8,47. Es wird im Zusammenhang mit dem Hirtenbild 10,3.16.20.27 verwendet; und es kennzeichnet die, die auf die Stimme Jesu nicht hören wollen (5,37; 6,60; 8,38.43.47).

38) So auch Moloney, Faith 483.

39) Anders Moloney, Faith 483.485. Daß der Glaube Marias gegenüber dem Marthas in dieser Perikope höher bewertet sein soll, ist kaum einsichtig zu machen.

40) Diese Worte stehen in denkwürdiger Opposition zu den ersten Worten Jesu im Johannesevangelium nach der Frage ’was sucht ihr’ (1,38): Kommt und seht! (1,39).

41) Der Rezipient weiß, daß Jesus allwissend ist; vgl. z.B. 1,47-50.

42) Vgl. 1,10.

43) Vgl. bereits V. 26c.

44) Vgl. ferner 1,14; 2,11.

45) Vgl. die inhaltlich analoge Wendung V. 27b.

46) Vgl. die Wendungen in V. 1 und 2.

47) Vgl. dazu zuletzt J. Zumstein, Der Prozeß der Relecture in der johanneischen Literatur, NTS 42 1996, 394-411.

48) Vgl. A. Schlatter, Das Evangelium des Johannes - ausgelegt für Bibelleser, 1899, 247: "Nicht Bewahrung vor dem Tod, sondern Verklärung durch den Tod ist das Jesus zugeteilte Los, und dem entspricht auch der Weg, den seine Gemeinde zu gehen hat."

49) Vgl. Stibbe, Tomb 54: "The silence of Lazarus is more deafening than the cry of Jesus. The reader, having imagined his way into the events of the story, is left asking, ’How did Lazarus feel? What ever happened to him?’".

50) Vgl. Talbert, Reading 176: "A person bound in this way, if resuscitated, would be able to shuffle at best."

51) Vgl. Schneiders, Death 48.

52) In meisterhafter Weise hat J. Kremer, Lazarus. Die Geschichte einer Auferstehung. Text, Wirkungsgeschichte und Botschaft von Joh 11,1-46, Stuttgart 1985, diesen Gedanken in der Rezeption des Textes bis in die Gegenwart verfolgt.

53) Vgl. Schneiders, Death 47: "The story is the Evangelist’s way of dealing with the question confronting his community: How is the death of believers to be understood and faced?"