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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

936–938

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schwendemann, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Leib und Seele bei Calvin. Die erkenntnistheoretische und anthropologische Funktion des platonischen Leib-Seele-Dualismus in Calvins Theologie.

Verlag:

Stuttgart: Calwer 1996. X, 415 S., Anhang: VII, 79 S. 8° = Arbeiten zur Theologie, 83. Kart. DM 118,­. ISBN 3-7668-3427-4.

Rezensent:

Christoph Strohm

Der Autor versucht, "die erkenntnistheoretische und anthropologische Funktion des platonischen Leib-Seele-Dualismus in Calvins Theologie" aufzuzeigen. Es fällt jedoch schwer, in der Arbeit eine methodisch sauber und nachvollziehbar durchgeführte Argumentation zu finden. Stattdessen herrscht eine ausgesprochen assoziative, durch "starke", teilweise phrasenhafte Begrifflichkeit überladene Darstellungsweise vor.

Zu Recht hebt der Autor den großen Einfluß Platons auf die Formierung der Theologie Calvins hervor, ohne daß damit freilich wesentlich Neues gegenüber den grundlegenden Arbeiten von Martin Schulze und Gerd Babelotzky gesagt wird. Die Forderung, den Einfluß Platons auf Calvin, insbesondere in Gestalt des Leib-Seele-Dualismus, in den "gesellschaftlichen Kontext" einzuordnen, bleibt bloßes Postulat. Schon die Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der Calvin sein theologisches Werk formuliert hat, erfüllt nicht die elementaren Standards eines wissenschaftlichen Diskurses. "Der Kontext der Theologie Calvins zeichnet sich durch eine Vielzahl speziell städtischer und allgemein gesellschaftlicher Konflikte aus, von denen die wichtigsten der Umgang mit Minderheiten (Ketzer, Täufer, Juden) und die gesellschaftliche Prägung der Rolle der Frauen (Hexenverfolgung, Arbeitsteilung in der frühkapitalistischen Gesellschaft) sind" (7). Im Blick auf die Bedingtheit der Theologie Calvins durch die gesellschaftliche Wirklichkeit vermag der Autor kaum mehr plausibel zu machen, als daß in einer konfliktträchtigen Welt dualistische Erklärungsmuster wie das des platonischen Leib-Seele-Dualismus eine besondere Attraktivität gewannen.

Schon die ersten Sätze der Einleitung lassen nicht recht deutlich werden, ob der Autor sich mit seinen Überlegungen auf das frühe oder das gesamte Werk Calvins bezieht. "Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Leib-Seele-Dualismus in Calvins Theologie (Psychopannychia und Institutio von 1536). Wie die Psychopannychia und die erste Institutio Calvins ist auch der Genesiskommentar von 1554 Gegenstand erkenntnistheoretischer und grundsätzlicher anthropologischer Überlegungen. Aus systematischen Gründen stelle ich diesbezügliche Überlegungen vor Psychopannychia und Institutio. Der platonische Leib-Seele-Dualismus ist in allen Schriften der Bezugspunkt meines theologischen Nachdenkens, von dem ich mir Aufschluß über die Struktur Calvinischer Theologie erhoffe" (1). Im Fortgang der Arbeit werden die diskutierten Texte dann aber nicht zuletzt aus der Institutio 1559 genommen.

In den zusammenfassenden Thesen am Schluß der Arbeit führt der Autor neun "Rollen und Funktionen" auf, die der platonische Leib-Seele-Dualismus in der Theologie Calvins "übernimmt" (vgl. 202 f.). Ich gebe sie im folgenden auszugsweise wieder, da ich mich auch nach der Lektüre des Buches außerstande sehe, sie schlüssig zu erläutern:

"a) erkenntnistheoretische und begründende

b) eine Scharnierfunktion zu gesellschaftlichen und sozialen Dualismen (verknüpfende Funktionen). Gesellschaftliche Krisen und Veränderungen in Genf werden von Calvin wahrgenommen, aber innerhalb der Perspektive des platonischen Dualismus interpretiert.

c) unterscheidende (als Abgrenzungs- und Kampfinstrument zu Täufern, Ketzern, Kritikern usw.)...

d) theologisch-eschatologische: Die Identität des Menschen wird im Gericht vor Gott bewahrt, da die Seele nach dem Tod bewahrt wurde. Eine reine und von Gott geläuterte Seele ist die Voraussetzung für die Calvinische Interpretation der Auferstehung des Leibes.

e) hermeneutische: Bibeltexte und soziale Vorgänge werden unter dem Blickwinkel des platonischen Leib-Seele-Dualismus interpretiert...

f) der paulinische Geist-Fleisch-Dualismus wird von Calvin dem Seele-Leib-Dualismus untergeordnet.

g) rollenzuweisende Funktionen: Das Mann-Frau-Verhältnis bzw. Eheverständnis und die Probleme gesellschaftlicher, sozialer, geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung werden von Calvin anders wahrgenommen und neu definiert. Neudefinitionen sind auch im wirtschaftlichen Bereich deutlich (Geld-Ware-Geld).

h) Calvins Antisemitismus ist nicht zuerst theologisch, sondern sozial begründet.

i) methodische Lebensführung und Askese werden unter Aufnahme des platonischen Leib-Seele-Dualismus neu definiert".

Leider bringt der gesamte Text auch nicht viel mehr Klarheit über diese neun "Rollen und Funktionen" des platonischen Leib-Seele-Dualismus in der Theologie Calvins. Die ersten beiden Kapitel der Arbeit beschäftigen sich mit dem Leib-Seele-Dualismus bei Platon und bringen allgemeine Überlegungen, die freilich häufig in Andeutungen steckenbleiben. So ist die Überschrift des Abschnittes 1.5 formuliert: "Der Leib-Seele-Dualismus ist die Möglichkeit, den Zusammenhang zwischen den Genfer Konflikten und Calvins Theologie zu klären". Was der Text auf S. 12 f. dann aber zu dieser interessanten These sagt, ist ärgerlich, nämlich praktisch nichts.

Kap. 3 (32-58) wird überschrieben: "Calvin übernimmt von Platon nicht nur Begrifflichkeit, sondern auch Struktur und Erkenntnisansatz". Was hier mit "Struktur und Erkenntnisansatz" gemeint ist, wird nicht klar. Es muß jedenfalls entschieden widersprochen werden, wenn der Autor später formuliert: "Der platonische Leib-Seele-Dualismus als grundlegende Struktur der ersten Institutio-Ausgabe" (184). Wenn es hier so etwas wie eine "grundlegende Struktur" gibt, dann ist es der Aufbau der Katechismen Luthers.

In Kap. 4 (59-79) setzt sich der Autor mit den beiden wichtigsten Arbeiten zu Calvins Platon-Rezeption auseinander. Wo aber über die Kritik hinaus eigene Thesen aufgestellt werden, entbehren sie mitunter jeder Grundlage. Abschnitt 4.8 (74-78) ist überschrieben: "Der anthropologische Dualismus wird um einen theologischen ’Geist-Fleisch’-Dualismus und um einen sozialen ’Mann-Frau’-Dualismus und um einen religiösen ’Christen-Juden’-Dualismus erweitert". Ist schon die Überschrift recht umständlich formuliert, so findet sich in dem gesamten Abschnitt nicht ein Argument, das diese weitreichende These untermauert oder auch nur erläutert.

Mehrfach kommt der Autor in anderen Zusammenhängen auf Calvins Bewertung des Judentums zu sprechen (vgl. bes. 200, 209 f. u. 252 f.). Allein Calvins Rede vom "fleischlichen" Aberglauben der Ketzer, der noch schlimmer als der der Juden sei (vgl. Institutio 1536, OS I,48), bietet einen Anknüpfungspunkt für die weitreichende Verbindung des ",Christen-Juden’-Dualismus" mit dem Leib-Seele-Dualismus. Ganz abgesehen davon bleiben die Überlegungen auch in sich widersprüchlich. Einerseits erläutert Sch. einen theologischen "Antisemitismus" (richtig: Antijudaismus!), andererseits will er dann doch besser von einem "sozialen Antisemitismus" ­ was auch immer das sei ­ sprechen. Ähnlich assoziativ bleibt die Darstellung des Zusammenhangs von Leib-Seele-Dualismus und dem hierarchisch gestalteten ",Mann-Frau’-Dualismus". Inwieweit sich Calvin hier von den in seiner Zeit gängigen Denkmustern unterscheidet und welche Rolle der platonische Leib-Seele-Dualismus dabei gespielt haben soll, wird nicht deutlich. Das Niveau der jüngsten Arbeit zum Thema (John L. Thompson, Calvin and the Daughters of Sarah, Genf 1992) wird in keiner Weise erreicht. Die im Inhaltsverzeichnis als Exkurs "Männliche und weibliche Wissenschaft" (226) angekündigten Ausführungen auf zwölf Zeilen könnten getrost entfallen.

Das Kap. 5 (80-94) will die "wissenschaftstheoretische Frage nach der Funktion des Dualismus" klären. Die Kap. 6 und 7 (95-124) beschäftigen sich dann eingehender mit den Wirkungen des "platonischen Erkenntnisbegriffs" und des "platonischen Leib-Seele-Dualismus’" auf Calvins Anthropologie. In den Kap. 8-10 (125-200) werden Calvins Frühschriften, insbesondere die Psychopannychia kommentiert. Die Arbeit am konkreten Text führt zu etwas stringenterer und nachvollziehbarer Argumentation, aber auch hier zeigt sich die argumentative und sprachlich-stilistische Schwäche der Arbeit. Ich nenne nur die Überschriften 8.13: "Vermutlich gibt es einen Zusammenhang zwischen Bildersturmpraxis in Genf und Calvins Polemik in der Psychopannychia" und 8.14: "Die Motive des Bildersturms sind vielschichtig und reichen in die spiritualistische Volksreligiosität hinein". Die Kap. 11 und 12 (201-218) formulieren noch einmal thesenhaft die Ergebnisse der Arbeit.

Neben fünfzehn Exkursen zu den verschiedensten Themen ist der Arbeit ein Literaturverzeichnis, das umfassend über die wichtigste, auch neuere Literatur zu Calvin informiert, beigegeben (darin freilich einige ärgerliche Fehler: 385 ­"Robert Bultmann" statt Rudolf Bultmann; 388 ­ "Richard von Dülmen" statt Richard van Dülmen, vgl. auch 343). Register fehlen, angefügt ist jedoch eine hilfreiche deutsche Übersetzung von Calvins früher Schrift Psychopannychia (86 S.).

Es wären noch zahlreiche Details der Arbeit zu diskutieren und zu korrigieren. Dem Rez. ist nicht verständlich, aus welchen Gründen dieses zwar durchaus materialreiche, aber sprachlich und argumentativ schwache Werk in die Calwer "Arbeiten zur Theologie" aufgenommen wurde.