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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

922–926

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Guinot, Jean-Noël

Titel/Untertitel:

L’´Exégèse de Théodoret de Cyr.

Verlag:

Paris: Beauchesne 1995. 879 S. 8° = Théologie Historique, 100. fFr 360.­. ISBN 2-7010-1303-3.

Rezensent:

Silke-Petra Bergjan

Diese Arbeit zum exegetischen Werk Theodorets (=Th.) geht auf die jahrelange Beschäftigung mit seinen Texten zurück. Nach der unveröffentlichten Dissertation zum Jes.Kommentar Th.s (1975), der Edition dieses Textes (SC 276, 295, 305, 1980-1984) und einer Reihe von Aufsätzen hat Jean-Noël Guinot jetzt eine umfangreiche Untersuchung zur Exegese Th.s vorgelegt. Es geht G. in dieser Untersuchung nicht darum, die Exegese Th.s materialiter vorzustellen, sondern die Grundzüge der exegetischen Arbeit Th.s zu bestimmen.

G. setzt mit der Frage (29 f., 66-76) nach dem Charakter der Texte Th.s ein: Worin liegen die spezifische Bedeutung und der originale Beitrag Th.s, der in einer Zeit schreibt, in der zur Exegese schon alles gesagt ist, und von dem man nicht nur das blasse Bild eines Kompilators zeichnen will, dessen Vorlagen schwer zu bestimmen sind? G. gelingt es, eine klare Vorstellung von Person und Werk Th.s zu entwerfen. Trotz seiner eigenständigen Arbeit erweist sich Th. durch die Quellen und Methoden seiner Interpretation als antiochenischer Theologe, der ununterbrochen an der Auslegung der Bibel arbeitet und sie in den Dienst der aktuellen christologischen Kontroverse stellt. G. betont die Zusammengehörigkeit von Biographie (35-40) und Exegese. Mit diesem Ansatz nimmt G. die Datierung der Kommentare vorweg.

Aufgrund innerer Kriterien legt G. die Reihenfolge fest, in der die Kommentare entstanden sind (43-48). Er entscheidet sich gegen eine zu enge Anlehnung der Datierung an ep.82 und 113 und datiert mit M. Brok die Kommentare zu Ps, Jes und Jer in die Zeit zwischen 441 und 448. Nach 448 sind die Quaestionen zum Oktateuch entstanden, die in ep.82 und 113 nicht erwähnt werden. Nachdem G. somit der Ansicht ist, daß Th. bis kurz vor seinem Tod an den Kommentaren arbeitete, stellt sich die Frage, wann Th. die ersten Kommentare abschloß. G. entscheidet sich für einen Zeitraum, der nach 431 beginnt, und zwar ­ mit Hinweis auf M. Richard ­ aufgrund der christologischen Terminologie. G. referiert, daß nach Richard(1) konkrete Formulierungen in der Beschreibung der menschlichen Natur Christi in den Texten aus der Zeit vor 431 vorliegen, in den Texten aus der Zeit nach 431 aber fehlen (53). Aufgrund der «expression postéphésienne de sa christologie» (60) datiert G. die Redaktion der ersten Kommentare nach 431.

Aus der verkürzten Wiedergabe der These Richards ergibt sich folgendes Problem: Richard fragt in «L’activité littéraire», ob und welche Texte Th. vor 431 geschrieben hat, äußert sich insbesondere zu den Texten Expositio rectae confessionis und De incarnatione Domini und geht auf die christologische Argumentation ein. Die These, daß in den Texten Th.s eine Entwicklung der christologischen Terminologie festzustellen sei, daß Th. die konkrete Terminologie, die er in den frühen Texten neben der abstrakten Terminologie verwendete, später aufgegeben habe, ist eine Weiterführung des ersten Aufsatzes, die an eine Beobachtung zu De providentia anschließt(2) und sich ausgearbeitet in «Notes sur l’évolution doctrinale» findet. Richard interpretiert die genannte Veränderung als eine Veränderung des theologischen Stils, nicht der theologischen Position, die einen Prozeß voraussetzt, der aber keinen Bruch bedeute, da Th. die abstrakte Terminologie bereits in seinen frühen Werken benutzte und daher nicht leicht zu datieren sei. Richard legt sich noch einmal mit Hinweis auf De providentia or.10, die er mit ep.82 und 113 auf vor 437 datiert, auf die Zeit vor 437 fest. Von einer vor- und nachephesinischen Terminologie spricht Richard hier nicht.(3)

G.s Untersuchung läßt sich durch drei Schwerpunkte strukturieren. Der Bibeltext Th.s, seine Textkritik und deren Funktion leiten das 4. Kapitel ein, in dem G. an der Textkritik Th.s die von P. Nautin für den Jes.Kommentar Th.s formulierte These überprüft, derzufolge Th. den Kommentar Origenes’ benutzt habe und, indem er einen Ausgleich zwischen alexandrinischer und antiochenischer Exegese schaffe, in seiner Exegese eine Mittelposition vertrete (207). Nach der Quellenfrage bildet die exegetische Methode Th.s den zweiten Schwerpunkt, es schließt sich drittens die Frage nach der Aktualität der Exegese Th.s an.

Die Kommentare Th.s sind neben Origenes und Euseb von Caesarea wichtig für die Erforschung des LXX-Textes. Ihre Bedeutung liegt in der Verwendung eines alten LXX-Textes, der von der Hexapla unabhängig sei und den G. in Abgrenzung von der Diskussion um eine lukianische Rezension als "antiochenischen Text" bezeichnet, ohne darunter einen in allen biblischen Büchern einheitlichen Text zu verstehen und ohne damit mehr als eine annähernde Entsprechung zum Text Theodors und Chrysostomos’ auszusagen (170-174). Neben den vereinzelten Hinweisen auf die Quinta editio (176), auf Varianten in den Antigrapha (180), auf den hebräischen Text (183-185) und die Lesarten «des Syrers», die, wie G. wahrscheinlich machen kann, auf die eigene Lektüre der syrischen Übersetzung durch Th. zurückgehen (186-190), bestehen die textkritischen Ausführungen Th.s im Vergleich zwischen LXX und A, S und Th, Die Häufung der textkritischen Bemerkungen und der Umfang der Zitate aus A, S und Th, variieren zwischen den Kommentaren, aber auch innerhalb einzelner Kommentare erheblich, so daß G. diesen Sachverhalt nicht auf unterschiedliche Vorlagen zu den jeweiligen biblischen Büchern zurückführt, sondern durch eine gewisse Eigenständigkeit Th.s erklärt.

Daß die Hinweise auf A, S und Th, im Jer.Kommentar völlig fehlen und der Jer.Kommentar hierin eine Ausnahme im Werk Th.s darstellt, verbindet G. mit der Anfrage an die Authentizität des Textes, ohne allerdings näher auf dieses Problem einzugehen (178). G. hält fest, daß die Authentizität des Textes nicht hinreichend gesichert ist (216, vgl. 745 Anm. 55), ohne daß G. deshalb im folgenden darauf verzichtet, sich weiterhin auf diesen Kommentar zu beziehen. Aussagen über Hebräisch-Kenntnisse Th.s sind schwierig, da Verweise auf den hebräischen Text im 5. Jh. auf Kenntnis aus zweiter Hand beruhen können und für Worterklärungen Hilfsmittel zur Verfügung standen. G. zieht einige wenige Belege heran, in denen Th. auf die syrische Entsprechung zu hebräischen Worten hinweist, und schließt von den Syrisch-Kenntnissen Th.s auf dessen Hebräisch-Kenntnisse, die ihm mehr als anderen den Zugang zum hebräischen Text ermöglichten (190-197).

Mit der Auflistung der Varianten in den Kommentaren Th.s stellt sich die Frage nach den Quellen dieser Textkritik, auf die G. drei mögliche Antworten in Erwägung zieht (180, 207): Entweder besaß Th. eine Bibel mit entsprechenden Glossen oder den Zugang zu einer Kopie der Hexapla (evtl. für die Bücher Ps und Jes) oder aber er fand die Informationen in den Kommentaren seiner Vorgänger. In der detaillierten Untersuchung geht G. die atl. Kommentare Th.s einzeln durch.

In den Kommentaren zu Jer, Dan und Ez haben Th.s textkritische Bemerkungen nach G. einen anderen Ursprung als die Kommentare Origenes’ und Eusebs von Caesarea. Wenn Th. im Kommentar zu Cant von Origenes abhängig ist, gehe er mit seiner Vorlage sehr frei um. Im Jes.Kommentar haben Th. und Euseb eine größere Zahl von gemeinsamen Varianten, G. bleibt dennoch gegenüber der These einer Abhängigkeit zurückhaltend. Anders drängt sich im Psalmenkommentar für G. der Eindruck einer direkten Beziehung zwischen Th. und Euseb auf, allerdings auch hier mit der Einschränkung, daß diese Beziehung nur einen Teil der textkritischen Bemerkungen Th.s erkläre. «S’il utilise le commentaire d’Eusébe, on conviendra qu’il l’exploite de façon sélective et imite avec une relative indépendence» (245).

Ein Gebrauch der Psalmenkommentare Diodors, der der Textkritik in seinem Kommentar nur wenig Platz einräumt, Chrysostomos’ und Theodors läßt sich für die textkritischen Bemerkungen nach G. nicht nachweisen. Aus den textkritischen Beobachtungen zeichnet G. das Bild einer relativ unabhängigen und eigenständigen Arbeit Th.s, der nicht die Kommentare seiner Vorgänger ausschrieb, sondern als Hilfsmittel eine Bibel mit textkritischen Glossen verwendete (251 f.). Daß G. sich hierunter eine Art Dossier vorstellt, das auf eine lange Beschäftigung mit der Bibel und Th.s exegetische Ausbildung und Arbeit als Mönch zurückgehe und also von Th. selbst hergestellt wurde, erfährt man in der biographischen Einführung (65, vgl. 802).

Weitere Anhaltspunkte für die Existenz einer solchen Bibel oder auch genauere Angaben etwa zu ihrem Umfang fehlen.

Die These, daß Th. die exegetischen Arbeiten des Origenes einsah, findet G. im Bereich der Textkritik nicht bestätigt. Mit dem Fazit, daß die Grundlinien der Exegese Origenes’ verstreut in den Kommentaren, selbst im antiochenischen Milieu, zu finden waren, ohne daß man Origenes zur Erklärung bemühen muß, ist der erste Teil der These Nautins widerlegt, aber noch nicht die Frage nach den Quellen der exegetischen Arbeit Th.s für nicht beantwortbar erklärt.

G. nimmt die Frage noch einmal auf und untersucht ca. 270 Belege (631-799), in denen Th. mit dem Terminus tines auf ungenannte Exegeten verweist, sich in den meisten Fällen von ihnen abgrenzt, ihnen bedingt recht gibt oder ihnen folgt. Als Ergebnis hält G. fest, daß Th. mit nicht mehr als mit einem oder zwei Kommentaren gearbeitet habe, seine Informationen insbesondere aus den Kommentaren Diodors bezog und von den "allegorisierenden" Exegesen nicht viel mehr als die Texte Eusebs von Caesarea kannte, dessen Onomastikon und Chronikon er als Hilfsmittel benutzte.

Im einzelnen: Im Cant.Kommentar verarbeite Th. Origenes ­ daß Euseb einen Kommentar zu Cant geschrieben hat, müßte erst nachgewiesen werden ­, in den Kommentaren zu den Paulus-Briefen Theodor von Mopsuestia und Chrysostomos, zu den zwölf Propheten Theodor, im Ps.Kommentar Diodor und Euseb, im Jes.Kommentar schließt G. auf die Benutzung Theodors, da Th. sich gegen tines, die eine Interpretation «judaisante» vertraten, richte, in den Quaestionen verarbeite Th. zu Genesis Theodor und Chrysostomos, insgesamt aber wieder Diodor. Th. benutzt nach G. also Kommentare, die im antiochenischen Milieu entstanden sind, er bewahrt einen bedeutenden Teil der Exegese Diodors und wird, was G. immer wieder in seiner Arbeit vorausgesetzt hat, auf der Grundlage seiner Quellen als antiochenischer Theologe eingeordnet und bestimmt. Seine Originalität, d. h. seine Bedeutung für den Historiker, besteht in dem Erbe, das er erhält und mit dem er eigenständig umgeht. Kenntnisse über andere als die genannten Exegeten und Details ihrer Auslegung, wie z. B. über Gregor von Nyssa, Cyrill von Alexandrien und möglicherweise auch Josephos, stammen nach G. nicht notwendig aus eigener Lektüre, sondern aus zweiter Hand und aus Florilegien.

Dieses Ergebnis bedeutet, daß Th. sich nicht durch seine Quellen von den Antiochenern unterscheidet, sondern durch eine Perspektive, die in der kritischen Verwertung seiner Vorlagen deutlich ist. Es bleibt die Frage, worin diese perspektivische Differenz begründet ist.

Ein zweiter Schwerpunkt der Untersuchung besteht in der Darstellung der exegetischen Methoden Th.s. Er versteht die Schrift als inspiriert und wahr, als sinnvoll in allen Einzelaussagen und als kohärentes Ganzes (77-165). Ausgehend von diesem Konzept der Schrift benennt G. drei Aspekte der Schriftauslegung, mit denen sich Th. in die breite exegetische Tradition einordnet: Sie betreffen die Disposition des Exegeten, die Einordnung eines Verses oder Wortes in seinen Kontext und die Beachtung der akoluthia (253-263, vgl. 459-462). Zur weiteren Orientierung bespricht G. die Vorworte der Kommentare zu Cant, Dan und Ps und betont in Anlehnung an eine Aussage im Psalmenkommentar die Distanz, die Th. sowohl gegenüber den Extremen der alexandrinischen Allegorie als auch gegenüber antiochenischen Engführungen in der historischen Auslegung bewahrt (264-281). Später interpretiert G. diese doppelte Distanz als eine Mittelposition (818, vgl. Nautin), unter der er eine Synthese versteht, die Th. auf der Grundlage der antiochenischen exegetischen Methode hergestellt habe: «la démarche méthodologique demeure exclusivement antiochienne» (819).

Die metaphorische und typologische Auslegung, von Th. programmatisch in den Kommentaren zu Cant und Ez eingeführt, hält G. in Abgrenzung zum Begriff der Allegorie auseinander. Th. verwendet den Terminus angeloria äußerst selten. Diesen terminologischen Befund interpretiert G. mit dem Hinweis auf das typisch antiochenische Mißtrauen gegenüber der Allegorie (293, vgl. 271). Während aber die Abgrenzung zwischen figürlicher, metaphorischer, tropischer oder auch pneumatischer Exegese und Allegorie nicht gelingt und, wie G. einräumt, die Grenze zwischen den Begriffen "allegorisch" und "tropisch" in den Texten Th.s fließend ist (304), wird nach G. die Eigenart der Typologie gerade in der Abgrenzung zur Allegorie deutlich. Die Typologie, so G., ersetzt nicht den literarischen Sinn (G. spricht auch von Realität) des Textes, sondern führt ihn fort und stellt eine Gruppe von Prophetien in den neutestamentlichen Bezugsrahmen (307f.). Die Typologie bleibt nach G. gebunden an das "Zeugnis der Tatsachen", an die Geschichte, die nach G. der typologischen Auslegung die Garantie ihrer Objektivität zusichert (318, 425).

G. erklärt Aufbau und Funktion von Prolog und Hypothesis und die Unterteilung der Kommentare (324-45, vgl. 282-292). Obwohl Th. sich nicht zu dem Griechisch der LXX äußert, ist er sich des Abstandes zur Sprache seiner Zeit bewußt (352). Lexikographische Bemerkungen zu hebräischen Worten und zu Bedeutungsbesonderheiten in der LXX sowie grammatische Bemerkungen und Hinweise zu Stil und zu Figuren werden besprochen (356-376). Mehr als die Auslegung kata reton liege den Antiochenern an der Auslegung kath historian, und die Qualität der Auslegung hänge wesentlich von der historischen Bildung des Exegeten ab. G. fragt daher nach der historischen Bildung Th.s und stellt die verstreuten historischen Informationen aus den Kommentaren Th.s zusammen (380-413).

Einen dritten Schwerpunkt bildet das sich hieran anschließende 7. Kapitel über Th.s Polemik gegen Heiden, Juden und Häretiker. Es hat die Funktion, den aktuellen Hintergrund der Exegese Th.s zu bestimmen. G. räumt zwar ein, daß der Polemik im 5. Jh. in Syrien «une relative actualité» zukommt, fragt dann aber, ob die Polemik in der bei Th. traditionellen Gestalt indirekt eine bestimmte Absicht hat, die ihre Präsenz in den Kommentaren rechtfertigt (466).

Der Ton, den Th. in der antipaganen Polemik (466-484) anschlägt, gehört nach G. ins literarische Genre und ist nicht Ausdruck einer unmittelbaren Auseinandersetzung. G. folgt hiermit der verbreiteten Vorstellung, nach der ein Heidentum, das keine Gefahr für das Christentum darstellt, nicht die Aktualität der apologetischen Literatur gewährleistet und nach der der Apologet sich nicht mit paganen Restbeständen beschäftigt. Die sich anschließende Frage, ob das Heidentum wirklich verschwunden sei, hat die Riten im christlichen Milieu und die kontaminierten Gottesvorstellungen der Christen im Blick. Der moderate Ton und der konventionelle Charakter der Vorwürfe, die Th. allgemein gegen "die Juden" formuliert, lassen nach G. nicht auf einen aktuellen Konflikt (486 f.) schließen.

G. unterscheidet drei Ebenen der Polemik. Er informiert ausführlich über die Elemente der Polemik gegen Juden bei Th. und stellt einen Zusammenhang her zu dem durch die historische Lesart bestimmten Interpretationsrahmen, d. h. zu einer Exegese, die die Geschichte als den Ort der Manifestation des göttlichen Willens begreift (495). Th.s Polemik richte sich zweitens gegen die jüdische Exegese und deren Reaktion auf die christliche Interpretation des AT.

Da sich dieselbe Polemik drittens häufig "indirekt", d. h. ohne Bezugnahme auf die Juden findet, schließt G.: «Sous le couvert de la polémique antijuive, Théodoret vise en fait des exégètes chrétiens» (517). G. bezieht diese Polemik zurück auf eine innerchristliche Kontroverse um eine bestimmte Form der Exegese. Seines Erachtens handelt es sich um eine judaisierende Exegese, die er mit der Exegese der "Alten Antiochener", insbesondere mit Theodor, identifiziert. Ohne Namen zu nennen setzt sich G. zufolge also Th. mit seiner eigenen exegetischen Schule auseinander.

Mit der Polemik gegen Häretiker stehen erstmals die Pauluskommentare Th.s im Vordergrund. G. fragt noch einmal nach der Aktualität der "Polemik" gegen Gnostiker und Markion, Sabellius und den Monarchianismus, gegen Arianer, Eunomianer und Pneumatomachen. Der Kampf gegen Markioniten und Arianer gehört nach den Briefen Th.s in seine ersten Amtsjahre in Cyrus, ihm komme aber später, so interpretiert G., dieselbe Bedeutung nicht mehr zu, und er könne somit die ausschließlich in den späten, d. h. in den Kommentaren zu den Paulusbriefen zu findende Häretiker-Polemik nicht erklären (557 ff.). Th. nimmt in den Kommentaren nicht direkt Bezug auf die christologische Kontroverse, er nennt weder die Thesen des Apollinarius noch die des Nestorius. Wenn zugleich die Debatte mit Arius und Eunomius einen wichtigen Platz in seiner Exegese hat und Th. sich nicht in seinem Gegner irrt, kann G. noch einmal schließen, daß Th. eine direkte Auseinandersetzung, nämlich mit Cyrill, meidet, die Debatte seiner Zeit aber in den Kommentaren auch präsent ist, wenn Th. sich ihr auf anderem Weg nähert ­ in der Absicht, seine eigene Orthodoxie zu belegen (558).

Die These, derzufolge es eine Entsprechung gibt zwischen Ort und Häufigkeit der polemischen Bemerkungen gegen die Häretiker in den Kommentaren und den Entwicklungen im christologischen Streit (577), zeigt, daß die exegetischen Arbeiten nicht unbeeinflußt sind vom Zeitgeschehen. Die Frage, ob Th. die Polemik bewußt einsetzt und eine indirekte Auseinandersetzung führt, leitet das Kapitel zur Christologie ein. G. setzt hierbei nicht noch einmal bei der Häretiker-Polemik an, sondern stellt, nach einer Einführung in Voraussetzungen, Terminologie und Verlauf des christologischen Streites, das christologische Material aus den Kommentaren zusammen und bespricht dieses im Rahmen des Gesamtwerkes Th.s. In der Analyse folgt G. im wesentlichen M. Richard (Notes sur l’évolution doctrinale, vgl. 101 Anm. 46).

Zur Diskussion: 1. Für lange Zeit war die strittige Orthodoxie Th.s das dominierende Thema der Forschungsgeschichte. Wie sieht eine Theodoret-Forschung aus, die auf Werturteile über die Orthodoxie Th.s verzichtet und sich diese nicht mehr zur Aufgabe macht? G. schreibt zu dem Ziel seiner Arbeit, daß er nicht Th. rehabilitieren und ihm den Platz zurückgeben wolle, der ihm zu Unrecht entzogen wurde. Wenn G. dann aber seine Arbeit damit beschreibt, «seulement d’étudier de manier objective l’ensemble» (31), schafft er mit dem Begriff der Objektivität ein neues Problem ­ insbesondere, da er nicht nur sein eigenes Vorhaben, sondern auch die Exegese Th.s als leidenschaftslos, neutral und daher objektiv kennzeichnet (821 f.).

Die Anfrage richtet sich an G.s Konzeption von Geschichte. Es ist darauf hinzuweisen, daß diese Konzeption vorausgesetzt ist, wenn G. eine Verbindung zieht zwischen der hervorgehobenen Bedeutung der historischen Analyse für Th. und Th.s Interesse, durch sein exegetisches Werk seine Orthodoxie zu belegen, da erst die Objektivität der historischen Auslegung zu der aktuellen Funktion der Exegese Th.s im christologischen Streit führt.

2. G.s Analyse der Exegese Th.s, die zeigt, daß man sich die Grenzen antiochenischer Exegese nicht zu eng vorstellen sollte, die auf die Kritik Th.s an Diodor, Theodor und Chrysostomos aufmerksam macht und die Bedeutung Eusebs von Caesarea im Sinne der Vermittlung der Exegese des Origenes benennt, läßt sich auf das christologische Werk Th.s übertragen und läßt in Th. keinen Theologen erwarten, der jetzt die Formulierungen Theodors lediglich wiederholt.

Hieraus folgt, wenn man an den Idealtypen antiochenischer und alexandrinischer Exegese festhalten will, daß gerade die Kommentare Th.s ein Gegenstand sind, an dem man seine Beschreibungskategorien überdenken und verändern sollte. G. erwähnt sehr zu Recht, daß ein neues Interesse an Th.s Exegese im Zusammenhang damit steht, daß man in der Darstellung der altkirchlichen Exegese die gegensätzlichen Typen "antiochenisch" und "alexandrinisch" zurückgenommen hat (76). Dennoch gewinnt die Darstellung G.s ihre Klarheit, indem G. den Typus "antiochenisch" voraussetzt.

3. Wenn G. schließt, daß die in den Jahren nach 431 geschriebenen Kommentare von dem christologischen Streit nicht unbeeinflußt sein können, folgt hieraus nicht notwendig, daß Th. in diesen Jahren nur ein Thema kannte und daß das gesamte Werk diesem "eigentlichen" Thema unterzuordnen und in der christologischen Perspektive zu lesen ist. G. will mit der Arbeit an der Exegese eine Forschungslücke füllen, von der er schreibt, daß sie dadurch entstanden ist, daß das Interesse an Th. identisch mit dem Interesse am christologischen Streit war (30 f.). Die Bedeutung, welche die christologische Perspektive dennoch für die These G.s hat, überrascht.

Die Untersuchung ist ganz von der Quellenarbeit bestimmt und führt durch zahlreiche Beispiele in den Text Th.s ein, ist aber nicht auf die Diskussion der Sekundärliteratur angelegt. Ein Register fehlt, es finden sich lediglich Anhänge mit Übersichten von Belegstellen zu den einzelnen Kapiteln.

Fussnoten:

(1) L’activite littéraire de Théodoret avant le concile d’Éphèse, in: RSPhTh 24 (1935), 82-106; Notes sur l’évolution doctrinale de Théodoret, in: RSPhTh 25 (1936), 459-481.
(2) Vgl. L’activité littéraire, a. a. O. 104.
(3) Vgl. Notes sur l’évolution doctrinale, a. a. O. 467, 477 f.