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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

920–922

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Baumgart, Susanne

Titel/Untertitel:

Die Bischofsherrschaft im Gallien des 5. Jahrhunderts. Eine Untersuchung zu den Gründen und Anfängen weltlicher Herrschaft der Kirche.

Verlag:

München: Edito Maris 1995. 220 S. gr.8° = Münchner Arbeiten zur alten Geschichte, 8. ISBN 3-925801-16-2.

Rezensent:

Thomas Martin

Das Mittelalter ist ganz wesentlich definiert durch die dominante Stellung der Kirche, die in dieser Form weder Neuzeit noch Antike bekannt ist.

Die vorliegende Münchener althistorische Dissertation schildert die Entstehung der Bischofsherrschaft als wesentliche Etappe im Prozeß der Umverteilung der Macht (im Verfassungsgefüge) zugunsten der Kirche. Dabei empfiehlt sich das Beispiel Gallien nicht zuletzt wegen seiner reichen Quellenbasis. Der Weg des monarchischen Episkopats zu einer geradezu universalen Zuständigkeit im geistlichen und weltlichen Bereich hat mehrere Ursachen und Komponenten, die allesamt dazu beitrugen, die weltliche Machtausübung der Kirche zu festigen und zu legitimieren.

Zu Recht weist die Vfn. darauf hin, daß bereits seit dem Sieg Konstantins an der milvischen Brücke (312) die Privilegierung der Kirche und ihr schrittweiser Erwerb ehemals staatlicher oder privater Kompetenzen begann. Der Untergang des weströmischen Reiches sowie die ihm vorausgehenden und folgenden inneren Wirren und äußeren Bedrohungen bildeten jene conditio sine qua non, die zur schrittweisen Etablierung der bischöflichen Stadtherrschaft führte. Der Bischof wurde zu einer konkurrierenden und kontrollierenden Macht gegenüber Beamten und Richtern und damit de facto zur Kontroll- und Appellationsinstanz.

Wie die Vfn. überzeugend darlegt, wurde mit der "Episcopalis Audientia" eine wesentliche Grundlage zur Ausbildung der geistlichen Gerichtsbarkeit gelegt; die Praxis des Kirchenasyls führte zu einer Stärkung der rechtlichen und moralischen Stellung des Bischofs; unter seiner Regie wurde das Armen- und Hospizwesen organisiert. Der Bischof agierte nicht nur als Berater des Kaisers in Kirchen- und Religionsfragen, sondern intervenierte bei Hofe auch im Interesse von Steuer- und Lastensenkungen.

Der Niedergang der antiken Stadtkultur und die Verlagerung des politischen und ökonomischen Gewichts auf das Land wird zu einem Angelpunkt in der Beweisführung und Darstellung der Vfn., da der Bischof nach dem Exodus der städtischen Eliten mit den verarmten Mittel- und Unterschichten zurückblieb, die ganz außerordentliche Erwartungen an ihn richteten: Er sollte a) für den Erhalt der Mauer und den Schutz der Stadt garantieren; b) er sollte den Straßenbau, die Wasser- und Lebensmittelversorgung gewährleisten und c) oblag ihm die diplomatische Vertretung der Stadt.

Bereits am Ende des 4. Jh.s war die Kirche zum zweitgrößten Grundbesitzer nach dem Staate geworden. Obwohl sie in Gallien auf dem Lande nur sehr zögernd Einfluß gewann, gerieten immer mehr Bauern, Colonen und Sklaven in ihre Abhängigkeit. Der Freikauf Gefangener begründete zwar den Ruf besonderer Befähigung und Heiligkeit des Bischofs, die Freigekauften sollten aber in jedem Falle als Pächter oder Landarbeiter auf den kirchlichen Gütern arbeiten. Alles in allem wuchs die Zahl der vom Bischof abhängigen Personen kontinuierlich an. Vor der Missionierung und pastoralen Erfassung des Landes datiert somit ein tiefgreifender Prozeß wachsender sozialer Abhängigkeit der Landbevölkerung vom Episkopat.

Es kann daher kaum verwundern, daß der Bischof in Stadt und Land eine einzigartige Autorität gewinnen konnte und immer häufiger als "Patronus" tituliert und akzeptiert wurde. Dabei umgab ihn immer mehr die Aura der Heiligkeit, die durch asketische Lebensweise, dezidierte Berufung auf die Heiligen der städtischen Kirchen (bzw. den Hauptheiligen der Stadt) sowie die Garantie der rechten Lehre erheblich verstärkt wurde. Zudem haftete der Bischof wiederholt mit seinem Privatvermögen für caritative Aktivitäten der Kirche.

Die außergewöhnliche, lang anhaltende und allgemeine Notlage setzte somit einen dialeketischen Prozeß mit gewaltigen Gefahren in Gang. Dabei verweist die Vfn. auf den völligen Wandel im Anforderungsprofil des Bischofs: Er sollte a) adeliger Herkunft sein, vermögend, gebildet und möglichst über administrative Erfahrungen verfügen ­ theologische Bildung und seelsorgerliche Tätigkeit spielten bei den Auswahlkriterien eine immer geringere Rolle; an den Bischof wurden b) zwar weiterhin hohe moralische Forderungen gestellt, entscheidend aber waren seine Fähigkeiten in Diplomatie, Verwaltung und vor allem (militärischer) Verteidigung. c) Die Übernahme drängender politischer und administrativer Aufgaben ist den kirchlichen Instanzen nach dem Untergang des weströmischen Reiches zugefallen (bzw. regelrecht aufgedrängt worden). Die Vfn. betont zu Recht das Fehlen alternativer Lösungen. Die schrittweise und vermehrte Betrauung der Kirche mit staatlichen Aufgaben hat sie mit Problemen konfrontiert und in Zusammenhänge verwoben, für die sie weder vorbereitet noch im Sinne ihres Ausgangspunktes und ursprünglichen Auftrags bestimmt war.

Die philologisch sorgfältig gearbeitete und daher überzeugende Dissertation erschließt sich nicht zuletzt durch das gründlich angelegte Stellenregister (215-220). Sehr viel deutlicher, als dies die Vfn. getan hat, müßte allerdings betont werden, daß die Entstehung der Bischofsherrschaft je länger, desto mehr an dem Sinn und dem Selbstverständnis kirchlicher Existenz rüttelte. Einerseits waren die christlichen Anfänge in "apostolischer Armut" angesichts der Verquickung des geistlichen Leitungsamtes mit Besitz, Macht und Politik definitiv verlassen, andererseits konnten sich die vielfältigen Ansätze einer Episkopalverfassung gegenüber dem bald erstarkenden römischen Zentralismus nicht behaupten.