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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

916–918

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Leiner, Martin

Titel/Untertitel:

Psychologie und Exegese. Grundfragen einer textpsychologischen Exegese des Neuen Testaments

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1995. 349 S. 8° Kart. DM 128,­. ISBN 3-579-01839-6.

Rezensent:

Wilhelm Pratscher

Die neutestamentliche Exegese der jüngeren Vergangenheit ist durch die Rezeption neuer methodischer Zugänge, vor allem aus dem Bereich der Linguistik, Soziologie und Psychologie, gekennzeichnet. In der vorliegenden Arbeit, einer bei Gerd Theißen verfaßten Dissertation, versucht Martin Leiner zu "zeigen, was gegenwärtige Psychologie zum Verständnis der neutestamentlichen Texte in ihrem historischen Kontext beitragen kann" (13). Ein gelungenes Unternehmen.

Teil I (17 ff.) zeigt die Relevanz der Thematik auf. Das geschieht sowohl durch Hinweis auf von außen kommende Anstöße (17 ff.: u. a. kirchliche, hermeneutische und kulturelle Voraussetzungen), wie durch den Bezug auf die psychologischen Implikationen der exegetischen Arbeit selbst. (S. 28 f: psychologische Begriffe der Bibel; die jeder Exegese, auch der historisch-kritischen, implizite Psychologie; die psychologische Verfassung des Exegeten; sozialpsychologische Faktoren der Forschungsgeschichte). Wer Berechtigung und Sinn psychologischer Exegese noch nicht einsieht, müßte das spätestens nach Lektüre dieser Bestandsaufnahme tun.

Teil II (S. 41 ff.) bringt eine als "historische Skizze" bezeichnete Darstellung der "Geschichte der psychologischen Bibelauslegung". Hat es durch die gesamte Kirchengeschichte hindurch eine nicht nur implizite, sondern auch eine bewußte psychologische Exegese gegeben, so ist sie gegen Ende des 19. Jh.s in der religionsgeschichtlichen Schule erstmals programmatisch geübt worden ("first approach"), um dann gründlich dem Verdikt von dialektischer Theologie und existentialer Interpretation zu verfallen ­ wobei L. sehr schön zeigt, daß z. B. Bultmann mitunter durchaus psychologische Exegese betrieb, aber infolge eines verengten Psychologiebegriffs keine grundsätzlich positive Stellung zu ihr gewinnen konnte. Instruktiv und übersichtlich ist weiters die Darstellung des Neuaufbruchs psychologischer Exegese seit Ende der 60er Jahre ("second approach"), der von Exegeten, Tiefenpsychologen und praktischen Theologen getragen wurde. Diese Anfänge differenziert L. von dem neueren methodologisch reflektierteren Zugang seit den 80er Jahren ("third approach", repräsentiert zunächst vor allem durch W. Rebell, G. Theißen und E. Drewermann). Ob man wirklich von einem "third approach" sprechen sollte, scheint mir fragwürdig, wie auch L. selbst S. 72 Anm. 151 zugibt; auch nennt er Drewermanns "Tiefenpsychologie und Exegese" in beiden Abschnitten als repräsentativ. Gleichwohl, der Leser bekommt einen kurzen und prägnanten Überblick über die bisherige psychologische Exegese.

Vorbereitenden Charakter hat auch Teil III (77 ff.), in dem die Rolle der Psychologie in "Nachbarwissenschaften der Exegese" (praktische und systematische Theologie, Religionswissenschaft, Ethnologie, klassische Philologie, Literatur- und Geschichtswissenschaft) thematisiert wird. Die Erleichterung des interdisziplinären Gesprächs und die Bewahrung der psychologischen Exegese vor Sackgassen sind dabei wünschenswerte Zielvorgaben, wobei insbesondere dem Vergleich mit der Geschichtswissenschaft Bedeutung zukommt. "Als Ertrag für die psychologische Bibelauslegung bleibt nach diesem Überblick 1. die Frage, ob auch die Exegese Lücken in ihren Fragestellungen läßt, ob sie die Wirklichkeit der Menschen ausreichend zur Sprache bringt und 2. das Problem, ob die von der Exegese aufgegriffene Alltagspsychologie zu gültigen Ergebnissen führen kann" (115). L. zeigt hier eine außerordentliche Belesenheit und bietet eine differenzierte Darstellung der vielfältigen, mehr oder minder weit gediehenen Reflexionen über die Verwendung psychologischer Zugänge in diesen Disziplinen.

Teil IV (119 ff.) bringt als weitere Voraussetzung für die Begründung psychologischer Exegese umfassende Ausführungen zum jeweiligen geschichtlichen Selbstverständnis von Psychologie und Exegese, deren Wandel es immer stärker ermöglichte, die Distanz zwischen einer sich naturwissenschaftlich verstehenden Psychologie und der hermeneutisch orientierten Exegese zu überwinden. Informationen u. a. über Gegenstand, Gliederung, Ziele, Methoden und gesellschaftliche Funktion der beiden Wissenschaften dienen dazu, die Integration der Psychologie in die Exegese (und damit die methodologische Neubestimmung der letzteren) aufzuzeigen. Daß dabei problematische Tendenzen der Psychologie (aufgrund dahinter stehender philosophischer Vorentscheidungen) aufgezeigt und zurückgewiesen werden (z. B. Psychologismus als umfassender Anspruch zur Begründung aller Wissenschaften), sollte die Akzeptanz psychologischer Exegese entscheidend erhöhen. Methodologisch wichtig ist im Kontext der Begriffsbestimmung auch die Differenzierung von Exegese und Applikation.

Eine Verbindung von Exegese und Psychologie ist nach L. zu Recht nur durch eine methodologische Reflexion möglich, die er Teil V unter dem Titel "Analytische Hermeneutik" vorlegt (206 ff.). In Aufnahme u. a. der Erkenntnis von K. Popper, "daß Beobachtungen und erst recht Sätze über Beobachtungen immer Interpretationen der beobachteten Tatsachen sind" (210), konstatiert er eine Relativierung der Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und formuliert vier Thesen einer analytischen Hermeneutik. Abbreviativ wiedergegeben:

1. Nebeneinander von logischen und hypothetischen Interpretationsbestandteilen, wobei nur die letzteren stets neu zu erstellen seien. 2. Ergänzung der zwischen Autor und Leser vorhandenen, aber verlorengegangenen Aspekte des Kommunikationsgeschehens durch Visualisierung (Entwerfen von Bildern zu den biblischen Texten), Historisierung (Umwandlung der Texte in Geschehensabläufe) und Psychologisierung (Anreichern der Texte mit Annahmen über Erleben und Verhalten der biblischen Personen); dabei Bestätigung der Interpretation durch Anwendung der Kriterien der Kohärenz (der Interpretationsbestandteile), Korrespondenz (zwischen Aussage und Sachverhalt) und Konsens (infolge methodischen und zustimmungsfähigen Vorgehens). 3. Variabilität des Zustandekommens einer Interpretation unter Einhaltung der im vorigen Punkt genannten Kriterien. 4. Historische Bedingtheit von Zielen und Methoden.

Nicht umfangmäßig, wohl aber sachlich ist Teil VI (235 ff.) der wichtigste. L. skizziert hier sein textpsychologisches Programm. Nach z. T. zusammenfassenden grundsätzlichen Beobachtungen entwickelt er in Abgrenzung von anderen Modellen der Zusammenarbeit von Psychologie und Exegese (u. a. Einfühlungsmodell bei Gunkel, Fortführungsmodell bei Lüdemann, Dialogmodell bei Lührmann-Stollberg) das von ihm so genannte Integrationsmodell, wobei er einen dreifachen Ort der Psychologie in der Exegese betont: "1. eine Überarbeitung der Alltagspsychologie in allen Auslegungen und in allen exegetischen Methoden, 2. eine Psychologie des Urchristentums und 3. eine Diskussion über die Einführung psychologischer Methoden der Textauswertung" (243).

Vor diesen Erörterungen bietet L. eine kurze Darstellung des Verhältnisses der (in neuerer Zeit besonders von K. Berger vertretenen) Historische Psychologie zur Übertragung gegenwärtiger psychologischer Theorien auf die Vergangenheit (P. 3 wird nicht mehr behandelt). Während die Historische Psychologie diese Übertragung grundsätzlich ablehnt, betont L. die Sinnhaftigkeit solchen Bemühens u. a. durch den Hinweis auf die in jeder Exegese vorhandene implizite Psychologie und die Regelmäßigkeit des Erlebens und Verhaltens.

Die erste vorhin genannte Aufgabe der psychologischen Fundierung der exegetischen Methoden bringt, wie L. sehr schön zeigt, eine Fülle von Bereicherungen: z. B. der historischen Rekonstruktion durch sozialpsychologische Überlegungen (W. Rebell), der Überlieferungsgeschichte durch die experimentelle Bestätigung des sekundären Charakters der sog. "reinen Form" (wie sie K. Haaker schon von alltagspsychologischen Erwägungen her aufgestellt hat) oder der historischen Rezeptionskritik durch Analyse von Rollenangeboten in Texten und ihrer Bedeutung für den Leser (T. Vogt).

Zielperspektive ist für L. eine "Psychologie des Urchristentums". "Sie hätte festzuhalten, 1. welche Theorien der gegenwärtigen Psychologie auf das NT übertragen werden können , und müßte 2. beschreiben, welche Differenzen das Erleben und Verhalten der ersten Christen von den gegenwärtigen Menschen trennt" (253). Eine Fülle von Arbeitsbereichen tut sich hier auf, die L. 254 f. im Rahmen der jeweiligen Teilgebiete der Psychologie nur überschriftartig andeutet (z. B.: Alltagspsychologie: Personvorstellung, Gefühlsäußerungen, Handeln etc.; Sozialpsychologie: Rollen und Autoritäten etc.; Literaturpsychologie: Produktion, Vermittlung und Rezeption von Literatur etc.). Ein Überblick über wichtige Literatur zu den einzelnen Themen S. 256 ff verweist auf modellhafte Lösungen.

Teil VII bringt abschließend eine Bilanz psychologischer Gleichnisauslegung von I. K. Madsen bis E. Scheffler und führt so paradigmatisch vor, was dieser methodische Zugang (trotz aller Defizite) zu leisten imstande ist.

L. führt in bewundernswerter Akribie in die vielfältigen Probleme und Möglichkeiten psychologischer Exegese ein. Auch wenn man bei der Lektüre das eine oder andere gerne überblättern oder nur kurz streifen möchte (z. B. manche wissenschaftsgeschichtlichen Ausführungen) und anderes gerne näher ausgeführt sähe (z. B. im Teil VI), so bietet er doch eine in ihrer Art einzigartige, überaus kenntnisreiche und methodologisch auf hohem Niveau stehende Arbeit, der man nur möglichst viele Leser wünschen kann.