Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

910–913

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frenschkowski, Marco

Titel/Untertitel:

Offenbarung und Epiphanie. Bd. 1: Grundlagen des spätantiken und frühchristlichen Offenbarungsglaubens.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1995. IX, 481 S. gr. 8°= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, Reihe 2, 79. Kart. DM 128,­. ISBN 3-16-146433-8.

Rezensent:

Jürgen Roloff

Was denkt der spätantike Mensch ­ sei er nun Heide, Jude oder Christ ­ ,wenn von Offenbarungen gesprochen wird? Innerhalb welcher für ihn selbstverständlichen Konnotationen vollzieht sich für ihn revelatorische Erfahrung, unabhängig von deren jeweiligem mitgeteilten Inhalt? Das ist die Leitfrage dieser weit ausgreifenden, durch die Fülle des aufgearbeiteten Materials wie auch durch ihren Umfang beeindruckenden Untersuchung, die auf eine Mainzer Dissertation aus dem Jahr 1994 zurückgeht. In ihr wird der programmatische Versuch einer Kombination von religionsgeschichtlichen und exegetisch-theologischen Fragestellungen unternommen. Das Ziel ist dabei, die Engführung des Offenbarungsverständnisses in der herkömmlichen Exegese aufzubrechen, die durch die Neigung entstanden ist, mit einem systematisch-theologischen Offenbarungsbegriff zu operieren, der als solcher eine ungeschichtliche, weil die konkreten gedanklichen und sprachlichen Rahmenbedingungen ignorierende Abstraktion ist und darum zu vorschnellen Kontrastierungen zwischen Paganem und genuin Jüdisch-Christlichem führt. Zu seiner Erreichung werden vor allem religionspsychologische, mentalitätsgeschichtliche und traditionsgeschichtliche Fragestellungen eingesetzt.

Der vorliegende erste Band enthält drei Hauptteile. Der umfangmäßig gewichtigste Teil I thematisiert die allgemeinen geschichtsmytologischen Grundlagen des Glaubens an Offenbarungen in der Spätantike; Teil II setzt sich kritisch mit modernen und antiken Systematisierungsversuchen von Offenbarungsweisen auseinander; der ­ vergleichsweise knapp ausgefallene ­ Teil III schließlich bietet eine Übersicht der Offenbarungsmodi im NT und will "als Hinführung zur Monographie über verborgene Epiphanien (Band II) und zu weiteren, in Vorbereitung befindlichen Arbeiten, namentlich zu den Themen Audition und Traum" (10) gelesen werden.

Nicht ohne einen Anflug gelehrter Koketterie charakterisiert der Vf. Teil I als "ergänzend-komplementäres Essay zu klassischen Charakteristiken des spätantiken Offenbarungsglaubens" (9), namentlich zu J.-A. Festugiére (La révélation d’Hermes Trismégiste I, 21950) und M. P. Nilsson (Geschichte der griechischen Religion II, 41988). In Wahrheit handelt es sich um sehr viel mehr, nämlich um eine umfassende, mit reichem Material aus hellenistisch-römischem wie auch jüdischem Schrifttum belegte Beschreibung der geistigen Rahmenbedingungen religiöser Offenbarungserfahrungen des 1. Jh.s.

Als maßgebliche Konstante wird darin das Grundgefühl der Offenbarungsdefizienz und Inferiorität herausgestellt. So haben Poseidonius und Seneca, die beiden maßgeblichen Repräsentanten der Stoa, in ihrer Geschichtsphilosophie einen rückwärtsgewandten Grundzug. Sie beklagen den Verfall der Philosophie, das Vergessen dessen, was vergangene Generationen erarbeitet haben. Der frühere wissenschaftliche Fortschrittsoptimismus hat einem tiefgreifenden Pessimismus Platz gemacht. Hand in Hand damit geht eine Abwertung der exakten Wissenschaften zugunsten von göttlichen Offenbarungen: Wahre Einsicht kann nur noch als Gabe der göttlichen Gnade erfaßt werden. Allein, dem solchermaßen wachsenden Bedürfnis nach revelatorischer Erfahrung steht ein zunehmendes Gewahrwerden des Schweigens der Götter in der Gegenwart gegenüber.

So wird die Krise von Mantik und Orakelwesen zu einem literarisch weit verbreiteten Topos. Als Hauptbelege dafür werden Cicero (De divinatione) und Plutarch (De Pythiae Oraculis) herangezogen; aber auch die indirekte Spiegelung dieser Sichtweise in der jüdischen Sibylle (Or. Sib. III 441) bleibt nicht unerwähnt (57 f.). Bereits in diesem Zusammenhang verweist der Vf. auf die "erstaunliche Analogie, daß die gleiche Epoche das jüdische Theologumenon von der erloschenen Prophetie hervorgebracht hat". Diese könne "nicht als zufällige Koinzidenz angesehen werden" (62). Ähnliche Querbezüge werden zwischen dem in Geschichtsschreibung, Dichtung und Folklore des frühen Prinzipats dominanten Dekadenzmotiv einerseits und dem Motiv der Vergreisung der Erde und dem Schwund der intellektuellen Kräfte in der Endzeit in der jüdisch-christlichen Apokalyptik andererseits aufgewiesen. "Die verschiedenen Theologien konnten solche Gedanken nur verwenden, weil sie eine generelle Plausibilität im kulturellen Substratum besaßen" (76).

Den Motiven der Offenbarungsdefizienz korreliert ein Wuchern von Offenbarungsliteratur. Berichte von Visionen, Himmelsreisen und Träumen, die der Befriedigung der religiösen Neugier dienen sollen, haben Hochkonjunktur. Aber ­ so die einleuchtende These des Vf.s ­ hier handelt es sich lediglich um Substitute, die das "schmerzhafte Bewußtsein einer religiösen Leere, das sich in den Theologumena und Mythologumena des göttlichen Rückzuges aus der Welt versinnbildlicht", füllen wollen (95).

Die naheliegende Frage, ob dieses fast durchweg aus philosophischen und literarischen Texten, also aus der Hochliteratur, gewonnene Bild nicht insofern einseitig sei, als es die Mentalitätslage der kleinen Leute aus dem Volk nicht einbeziehe, wird in einem Exkurs (96-102), dahingehend beantwortet, daß Religiosität und schichtenspezifische Sprache, Individuelles und Typisches, in der Antike sehr viel schwieriger zu differenzieren sind, als bei uns, und daß wir im übrigen vom sozialen und kulturgeschichtlichen Ort vieler Dokumente der Kleinliteratur zu wenig wissen, um diese als spezifischen Ansdruck von Unterschichtmentalität klassifizieren zu können (98). Dies gelte vor allem im Blick auf die graecoägyptischen Zauberpapyri, die A. Deissmann als besonders günstige Zeugnisse volkstümlicher Religiosität hatte beurteilen wollen (100).

Für die weitgehend parallele Entwicklung religiöser Mentalität im Judentum stehen vor allem zwei eng miteinander korrelierende Phänomene: das Theologumenon vom Ende der Prophetie (4Esra 5,12, AssMos 11,1-8; syrBar 34) und die Entstehung der apokalyptischen Literatur. Weil durch die Propheten die Repräsentation der praesentia Dei in Israel erfolgt war, darum konnte die Apokalyptik nicht als Weiterführung der Prophetie gelten: Zwar läßt der Apokalyptiker seine Leser an einer Enthüllung teilhaben, die seinen Lesern ihren Platz im göttlichen Weltplan aufzeigt, aber "der geschichtsmythologische Ort dieser Enthüllung" ist die ideale Vorzeit des Volkes, in der Gott noch unmittelbarer gesprochen hatte (144). Hier liegt letztlich die Grenze der Prophetenanschlußtheorie. Speziell das Phänomen der Pseudepigraphie gewinnt in diesem Zusammenhang eminente Bedeutung, insofern diese die Distanz zur normativen Vergangenheit festschreibt (140). Ausführlich geht der Vf. der Frage nach, ob die in vielfältigen Quellen, nicht zuletzt auch im NT selbst (z. B. Lk 2,25-38; 13,1; Apg 13,6-12), bezeugten prophetischen Phänomene im Judentum des 1. Jh.s dem Theologumenon vom Erlöschen der Prophetie in Israel widersprechen. Er kommt dabei zu einem negativen Ergebnis. Zwar mag es sich dabei auf der historischen Objektebene um Phänomene pneumatischer Inspiration gehandelt haben, doch wurden diese von ihren Trägern und den Zeitgenossen im Horizont des Geschichtsmythos vom Ende der Prophetie anders, nämlich im Sinne von Mantik bzw. inspirierter Lehre, definiert (204). Objektsprachliche und metasprachliche Definition klaffen hier notwendig auseinander.

Ein ausführlicher Exkurs über das prophetische Selbstverständnis des Josephus (146-166) liefert dazu eine instruktive Feldstudie, die (unter Aufnahme von Beobachtungen A. Schlatters) zeigt: Josephus hat sich selbst nicht als Prophet, sondern als Mantiker verstanden; sein Selbstbewußtsein paßte sich seinem theologischen Geschichtsbild ein, das in der Gegenwart "eine gegenüber der glanzvollen und mit den Manifestationen der göttlichen Nähe gesegneten Vergangenheit nicht konkurrenzfähige Epoche sieht" (156 f.). Analoges gilt auch vom qumranischen Lehrer der Gerechtigkeit, der sich trotz prophetischer Disposition und Redeformen nicht als Prophet, sondern als autoritativer Toralehrer verstanden hat, "dem die Enträtselung der vorgegebenen Prophetenworte geschenkt ist" (203 f.).

Als weitere Belege für die Anteilhabe des Judentums am allgemeinen spätantiken Defizienzgefühl werden die Mythen von der Flucht der Weisheit und vom Rückzug der Schekhina herangezogen (217-245).

Die kritische Auseinandersetzung mit modernen und antiken Systematisierungsversuchen von Offenbarungsweisen (Teil II) setzt mit einem kurzen Gang durch exemplarische Artikel in den großen theologischen und religionsgeschichtlichen Nachschlagewerken ein, dessen Ergebnis der Aufweis von zwei schwerwiegenden methodischen Defiziten ist. Zum einen werde nicht hinlänglich zwischen objektsprachlich beschreibenden und performativen Definitionen unterschieden. Damit werden zwei Ebenen unzulässig nivelliert: die der Deskription und die der systematisch-theologischen Verortung (264). Zum anderen werden theologische und religionsgeschichtliche Begrifflichkeiten vermengt, "ohne daß bei näherem Zusehen deutlich würde, welche von beiden gemeint ist" (ebd.). Von daher stellt der Vf. die Frage, ob es einen zentralen Oberbegriff "Offenbarung" in den spätantiken Religionen gebe, um sie aufgrund einer Analyse der diesem Wortfeld zuzuordnenden Begriffe zu verneinen. Nicht einmal das NT kennt eine Vokabel, "die als Oberbegriff über alle in Betracht kommenden Erscheinungen Verwendung gefunden hätte" (266).

Aus mehreren begrenzten Wortfeldern wuchs im griechisch-hellenistischen Raum nur allmählich ein Gesamtfeld "Offenbarung" zusammen, "ohne daß es in vorchristlicher Zeit zur Zentrierung um einen Oberbegriff gekommen wäre" (281). Das aber ist ein Indiz dafür, daß die von uns heute systematisierend zusammengeschaute Vielfalt revelatorischer Erlebnisse und Interpretationen vom antiken Menschen nicht ohne weiteres als zusammenschaubare Fundierung von Frömmigkeit und Glaubensinhalten gesehen werden konnten (282). Allenfalls sind Ansätze zu solcher Zusammenschau aufweisbar in Gestalt von Systematisierungsversuchen revelatorischer Phänomene ­ und zwar gleichermaßen in hellenistisch-römischer mantischer Literatur, im AT (z. B. Num 12,6-8; Dtn 18; 1Sam 28,6; Jer 15,3; 27,9), in der Apokalyptik (z. B. äthHen 93,2; 4Esra 14,3-18), im hellenistischen Judentum (Philo, Quis rerum divinarum heres 249-295; de somniis 1-2), in der rabbinischen Literatur und schließlich in der paulinischen Charismenlehre (1Kor 12; Röm 12,6-8).

Der Band schließt mit einer Übersicht der im NT dargestellten Offenbarungsmodi (Teil III). Dabei hält sich der Vf. streng an die von ihm vorher erarbeiteten methodischen Kriterien, indem er ­ in bewußter Beschränkung auf die objektsprachliche Ebene ­ nach solchen "erzählten Offenbarungen" fragt, die vermöge ihrer narrativen Füllung Auskunft über den zugrundegelegten Offenbarungsmodus geben können (351). Damit entfallen die Offenbarungstheologien der frühchristlichen Autoren ebenso wie jene Stellen, in denen der Mensch theologisch systematisierend als Objekt des Offenbarwerdens erscheint (2Kor 5,10; 1Kor 13,12) sowie Aussagen, die das Jesusgeschehen übergreifend unter revelatorischem Gesichtspunkt darstellen (Stichwort: Revelationsschema).

Die epiphanalen Motive des Markusevangeliums werden, obwohl von zentraler Bedeutung, hier nur andeutend erwähnt, da sie im Zentrum von Bd. II stehen sollen. Der Vf. beschränkt sich auf den Hinweis, daß die aus der hellenistischen und jüdischen Literatur bekannten Muster der Offenbarungstopik "in merkwürdiger Weise" an Markus vorbeigehen, was seinen Grund in der für Markus charakteristischen Spannung zwischen verborgener und offenbarer Epiphanie hat (354). Matthäus und­ in verstärktem Maße ­ Lukas übernehmen das revelatorische Grundmuster aus Markus, um es durch den biographischen Rahmen aus dem Mythischen ins Legendäre umzuakzentuieren (357). Zugleich ist Lukas derjenige unter allen ntl. Autoren, der die stärkste Tendenz zur nominalen Fixierung visionärer Vorgänge aufweist. Johannes hingegen entfaltet als erster eine umfassende christomonistische Offenbarungstheologie (369). Eine Sonderrolle nimmt Paulus als Zeuge vielfältiger pneumatisch-inspiratorischer Offenbarungsphänomene ein, wobei auffällig ist, daß er sich völlig der Analogie zu paganen religiösen Erfahrungskategorien bewußt ist (1Kor 12,1 f.; Gal 4,8). Visionen und pneumatische Impulse prägen den Apostel und seine Sicht des Gemeindelebens.

Paulus zentriert jedoch alle diese Phänomene in dem einen übergreifenden Offenbarungsgeschehen des Machterweises des gekreuzigten und auferstandenen Christus (384). Im Kolosser- und Epheserbrief wird diese paulinische Grundentscheidung in Sachen Offenbarungstheologie zwar aufgenommen, doch verlagert sich der Akzent hin auf eine Erleuchtungsterminologie. Letztere hat auch im Hebräerbrief einen zentralen Platz inne. Im übrigen erweist diese Schrift, speziell in ihrem Nebeneinander von massiv mirakelhaften Vorstellungen und einer theologisch hoch reflektierten Metaphorik für revelatorische Vorgänge, ihre Nachbarschaft zur theologischen Tradition Philos. Eine Sonderstellung nimmt schließlich die Johannesoffenbarung insofern ein, als sie als einziges ntl. Buch "der Form nach eine Offenbarungsschrift im Vollsinn" ist (397). Von den beiden revelatorischen Oberbegriffen apokalypsis und horasis meint ersterer das ganze Buch nach Inhalt und übernatürlicher Autorisierung, letzterer hingegen den gesamten Vorgang des Sehens aufeinander folgender Visionen (398).

Aus der Fülle der abschließend als "Ergebnisse und Problemanzeigen für die einzelnen Offenbarungsweisen" (404-410) in nahezu katalogartiger Knappheit aufgelisteten Beobachtungen seien hier nur die beiden m. E. im Zuge des Gesamtduktus der Untersuchung wichtigsten referiert: Anders als die sonstige Spätantike, kennt das NT keine Ambivalenz der pneumatischen Äußerungen; ja das Johannesevangelium versucht mit seinem personalen, an Christus orientierten Offenbarungs- und Wahrheitsbegriff eine "Disambiguierung aller Offenbarung" (Joh 14,6; 16,13 u. ö.) (411). Und während die Spätantike generell mit einem "Rückzug des Pneumas und seiner sachlichen Synonyme aus dieser Welt rechnet", geschieht nach urchristlichem Verständnis in der Ausgießung des Geistes "anbrechendes Eschaton, das in verschiedenen Interpretamenten zur Sprache gebracht werden kann" (412). Hier hat sich eine totale Umkehr der Blickrichtung vollzogen.

Dieses Buch ist, zumal als wissenschaftliche Erstlingsarbeit, eine beachtliche Leistung. Zwar ist der Vf. manchmal in der Gefahr, über der Fülle der ihm zuhandenen Kenntnisse im weiten Bereich der spätantiken Literatur die große Linie seiner Argumentation aus dem Auge zu verlieren. So ist manchen liebevoll in Anmerkungen und Exkursen ausgebreiteten Einzelheiten die nur mühsam zurückgedrängte Tendenz auf eigenständige Expansion abzuspüren. Aber die vielen geistvollen Durchblicke, die dem Leser neue, ungewohnte Perspektiven eröffnen, bieten reiche Entschädigung für manchen scheinbaren Umweg und lassen das Buch zu einer bis zur letzten Seite spannenden Lektüre werden. Besonders hervorzuheben, weil heutzutage leider keine Selbstverständlichkeit mehr, ist das hohe sprachliche Niveau. Terminologische Exaktheit und Verständlichkeit, ja rhetorische Eleganz erweisen sich hier endlich einmal wieder als vereinbar. Grund genug, Band II mit Spannung zu erwarten!