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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

904–906

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Diebold-Scheuermann, Carola

Titel/Untertitel:

Jesus vor Pilatus. Eine exegetische Untersuchung zum Verhör Jesu durch Pilatus (Joh 18,28–19,16a).

Verlag:

Stuttgart: Kath. Bibelwerk 1996. XIII, 334 S. 8° = Stuttgarter Biblische Beiträge, 32. Kart. DM 89,­. ISBN 3-460-00321-9.

Rezensent:

Werner Vogler

Im Unterschied zu bisherigen Untersuchungen von Texten der Johannespassion will diese bei L. Oberlinner gearbeitete Freiburger Promotionsschrift einen "Neuansatz" darstellen, indem sie die johanneische Überlieferung von dem Verhör Jesu vor Pilatus keiner diachronen, sondern einer synchronen Betrachtungsweise unterzieht, um so Antwort auf die Frage zu erhalten, "weshalb und zu welchem Zweck der Evangelist dieses Verhör in einer solch herausragenden Form darstellt" (19).

Das geschieht in zwei Teilen: Die zunächst (Teil A) vorgenommene "Textanalyse" (13-104) läßt nach der Vfn. eine ­ zuzüglich der Situationsangabe in 18,28 ­ durch acht Szenen bestimmte Strukturierung von Joh 18,28-19,16a erkennen, die ihren Schwerpunkt in sieben "echten" Dialogen hat: fünf zwischen Pilatus und den Juden (18,29-32; 18,38b-40; 19,4-7; 19,12; 19,13-16a) sowie zwei zwischen Pilatus und Jesus (18, 33-38a; 19,8-11). Diese Szenen werden nach textlinguistischen Gesichtspunkten untersucht, wobei die syntaktischen wie semantischen und andere Fragestellungen nicht nacheinander, sondern jeweils gleichzeitig erörtert werden, so daß der biblische Text stets als eine zusammenhängende "sprachliche Äußerung" im Blick ist.

Hierbei kommt die Vfn. zu vor allem zwei Erkenntnissen: 1. Die acht Szenen bauen "logisch" aufeinander auf und zeichnen sich außerdem durch eine "sukzessive Steigerung" aus, insofern die Dialoge, "die als erzählerisches Mittel an sich schon Dramatik und Aktion bringen" (103), ihrerseits eine Steigerung aufweisen. Diese stellt sich 2. wie folgt dar: Während in den Dialogen zwischen Pilatus und den Juden die jüdischen Anklagen gegen Jesus immer massiver und der "Werkzeugcharakter" des Pilatus dadurch immer größer werden, tritt in den Dialogen zwischen Pilatus und Jesus der Erweis der Schuldlosigkeit Jesu von Mal zu Mal deutlicher zutage.

In (dem umfangreicheren) Teil B erfährt die "Textanalyse" ihre "Auswertung" (105-296). Sie erfolgt in drei ­ durch Auseinandersetzung mit der Fachliteratur bestimmten ­ Teilabschnitten: Zunächst wird die "Szenische Struktur des Verhörs" Jesu erörtert. Danach bedient sich der Evangelist in 18,28-19,16a zwei verschiedener "Erzählweisen": einer "szenischen Darstellung" und einer ­ ihr untergeordneten ­ "Erzählebene". Während die dramatischen Textteile die Leser mit der sie bestimmenden "Konfliktsstruktur" ebenso konfrontieren wollen wie sie die Charaktere der in ihnen handelnden Personen herausstellen, haben demgegenüber die "Erzählkommentare" eine "didaktische Funktion". Sie dienen dem Vf. dazu, "seine Intention, wie er das Geschehen verstanden wissen will,... den Hörern/Lesern direkt ein(zu)flößen" (136).

Der in den Dialogen des Pilatus mit den Juden erkennbaren Ablehnung Jesu dient der zweite Teilabschnitt ("Verstärkung der Schuld"). Danach zeigt Jesu Verhör: Dieses stellt (als Folge ihres Unglaubens) lediglich die "Spitze" der Ablehnung Jesu durch die Juden dar. Kommt Pilatus hierbei die Funktion zu, die Schuld der Juden rückhaltlos ans Licht zu bringen, so sind dessen wiederholte Betonung der Schuldlosigkeit Jesu ­ wie Jesu Unschuld selbst ­ für die Vfn. "Darstellungsmittel" des Evangelisten, durch die er die "radikale Ablehnung" Jesu durch sein Volk aufzeigen will. Gleichzeitig soll diese höchst negative Darstellung der Juden nach der Vfn. bei den Lesern eine entsprechend "radikale emotionale Ablehnung der Juden" erreichen (254). Damit lasse der Abschnitt 18,28-19,16a zugleich eine "antijüdische Tendenz" erkennen.

Der Frage nach dem johanneischen "Bild Jesu im Verhör" ist der letzte Untersuchungsabschnitt gewidmet. Er zeichnet sich dadurch aus, daß der Evangelist Jesus als eine "unpolitische Größe" darstellt, die über allem steht. Er ist der "Wissende" und dadurch in allem "Souveräne". Indem Jesus auf alle Reaktionen verzichtet, ist er der durchweg "Passive". Doch gerade in dieser Passivität zeigen sich Jesu "Unangreifbarkeit" und seine "Würde".

Decken sich diese Erkenntnisse ­ wie zahlreiche andere ­ mit dem, was in der Auslegung von Joh 18,28-19,16a seit längerem bekannt (und anerkannt) ist, so schließt das jedoch nicht aus, daß die Vfn. mit der bisherigen Johannesexegese mehrfach ins Gericht geht. Danach hat diese nicht nur "die Textebene nicht genügend beachtet", sondern auch "die Wirkung der schriftstellerischen Mittel und der Komposition des Textes nicht ausreichend gewürdigt" und schließlich sogar "dem kerygmatischen Charakter des Textes nicht genügend Rechnung getragen" (192). Äußert sich hier nur der Überschwang einer Anfängerin, die ­ aufgrund der Überzeugung, ein geeigneteres methodisches Instrumentarium anzuwenden als ihre Vorgänger ­ meint, den Text besser erschließen zu können als jene? Wie immer dem sein mag: Die vorliegende Dissertation ist fraglos darin verdienstvoll, daß sie in manchem auf Gesichtspunkte aufmerksam macht, die bisher nur am Rande, mitunter sogar außerhalb der Auslegung von Joh 18,28-19,16a lagen. Dazu gehört auch der (verschiedentliche) Hinweis auf die innere Geschlossenheit dieses Textes, die die Vfn. durch die (wiederholte) Verwendung von "Schlüsselbegriffen" bzw. analogen Formulierungen verdeutlicht. Gleichzeitig macht der Verzicht auf maßgebliche Schritte der historisch-kritischen Methode jedoch auch Defizite in der hier vorgelegten Textauslegung evident.

So gesehen aber zeigt diese Promotionsschrift, daß die synchrone Untersuchung biblischer Texte die diachrone zwar zu ergänzen, nicht jedoch zu ersetzen vermag.