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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

902–904

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Arnold, Clinton E.

Titel/Untertitel:

The Colossian Syncretism. The Interface Between Christianity and Folk Belief at Colossae.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1995. XII, 378 S. gr. 8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe 77. Kart. DM 118,­. ISBN 3-16-146435-4.

Rezensent:

Andreas Lindemann

Die möglichst präzise Beschreibung der im Kol bekämpften "Irrlehre" ist für die Auslegung dieses Briefes von größter Bedeutung. Die Versuche, das Problem zu lösen, reichen im 20. Jh. von "Gnosis" über Spielarten "jüdischer Gnosis" bis zu "Mysterienreligionen" und "Philosophie". Dabei spielt die Berücksichtigung der geographischen Lage der Stadt Kolossä im allgemeinen eine eher geringe Rolle. Für die von A. vorgelegte Monographie ist demgegenüber gerade dieser Aspekt entscheidend: A. will anhand zahlreicher bisher kaum berücksichtigter Quellen (Inschriften und Papyri) zeigen, daß sich die kolossische "Irrlehre" vor allem aus dem örtlichen Volksglauben im Lykostal gespeist hat. Dabei geht A. mit Recht davon aus, daß Kol ein wirklicher Brief ist, kein theologischer "Traktat", und daß die seine Argumentation und Polemik tragenden Aussagen (vor allem in 2,8-23) konkrete Bedeutung haben und sich auf eine aktuelle Situation beziehen. Nicht zuletzt deshalb nimmt A. an, daß Kol authentisch paulinisch ist; die von ihm vorgetragene Deutung des kolossischen Synkretismus sei jedoch ganz unabhängig von der Antwort auf die Verfasserfrage.

A.s Buch umfaßt ­ nach der eben skizzierten knappen Einleitung (1-7) ­ drei große Teile: Gefragt wird zunächst in Teil I (8-102) nach dem Wesen der in 2,18 erwähnten "Engelverehrung"; dann folgt in Teil II (103-244) der Versuch einer Rekonstruktion der kolossischen "Philosophie"; in Teil III (245-309) bietet A. eine Beschreibung der eigenen Theologie des Kol, die er als eine "contextualized theology" sieht; am Schluß steht eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse (310-312). Der Band enthält eine Bibliographie (313-335) sowie ein detailliertes Autoren-, Stellen- und Begriffsregister (336-378).

In Teil I nimmt A. bei der Interpretation des Stichworts "Engelverehrung" eine schon von A. L. Williams (JThS 10 [1909]) vertretene These auf: Gemeint sei eine in der phrygisch-lydischen u. a. auch jüdisch beeinflußten Volksfrömmigkeit reich belegte "magische" Anrufung von Engeln, vor allem als Abwehrzauber (10). Engel, die nicht selten ans Hebräische anklingende Namen tragen, werden in (griechischen und lateinischen) Zaubertexten angerufen, weil sie vor Dämonen oder anderen bösen Mächten schützen oder bei bestimmten Vorhaben helfen sollen. Anhand zahlreicher Belege aus jüdischer Literatur zeigt A., daß es gerade auch hier eine verbreitete Engelverehrung gab ("a long-lasting tendency within Judaism to invoke angels for protection and help and a strong impulse to assimilate local pagan beliefs in the realm of magic and folk belief", 57). In den paganen Texten sei angelos oft mit der Unterweltgöttin Hekate zu identifizieren, während in jüdischen (und später auch in christlichen) Texten die angeloi "supernatural servants and emissaries of Yahweh" sind (88). Zwar gab es bei Juden und Christen keinen "Engelkult", wohl aber die ausgeprägte Sitte, die Engel um Hilfe "anzurufen" (89); wenn Paulus ausdrücklich von einer threskeia ton angelon spreche, dann treffe er damit also vermutlich nicht eine Selbstaussage der Gegner, sondern wolle die Adressaten auf das hinweisen, was die Gegner seiner Meinung nach tatsächlich praktizieren ("As rhetorically conceived, the expression would help the readers to see that the focus of their attention was neither on God or Christ, but on angelic beings", 101).

In Teil II untersucht A. zunächst (104-157) die Bedeutung des in der Exegese umrätselten Begriffs embateuo in 2,18. Anhand reichen Materials kommt A. zu dem Ergebnis, daß es hier um die Einweihung in Mysterien geht ("was er gesehen hat" sei direktes Objekt zum Partizip embateuon, 122), wobei neben dem berühmten Bericht des Apuleius Met XI und der sogenannten "Mithras-Liturgie" zahlreiche weitere Belege beigezogen werden. Die Verfechter der kolossischen Philosophie hätten die religiöse Position vertreten, daß eine Mysterienweihe ("mystery initiation") zur christlichen Glaubenserfahrung gehören müsse. Das zweite in Teil II diskutierte Problem ist die Frage nach den stoicheia tou kosmou in 2,8.20. Gemeint seien "personalized spiritual forces", die nach den (im paganen wie im jüdischen Denken vorkommenden) Vorstellungen von Astrologie und Magie das alltägliche Leben der Menschen bestimmen (173). In 2,8 warne Paulus vor der "Philosophie" als vor einem durch menschliche Tradition vermittelten "leeren Betrug", der seine eigentliche Quelle eben in den stoicheia tou kosmou , d. h. in bösen kosmischen Mächten, und nicht in Christus habe (188). Da die Christen mit Christus "diesen Mächten gestorben" seien (2,20), gebe es für sie keinerlei Anlaß mehr, ihnen zu dienen.

Schließlich erörtert A. die Frage, welchen Sinn der in 2,8 gebrauchte Begriff philosophia hat. Da das Wort gelegentlich parallel zu mageia steht (und philosophos parallel zu magos), lege sich die Annahme nahe, daß man in Kolossä "esoteric knowledge based on magical and mystery traditions" als "Philosophie" bezeichnet hat (206). Setze man dies in Beziehung zu den in 2,16 f.21 zitierten bzw. referierten konkreten Handlungsanweisungen, so werde eine Rezeption und Umdeutung jüdischer Überlieferung erkennbar (217), wie sie sich wenig später in ähnlicher Weise in der Lehre des Elchasai finde ("Colossae was certainly not afflicted by the teaching of Elchasai, but ’the philosophy’ bore many similarities. At the minimum, the example of Elchasai points to emerging forms of localized syncretistic Christianity at an early stage", 218). Auf dieser Basis entwickelt A. schließlich Ansätze zur Rekonstruktion der kolossischen "Philosophie" ("Toward a Reconstruction of ’The Philosophy’", 228-244): Die führenden Vertreter dieser "Philosophie" waren Heiden, die auf der Basis von Erfahrungen aus den Mysterien, verbunden mit starken jüdischen Einflüssen (vor allem Sabbatobservanz), die durch Epaphras von paulinischer Tradition herkommende Gemeinde zu beeinflussen suchten ("The leaders of the faction had not only experienced ritual initiation in one of the local cults, but they were now ’baptizing’ this religious form and establishing an actual Christian mystery initiation rite", 231). A. vergleicht diesen Vorgang mit der Vermischung des nach Südamerika gelangten spanischen Katholizismus mit der religiösen Tradition der Maya in Yucatan (234 f.).

In Teil III stellt A. die paulinische Antwort auf die Lage in Kolossä dar. Von entscheidendem Gewicht sei schon der Hymnus in 1,15-20, der Christus als den Herrn der Schöpfung und Herrn der Erlösung und damit als den Sieger über alle feindlichen Mächte preise (246-270). Paulus rechne im übrigen nach wie vor mit der Parusie Christi und dem Endgericht (1,28), weshalb die von Bornkamm und anderen vertretene These, im Kol sei das Zeitdenken durch das Raumdenken abgelöst worden, in dieser Form falsch sei (283 und vor allem 309). Immer wieder betone Kol aber den vollkommenen Sieg Christi über die Mächte (277-287 zu Kol 2,15) und damit die Befreiung der Christen von diesen Mächten. Es sei infolgedessen sehr wahrscheinlich, daß der für Kol wichtige Begriff des "Pleroma" nicht der Sprache der Gegner angehöre, sondern aus der eigenen Sprache des Paulus stamme (294 f.).

A. weist abschließend mit Recht darauf hin, daß jede Rekonstruktion der Position der kolossischen "Philosophie" darunter leiden muß, daß wir nur die eine Seite, eben den Kol, kennen. "His opponents would certainly not have agreed with this analysis of the situation and would have been offended by his harsh language" (312). Im übrigen habe sich nur kurze Zeit später mit der Auseinandersetzung um die Gnosis im Christentum noch einmal eine ganz ähnliche Kontroverse ergeben.

Die von A. vorgelegte Untersuchung besticht durch ihre innere Geschlossenheit, ihre Lesbarkeit und durch die Fülle des in ihr dargebotenen Materials. Im strengen Sinne "neu" ist das Ergebnis sicher nicht; denn daß die kolossische "Philosophie" ein synkretistisches Phänomen ist, hat man seit langem gesehen ­ freilich bei weitem nicht so gut von den vor allem auch lokalen Quellen her belegt, wie sie jetzt von A. vorgestellt werden. Problematisch scheint mir zu sein, daß A. bei der Beschreibung jener "Philosophie" jeglichen Einfluß gnostischen Denkens von vornherein strikt ausschließen will.

Der auch bei ihm in diesem Zusammenhang begegnende Hinweis darauf, daß die gnostischen Texte jünger seien, ist nicht wirklich überzeugend. A. selbst erwähnt, daß der früheste inschriftliche Beleg für das Verb embateuo am Apollo-Tempel von Claros erst aus dem Jahre 132 stamme; doch er fährt dann fort: "It is very likely that the same terminology was being used 70 years earlier for the two-stage initiation rite" (121). Diese Vermutung wird richtig sein; doch sollte man dann nicht entsprechende Überlegungen zur Entwicklung des gnostischen Denkens zumindest auch in Erwägung ziehen? Nicht wirklich überzeugt hat mich A.s These, im Kol sei die futurische Eschatologie im wesentlichen doch bewahrt worden: Hat seine Aussage "Paul speaks of hope in both a present and future sense. Christ will return in all of his glory. He has yet to perform his work of creating a cosmic peace" (309) wirklich in dieser Form Anhalt am Text? Von daher wäre auch noch einmal zu fragen, ob der Tatbestand, daß sich das theologische Denken des Kol der von ihm bekämpften Irrlehre nicht unerheblich angenähert hat, von A. genügend berücksichtigt worden ist.

Aber mehr als solche Anfragen wiegt der Dank dafür, daß A. mit seinem Buch die Rekonstruktion der Position der Gegner des Kol auf eine sehr viel festere Grundlage als bisher vorhanden gestellt hat.