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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

900–902

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Vervenne, Marc [Ed.]

Titel/Untertitel:

Studies in the Book of Exodus. Redaction –­ Reception –­ Interpretation.

Verlag:

Leuven: University Press; Leuven: Peeters 1996. XII, 660 S. gr.8° = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, 126. Kart. BEF 2400.­. ISBN 90-6186-75-X u. 90-6831-825-X.

Rezensent:

Helmut Utzschneider

Kaum ein etablierter exegetischer Kongreß bietet eine dichtere Arbeitsatmosphäre als das "Colloquium Biblicum Lovaniense", aus dessen alttestamentlicher Tagung des Jahres 1995 der zu besprechende Band hervorgegangen ist. Aus den nicht weniger als dreißig Beiträgen formt sich die gegenwärtige wissenschaftliche Auslegung des Buches Exodus (und des Pentateuch) zu einem "Panorama", in dem die Gipfel des Interesses ebenso deutlich hervorragen, wie die Trends, die Problemzonen, aber auch die Fehlstellen ablesbar sind. Der umsichtigen Herausgeberschaft Marc Vervennes ist nicht nur die übersichtliche Präsentation der Beiträge samt Registern zu verdanken, sondern auch eine Einführung, in der die Beiträge und ihre Autoren der Reihe nach prägnant vorgestellt werden (3-18).

In seinem Eröffnungsbeitrag (21-59) plädiert V. für eine Verbindung, einen Ausgleich zwischen synchroner und diachroner Betrachtungsweise. Auf dem Feld der Diachronie geht es um eine auf verläßlichen Kriterien beruhende Verhältnisbestimmung priesterschriftlicher und (post-)dtr Anteile am Text. Nicht ganz einsichtig ist mir die Begründung seines Plädoyers für eine Neubewertung der Textgrundlage durch den Verweis auf "judaisierende Tendenzen" in der Bibelwissenschaft (38).

In den Beiträgen des Leuvener Bandes ist der von V. eingeforderte Ausgleich synchroner und diachroner Zugänge allerdings noch keineswegs hergestellt. Der Gipfel des Interesses liegt nach wie vor auf der Diachronie und d. h. vor allem auf der Redaktionsgeschichte. Dazu enthält der Band gewichtige Beiträge, denen wir uns zunächst zuwenden.

De Wettes einst für die Exegese des Dtn ausgegebene Devise, dieses als ein "alius cuiusdam recentioris auctoris opus" zu verstehen, ist längst auf den Pentateuch und das Buch Exodus ausgedehnt worden. Ja, man kann dieser ­ einer schiefen Ebene vergleichbaren ­ Tendenz zur Spätdatierung immer weiterer Textanteile folgen und sich im exegetischen Gelände doch gleichsam im Gegen- und Querverkehr bewegen.

Wir gehen aus von E. Ottos gewichtigem Beitrag zur "Nachpriesterlichen Pentateuchredaktion im Buch Exodus" (61-111). Ihm zufolge verdankt sich die Gestalt des Buches nicht dem spannungsvollen Nebeneinander dtr und priesterlicher Textschichten, sondern der "redaktionellen", m. E. schon eher "schriftstellerisch" zu nennenden Tätigkeit eines Bearbeiters, der sich die ihm vorliegenden Quellen ­ das sind die Rechtskorpora, schmale erzählende Vorlagen (zu denen in der Sinaiperikope immerhin Teile des "Privilegrechts" gehören), vor allem aber die Priesterschrift ­ unterwirft, mit dem Deuteronomium ausgleicht und dabei in jeder Hinsicht "den Griffel... führt" (96). Auf diesen "PentRed" gehen weite Teile etwa der vorliegenden Sinaiperikope zurück. Von einer dtr Bearbeitung keine Spur (99); wiewohl "PentRed" deuteronomistisch schreibt, ist er kein Deuteronomist. Die Priesterschrift, einst der Spätling der Quellen, wird zur ältesten durchgehenden Quellenschrift des Buches Exodus. Das Alte am Buch Exodus ist vor allem das vorjosianische Bundesbuch.

Eine durchaus ähnliche redaktionsgeschichtliche Konsequenz hat der Beitrag J. L. Skas zu Ex 19,3b-6 (289-317; vgl. zu diesem Text auch A. Schenkers Beitrag, 367-380). Skas Interesse geht allerdings über die redaktionsgeschichtliche Frage weit hinaus; er will den Abschnitt als Ausdruck einer neuen, an "Heiligkeit" orientierten Identität des nachexilischen Israel verständlich machen.

Der redaktionsgeschichtliche Gegen- und Querverkehr (bezogen auf Ottos Ansatz) kommt aus unterschiedlichen Richtungen und betrifft Erzähl- und Rechtstexte gleichermaßen: G. Fischers eingehende Analyse "Ex 1-15 ­ eine Erzählung" (149-178) erscheint zunächst als Beitrag aus synchroner Perspektive, der sorgfältig, ja liebevoll das "Gewebe" und die "treppenhafte" Struktur der Exoduserzählung nachzeichnet. Am Ende jedoch stehen handfeste diachrone Konsequenzen: Die Erzählung ist die Schöpfung "eines realen Erzählers" (173), "enthält keine Priesterschrift", setzt "Teile von dtrG, Dtn, Gen voraus" (177). Anders W. Johnstones (245-263) mit dem Siglum "P" versehener "final editor". Er kombiniert D-Materialien aus anderen Kontexten und fügt sie in die rudimentäre, vorpriesterliche Wanderungserzählung Ex 15,22-19,2 ein. Nun zur Redaktionsgeschichte der Rechtstexte: J. van Seters (319-345) bestimmt das Bundesbuch als abhängig vom Dtn und vom Heiligkeitsgesetz und will es als "Komposition" seines spätexilischen Jahwisten verständlich machen. E. Blum (347-366) erkennt im "Privilegrecht" (Ex 34,11-26) eine späte Epitome der Gebotsüberlieferung aus den Sinaitexten, aber auch aus Ex 12 f.

Dazu gesellen sich zwei Beiträge, die ältere Modelle der Pentateuch-Entstehung "hochhalten": W. H. Schmidt entfaltet "die Intention der beiden Plagenerzählungen" und versteht darunter unbeirrt einen jahwistischen und einen priesterschriftlichen Strang (225-243). Auf eine genauere Datierung namentlich des jahwistischen verzichtet Schmidt, abgesehen von dem Hinweis, daß dieser Strang anders als der priesterliche keine Nachwirkungen der sogenannten Schriftprophetie aufweise, wodurch unter heutigen Bedingungen so gut wie alles offen bleibt. Allerdings setzt ein entspannteres Verhältnis zur Redaktionsgeschichte Spielräume für die theologische Reflexion frei: Die von Schmidt am Motiv des Erkennens entfalteten "Intentionen" der Plagenerzählung(en) sind m. E. am Text verifizierbar, auch ohne daß die Quellenfrage definitiv entschieden sein müßte. (Zum Setting der Plagenerzählung im Exodusbuch vgl. auch das interessante Paper von B. Lemmelin, 443-460). Ähnlich wie W. H. Schmidt vertritt auch E. Zenger ein vertrautes diachrones Muster; sein Beitrag gilt der theologischen und literarischen Frage "Wie und wozu die Tora zum Sinai kam" (265-288). Im Gespräch mit F. Crüsemann, im Querverkehr zu E. Otto und in erstaunlicher Resistenz gegen De Wettes schiefe Ebene, bleibt Z. dabei, daß die narrative Grundstruktur der Sinaierzählung, einschließlich der Proklamation des Privilegrechts, auf das um 690 v. Chr. entstandene "Jerusalemer (vormals: jehowistische) Geschichtswerk" zurückzuführen sei (vgl. 282). Die theologische Karriere des Sinai als Haftpunkt der Tora beginne im Deuteronomium und sei von dort an den Sinai des Exodusbuches gelangt, einem "utopischen Ort" der Gottunmittelbarkeit der Offenbarung. In den diachronen Sachzusammenhang gehören auch noch P. M. Bogaerts aufgrund der Münchner Vetus Latina Handschrift entwickelte, auch redaktionsgeschichtlich bedeutsame These zum ältesten Septuagintatext von Ex 36-40 (399-428) sowie die Beiträge H. F. Richters zu Ex 4,24-26 (433-442), J. Waagenars zu Ex 13 f. und seiner Beziehung zu Jos 3 f. (443-470) und H. Ausloos, der sich um eine genauere Bestimmung des "Deuteronomi(sti)schen" in Ex 23,20-33 bemüht (481-500).

Die Lage bleibt auf dem Feld der Diachronie in hohem Maße widersprüchlich. Nach dem Urteil des Rez. hat dies vor allem zwei Gründe: 1. Offenbar gibt es kein akzeptiertes, theoretisch und methodisch begründetes Verfahren, intertextuelle Beziehungen literarhistorisch auszuwerten. Es ist z. B. klar, daß es Beziehungen zwischen den P-Stoffen und den "PentRed"-Stoffen der Sinaiperikope gibt; aber: Wer bezieht sich auf wen? Aufschlußreich in dieser Hinsicht ist J. Lusts Studie zur Intertextualität zwischen Ex 6,2-8 und Ezechiel (209-224). 2. Problematisch ist auch der Umgang mit den semantischen Makrostrukturen des Endtextes. Sie werden "synchron" ganz unterschiedlich wahrgenommen und ­ infolge dessen ­ diachron noch unterschiedlicher verortet. Lehrstück dafür ist Ex 32. Es sollte mehr synchrone Studien wie die von F. Polak zu "Theophany and Mediator" (113-147) geben, in der sich beobachten läßt, daß thematische Kohärenz nicht nur eine Frage von Quellen und Redaktionen ist, sondern sich auch "super-textual matrices" (117) verdankt. Auch P. Weimars Studie zu Exodus 1,1-2,10 als Eröffnungskomposition des Exodusbuches (179-208) zeigt dies. Ebenfalls synchron orientiert sind Beiträge von A. Wénin (zu Ex 19 f.) und S. van den Eynde (zu Ex 31,12-17).

Was gibt es sonst noch Neues? Vertreten ist die vergleichende Rechtskunde mit C. Houtmans Studie zur Frage einer stellvertretenden Talion in Exodus 21,22 ff. (381-397). Aus Amsterdam stammen zwei Beiträge zur narrativen (L. J. de Regt) und zur computergestützten Linguistik (E. Talstra). Dabei wird wichtige und oft unterschätzte Grundlagenforschung geleistet.

Sehr zu begrüßen ist, daß die "Wirkungsgeschichte" des Exodusbuches in sieben kürzeren Beiträgen zu Wort kommt:

J. Cook zu Ex 38 und Spr 31 in der LXX; T. Hieke zu Ex in Ps 80; A. van der Wal zu Ex und Jer 31; J. van Ruiten zu Ex 31 und Jub 2; C. Begg zu Ex 32 und Pseudo-Philo; L. Teugels zu Ex 19 und Ez 1 in der frühjüdischen Interpretation; sowie R. Dietzfelbinger zu Ex 17 in der frühchristlichen Exegese (537-607). Die Plazierung der Rezeptionsgeschichte unter den "Offenen Papers" und ihre Beschränkung auf kleine Textaussschnitte sowie auf die Antike zeigt aber m. E., daß der alttestamentlichen Wissenschaft nur ungenügend bewußt ist, welche geistesgeschichtliche und theologische "Potenz" ihr mit dem Buch und Thema "Exodus" anvertraut ist.