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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

891–893

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Sitzler, Dorothea

Titel/Untertitel:

"Vorwurf gegen Gott". Ein religiöses Motiv im Alten Orient (Ägypten und Mesopotamien).

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 1995. XVI, 249 S. gr. 8° = Studes in Oriental Religions, 32. Kart. DM 128,­. ISBN 3-447-03602-8.

Rezensent:

Elke Blumenthal

"Vorwurf gegen Gott" ­ der Titel der 1993 eingereichten Bonner Philosophischen Dissertation von Dorothea Sitzler orientiert sich an einer kleinen Veröffentlichung von Eberhard Otto, der 1951 mit dem "Vorwurf an Gott" Marksteine in der ägyptologischen Religions- und Literaturgeschichtsschreibung gesetzt hat.(1) Die veränderte Präposition soll unterstreichen, daß die Gottheit nicht allein Adressat, sondern auch Gegenstand menschlicher Vorwürfe ist.

Unter Berücksichtigung der seither erschienenen reichen Fachliteratur untersucht die Vfn. Abschnitte aus dem Sargtext-Spruch 1130 und der Lehre für Merikare(2) und die sogenannten Mahnworte des Ipu-wer ("Admonitions") und fügt diesen seit Otto als einschlägig behandelten Texten des ägyptischen Mittleren Reiches (ca. 2040-1785 v. Chr.) die Worte von Heliopolis,(3) entstanden vermutlich im ausgehenden Neuen Reich (ca. 1560-1070), hinzu. Von mesopotamischer Seite bezieht sie den Sumerischen Hiob ein, verfaßt vor oder um 1700 v. Chr., und den nicht wesentlich jüngeren akkadischen Text "Ein Mann und sein Gott" (AO 4462),(4) dazu die akkadischen Werke "Ich will preisen den Herren der Weisheit (Ludlul bel nemeqi)" und Babylonische Theodizee, das erste vielleicht noch im 2. Jt. v. Chr. geschaffen, das zweite in den ersten Jahrhunderten des 1. Jt.s.

Ausgangspunkt für den Vergleich ist die Kritik an einer Gottheit als gemeinsames Thema oder Motiv in den mehrheitlich literarischen Quellen, die freilich untereinander durchaus verschieden sind. Nur die relevante Passage des Sargtext-Spruchs ist in ihrem jetztigen Kontext nicht als Literatur im engeren Sinne, sondern im Dienst des Totenkults überliefert.

In einem analytischen Teil (1-109) werden zuerst die ägyptischen, dann die zweistromländischen Texte in der Reihenfolge ihrer mutmaßlichen Entstehungszeit nach ihrer historischen Einordnung, ihrem literarischen Charakter, ihrem Gottesbild, nach der Person des Anklägers und dem Fehlverhalten der angeklagten Gottheit befragt. Der zweite, systematische Teil (111-230) vergleicht die "Vorwurfdichtungen" als Gesamtheit unter jeweils denselben Gesichtspunkten und stellt Gemeinsamkeiten und Unterschiede fest. Ein Literaturverzeichnis von beachtlicher Vollständigkeit (237-246)(5) und ein Sachregister (247-249) erleichtern Zugang und Mitarbeit; leider gibt es kein Stellenregister.

Ebenso diszipliniert und logisch wie der formale Aufbau ist auch die Durchführung der Arbeit. Ihre Sprache ist klar und frei von modischem Ballast, die Interpretationen zeugen von Sorgfalt, Behutsamkeit, Einfühlungsvermögen, Sachlichkeit und Sachkenntnis. Als Ägyptologin im Nebenfach besitzt S. für die Hälfte ihrer Quellen eigene philologische Kompetenzen ­ nur diesen Teil kann die Rez. beurteilen. Aber auch in die mesopotamischen hat sie sich gründlich eingearbeitet und konnte sich zudem des Rates von Wolfram v. Soden, eines der besten Kenner der Texte, versichern. Ihre Herkunft von der Theologie äußert sich nicht nur in der Fragestellung, die von der Hiob-Thematik angeregt ist, sondern ebenso im sicheren Gebrauch des exegetischen Instrumentariums; ihrer religionswissenschaftlichen Schulung werden der komparatistischeAnsatz und die präzise Begrifflichkeit verdankt. Besonders an der Zusammenfassung der Ergebnisse (231-233) ist zu erkennen, daß das Interesse der Vfn. dem biblischen Ausgangspunkt ihres Themas und der Auseinandersetzung mit der umfangreichen Sekundärliteratur über dessen Vergleich mit mesopotamischen Paralleltexten gilt.

Nach ihren Erkenntnissen ist der "Held" der Vorwurftexte, d.h. der Kläger, kein "leidender Gerechter", sondern ein Weiser, der sich auf eine Gottheit verlassen hatte und nur im Vordergrund durch eine persönliche Notsituation (so in den mesopotamischen Quellen) oder durch gravierende soziale Mißstände (so in den ägyptischen Texten) in eine innere Krise geraten ist. Dahinter steht eine Krise des polytheistischen Weltbildes, die sich dort eingestellt hat, wo unter den vielen Göttern einer als letztverantwortlich für unheilvolle Erfahrungen zu bestimmen war. Dieser Gott ist nun aber nicht primär der Schöpfer- und Allgott, sondern der göttliche Herrscher und Hirt der Menschen. Ihm wird auch nicht in erster Linie vorgeworfen, daß er das Böse geschaffen oder zugelassen habe, sondern daß er seiner Fürsorgepflicht in Lagen kollektiver und individueller Bedrängnis nicht nachgekommen sei. Daß der Kläger Gott bei seiner Verantwortung für den Menschen behaftet, ist ein Zeichen dafür, daß er ihn weiterhin ernstnimmt und somit ein Zeichen von Frömmigkeit. Im Rahmen der Weisheitsliteratur, der die Vorwurfdichtungen zugehören, soll dies Verhalten vorbildlich wirken.

Die Vfn. hat es sich versagt, aus den neu bewerteten Vergleichstexten auf den biblischen Hiob zurückzuschließen, zumal sie zuvor auch persische und griechische Quellen hinzugezogen wissen möchte. Doch erhellt schon aus ihrer notwendig summarischen Zusammenfassung einer literarischen Tradition, die fast anderthalb Jahrtausende und das geographische Areal vom Nil bis zum Tigris einschließt, daß von ihrer Arbeit neue Impulse ausgehen können, um das Verhältnis des Hiob-Buches zu seiner Umwelt und damit auch seine Eigenart genauer zu beurteilen.

Die Heterogenität des ägyptischen Materials hat bisher verhindert, daß es in die nähere Betrachtung des Hiob-Problems einbezogen wurde. In dem Sargtext-Spruch 1130 ist eine Apologie des Schöpfergottes als hymnische Ich-Rede in ein Textcorpus eingebettet, das auf magischem Wege Verstorbene in die Götterwelt eingliedern sollte, doch ist sie sicher nicht für diesen Zweck formuliert worden. Ähnliches gilt wohl für den Hymnus auf den wohltätigen Schöpfergott am Ende der Weisheitslehre für Merikare, in deren fiktiver Vater-Sohn-Konstellation Probleme des Königtums erörtert werden. Im Unterschied zu allen anderen enthalten diese beiden Texte keine Vorwürfe, sondern Antworten auf Vorwürfe, sind also Äußerungen der Theodizee. Vorwürfe an den Weisheitsgott Thot, aber in Form von Fragen einer Stadtbevölkerung, finden sich in einem von den beiden Bittgebeten der Worte von Heliopolis. Nur die Mahnworte des Ipu-wer scheinen dem zweistromländischen Typus mit individuellem Ankläger und einer weitgehend schweigenden Gottheit zu entsprechen, doch ist das wegen des schlechten Erhaltungszustands der Rahmenerzählung nicht ganz sicher.

Es hat sich der Vfn. daher nahegelegt, nicht von einer formalen, sondern von einer thematischen Fragestellung auszugehen. Nur so konnte sie nachweisen, das der "Vorwurf gegen Gott" ein gesamtorientalisches Phänomen war, und wesentliche Erkenntnisse zu den Anfängen des monotheistischen (besser: monolatrischen; vgl. 144) Gottesbildes und der mit ihm korrespondierenden persönlichen Frömmigkeit am Beginn des 2. Jt.s v. Chr. gewinnen. Darüber hinaus ist ihr gelungen zu zeigen, daß sich die Nähe von Ägypten und Vorderem Orient in dieser Frage zwar nicht in einer gemeinsamen literarischen Gattung, doch durchaus in gemeinsamen Formelementen wie dem (fiktiven) Dialog, der Grundstrukutr von Rahmen- und (An)klageteil, der Verwendung von hymnischen Redeweisen und von Klage- und Weisheitssprüchen äußert und daß die Mehrheit der Texte zwar nicht als Schulliteratur, aber als Bildungsgut das religiöse Bewußtsein der Beamten formen sollte.(6)

Daß aber die Vorwurfdichtung als literarische Form auch in Ägypten existiert hat, läßt sich aus der Geschichte vom Beredten Bauern erschließen, die auf der Höhe des Mittleren Reiches aufgezeichnet worden ist und den meisten der von S. ermittelten formalen und inhaltlichen Kriterien genügt. Zwar richten sich die Vorwürfe des um sein Eigentum betrogenen Oasenmannes an den zuständigen hohen Beamten, nicht an den Sonnengott Re, doch ist der Beklagte eindeutig als Stellvertreter Gottes auf Erden charakterisiert. Wie in den meisten mesopotamischen Vergleichstexten weitet hier ein einzelner Kläger seine persönlichen Leidenserfahrungen zu einer Anklage ins Prinzipielle aus.(7) Wenn es aber möglich war, die Gattung "Vorwurf an Gott" zum Zweck der Kritik am Beamtentum umzufunktionieren, so setzt das voraus, daß es sie zuvor als literarisches Genos auch im ägyptischen Bereich bereits gegeben hat.

Fussnoten:

(1) Der Vorwurf an Gott. Zur Entstehung der ägyptischen Auseinandersetzungsliteratur, Hildesheim 1951.
(2) Zur fraglichen Zugehörigkeit des Passus E 123-127 zu den Vorwurftexten vgl. E. Blumenthal, in: A. Loprieno (Hrsg.), Ancient Egyptian Literature. History and Forms, Leiden 1996 (Probleme der Ägyptologie 10), 116 A. 85.
(3) In den Kolumnentiteln (53-59) versehentlich als "Worte des Heliopolis" bezeichnet. Zum literarischen Charakter der in einer Hymnensammlung überlieferten Gebete vgl. Sitzler, 54 f.
(4) Das Siglum ist versehentlich nicht erklärt. Es bezeichnet die Inventar-Nummer der altbabylonischen Keilschrifttafel im Louvre, die den Text überliefert.
(5) Als eine der wenigen ägyptologischen Lücken sei M. Gilula, Does God exist? in: D. W. Young [Hrsg.], Studies Presented to Hans Jakob Polotsky, Beacon Hill 1981, 390-400, genannt, dessen Übersetzung von Admon 12, 14 die Interpretationen der Vfn. (47) bestätigt.
(6) Zu der kulturelle Identität stiftenden Funktion von Literatur in Ägypten zuletzt J. Assmann, Kulturelle und literarische Texte, in: Loprieno (s. o. Anm. 2) 59-82.
(7) Vgl. E. Blumenthal, Der Vorwurf an Rensi, in dem Tagungsband Cognitive, Cultural and Linguistic Aspects of Text Interpretation. The Story of the Eloquent Peasant, Los Angeles, März 1997 (in Vorbereitung).