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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

888–891

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Rüpke, Jörg

Titel/Untertitel:

Kalender und Öffentlichkeit. Die Geschichte der Repräsentation und religiösen Qualifikation von Zeit in Rom.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1995. 740 S. 8° = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten, 40. Lw. DM 338,­. ISBN 3-11-014514-6.

Rezensent:

Udo W. Scholz

Dieses aus einer Tübinger Habilitationsschrift hervorgegangene Buch verleugnet seine Herkunft aus der durch soziologische Fragestellungen stark geprägten Religionsforschung um B. Gladigow und H. Cancik nicht ­ es ist der Versuch, die Geschichte des altrömischen Kalenders von der Königszeit bis in die kaiserzeitliche Spätantike (mit vielen Ausblicken ins christliche Mittelalter) neu zu schreiben, und zwar dadurch, daß "Regelungsbedarf wie Sinnstiftung, gesamtgesellschaftliches Zeitraster wie gruppen- oder teilsystemspezifische Steuerung von Zeit" (36) als besondere Aspekte der Untersuchung betont werden sollen. Das klingt ­ auch methodisch ­ neu (und furchterregend soziologenfachsprachig: doch dies nur in der Einführung 17-36 und gelegentlichen Rückfällen), zeigt sich jedoch dann als eine Geschichtsuntersuchung, die die Aussagen der meist späten und spärlichen, auch widersprüchlichen Zeugnisse zur römischen Kalendergeschichte in den von ihnen angesprochenen historischen (und dabei auch gesellschaftlichen) Kontext einzupassen sucht, um daraus auf Glaubwürdigkeit, Bedeutung und Reichweite dieser Aussagen zu schließen.

Die Untersuchung beginnt (39) mit einer Aufzählung und kurzen Vorstellung aller bisher (fast ausschließlich in Rom und Italien) gefundenen Kalender (bzw. deren Fragmente), um dann in einer ersten Zusammenfassung (165 ff.) festzustellen, daß trotz mancher Fehler und Abweichungen der bis ins letzte italische Dorf hinein ganz stadtrömische Zuschnitt der Kalender gegen lokalen Gebrauchswert spreche, andererseits aber diese scheinbare Rombezogenheit auch nicht als Zentralisierungsfunktion auf politischer oder administrativer Ebene verstanden werden könne. Bleibt: "im Rahmen der entstehenden epigraphischen Kultur der augusteischen Zeit... (sind) die fasti als Schmuckinschriften" (174) zu deuten, zu der nicht etwa ein in Rom aufgestellter augusteischer Monumentalkalender das Vorbild abgegeben hätte, sondern das "Experiment" der fasti der fratres Arvales im Hain der dea Dia: Aus der dort (ab etwa 28 v. Chr.) erprobten Verbindung von Kalender, Kommentar und Magistratslisten habe Augustus selbst die monumentale Veröffentlichung von Konsul- und Triumphlisten, auch von Protokollen wie jenes der Saecular-Spiele des Jahres 17 v. Chr. abgeleitet, andere und unbedeutendere Monumentstifter dagegen die Schmückung allzu großer leerer Flächen mit mehr oder minder großen Marmorkalendern. Das führt R. auf die Suche nicht nach einem Proto-, sondern dem Arche-Typ der erhaltenen Kalenderexemplare und damit auf die Geschichte der fasti (189 ff.).

Das von den römischen Antiquaren bezeugte älteste sogenannte romulische 10-Monats-Jahr, das von März bis Dezember ("10. Monat") gereicht haben soll, verwirft R. als antike Spekulation, besonders weil der Dezember im Gegensatz zum Februar keine Jahresabschlußriten aufweise (195 ff.), und überhaupt ein in der Groborientierung vom sonnenbestimmten Jahresablauf abweichendes Jahr unvorstellbar erscheint. Daher denkt sich R. als ältestes erschließbares römisches Jahr eine aus 12 Mondmonaten bestehende Periode, in die alle 2-3 Jahre ein Monat eingeschaltet wurde (Interkalation!), um in ungefährer Übereinstimmung zum Sonnenjahr zu bleiben. Diese Mondmonate des "vorrepublikanischen Kalenders" (209ff.)waren bestimmt durch Neu- und Vollmond (nach R.: Kalendae und Idus), und da die Nonae, "9 Tage" vor den Iden (römisch inklusiv gezählt), ältester Kalenderbestandteil sind, sucht R. im gleichen Abstand nach den Iden einen ebensolchen "Orientierungstag" und findet ihn über die nur im März und Mai bezeugten Tubilustrien, die R. mit den auf sie folgenden QRCF-Tagen als Komplex mit Fest- und Versammlungsfunktion neu deutet (214ff.). Damit habe dieser Mondmonat folgende Markt- und Versammlungstage: Kalendae, nach 3-6 Tagen Nonae, nach 7 Tagen Idus, nach 7 Tagen "Tubilustrium", nach 7 Tagen Kalendae usw.

Das vorcaesarische, durch die fasti Antiates maiores bezeugte "republikanische Jahr" läßt R. mit A. K. Michels (Princeton 1967) mit der 12-Tafel-Gesetzgebung um 450 v. Chr. beginnen: der damals vollzogene Schritt zu größerer Rechtssicherheit sei, den gesellschaftlichen Veränderungen entsprechend, im Kalendarischen mit "längerer Planbarkeit und freierer wirtschaftlicher Entfaltung" verbunden worden. Die nun vom Mondumlauf gelösten 12 Monate (1x28, 7x29, 4x31 Tage: durch die fasti Antiates maiores bezeugt) benötigten zwar immer noch Interkalationen, hatten aber nun kalendarisch feste Monatslängen (aber warum gerade diese?) und in diesen ­ neu! ­ zusätzlich zu den religiös bewahrten "Orientierungstagen" der Wirtschaft dienende, durchlaufende 8-Tage-Wochen, nundinae: von A-H gezählt (vgl. 241 das Schema des decemviralen Reformkalenders).

Einen nächsten Schritt brachte Cn. Flavius (304 v. Chr., als ausführendes Organ des mächtigen Appius Claudius Caecus), mit seiner Kalenderpublikation (245 ff.), in der nach R. nicht nur die möglichen Prozeßtage notiert waren, sondern das ganze die fasti Antiates maiores bestimmende Grundinventar: Abkürzungen der großen Feiertage und Qualifizierungen jeden Tages durch F (= fas-Versammlungen und Prozesse möglich) oder N (= nefas). Die 287 v. Chr. durchgedrückte lex Hortensia (274ff.) habe das flavianische F: in F (für Prozesse) und C (für Versammlungen und evtl. Prozesse) aufgespalten, und die Nundinen auch zu F-Tagen erklärt. Folglich müsse man von dem seit Mommsen sogenannten "numanischen Festkalender" Abschied nehmen: Er stecke bestenfalls in Brechungen in der politisch-juristischen Ausprägung der Graphik des Flavius (286).

Da der Kalender um 200 v. Chr. durch Interkalations-Schlamperei sich um 4 Monate vom Sonnenjahr entfernt hatte und wir aus dem Jahr 191 v. Chr. von einer lex Acilia zu Interkalationsregelungen wissen, schließt R., daß die von den Decemvirn gewollte "Automatik" der Interkalation "verlorengegangen" und 191 v. Chr. in die Kompetenz der pontifices überführt worden sei ­ und dies versucht R. durch Überlegungen zur alten Interkalationspraxis und zum religionspolitischen Kontext um 191 v. Chr. wahrscheinlich zu machen (292 ff. bzw. 319 ff.).

Eine nächste ­ und entscheidende ­ Etappe ist (für R.) M. Fulvius Nobilior und sein Musentempel (nicht 179, sondern 173 v. Chr. geweiht: 351), in dem ein Kalender wie die fasti Antiates maiores an die Wand gemalt war (341 ff.): wie diese (ja diesen als Quelle!) habe der Fulvius-Kalender die Dedikationstage von Tempeln geboten, und zwar nicht aus religiösem Interesse, sondern um mit diesen bei Kriegen gelobten Stiftungen indirekt siegreiche römische (Nobilitäts-)Geschichte zu schreiben.

Beweis ist R., daß die erhaltenen Stiftungseintragungen der fasti Antiates maiores nach R.s (durchaus diskutablen, aber eben nicht sicheren) Neudatierungen nicht über 173 v. Chr. heruntergehen und daß auch die Ergänzungen der ersten (erhaltenen!) Spalte der im Stuckschutt von Antium ebenfalls gefundenen Magistratslisten bis 173 v. Chr. hinaufreichen. Folglich sind "alle fasti fulvische fasti" (366) ­ eine Addition von "wirtschaftlich-politischen Motiven der Decemvirn, des politisch-juristischen Impetus des Appius Claudius und der historisierenden und glorifizierenden Absicht des M. Fulvius", wozu dann noch "die rationalisierend-entpolitisierende Reform Caesars und die die Religion zur Absicherung der eigenen Position instrumentalisierende Politik des Augustus" (625) kam.

Caesars Kalenderreform, bis auf Einzelheiten der Schaltung des Jahres 46 v. Chr. (dazu 384 ff.) in der Forschung unstrittig, wird ausführlich nachgezeichnet, auch die besonders mit Augustus einsetzende Füllung der Kalendarien mit Gedenktagen verschiedenster Art zum größeren Ruhme des jeweiligen Kaiserhauses (367 ff. bzw. 396 ff.). Gerade solche Kalenderfüllungen, die mit jedem Regierungswechsel sich ändern konnten, hätten aber nach einer ersten Blüte das Aufstellen solcher langlebiger Schmuckinschriften obsolet gemacht. Dazu kam, daß die neuen politischen Verhältnisse zu einer "neuen" Vereinheitlichung auch des Kalenders drängten, der als Rahmen für Ferialia auch für Griechen, Juden und Christen diente (427 ff.). Dagegen bildeten sich neue Bräuche bei der Jahreszählung ("nach Christi Geburt") heraus (445 ff.), bei der Osterfestrechnung (448 ff.) und besonders bei der Einführung der 7-Tage-Woche (453 ff.), und dabei besonders die Sonntagsregelung, die zusammen mit der Lokalisierung des Ostertermins zur Frage des christlichen Kalenders führt (471 ff.). Und mit dem letzten Schritt des Aufbaus eines Heiligen-Feriale (Sanctorale) anstelle des heidnischen Festbestandes ist bei aller formalen Kohärenz doch ein Neuanfang der Kalendergeschichte erreicht, der in Mittelalter und Neuzeit führt.

Abschließend untersucht R. Konzept und Auswirkungen des Begriffs feriae (487 ff.) und kommt dabei für die Stadt Rom, aber auch für Kolonien und Munizipien auf die verschiedensten Fragen der Gestaltung öffentlichen Lebens und Arbeitens vor dem Hintergrund der feriae-Regelungen zu sprechen (dazu 593 ff. die Zusammenfassung).

R.s Buch ist sicherlich ein wichtiges, grundlegendes Werk der Kalenderforschung, das die bisherigen Bemühungen umsichtig aufarbeitet (70 S. Bibliographie; 40 S. Register!) und in Zusammenführung religions-, literatur- und geschichtswissenschaftlicher Fragestellungen ­ ein wichtiges Positivum! ­ diskutiert. Neu und grundlegend ist dabei die bisher fehlende Zeichnung der Entwicklung der Kalendergeschichte ab Caesar bis in die karolingische Zeit hinein ­ neu auch, aber problematisch R.s Vorschlag zur Entwicklung bis hin zu Caesar. Hier muß der Versuch einer "religionsfreien" Interpretation als gescheitert betrachtet werden, denn zu viele, nur äußerlich plausible Ergebnisse halten genauerem Nachfragen nicht stand:

So bietet Mommsens "numanischer Kalender" eben doch den Grundbestand der ältesten Feste der römischen Religion (ohne Kalenden, Nonen und Iden oder QRCF- und QSTDF-Tage: 41 Feste!); die Frage von Mond- oder Sonnenbezug eines Kalenders sind einschneidende religionsgeschichtliche Fragen; die Tubilustrium-Deutung zur Bildung angeblicher Orientierungstage mit der Folge einer gleichzeitigen (!) Rück- und Vorwärtszählung im Kalendersystem ist willkürlich und unwahrscheinlich; die Tatsache, daß der bürgerliche und Bauernkalender (bis in die Agrikultur hinein ­ von Cato bis Palladius ­ ablesbar) unterschiedlich rechnen, wird vernachlässigt; die Rolle der pontifices, die erst 191 v. Chr. kalenderwichtig geworden sein soll, verzeichnet.

Kurzum: Der älteste römische Kalender muß als pontifikales Instrument gesehen und in seiner Entwicklung gedeutet werden, in das allmählich, aber wohl in anderen Entwicklungsschüben als von R. gezeichnet, administrative und gesellschaftliche Notwendigkeiten eindrangen; und von da aus muß dann die Fortsetzung in die von R. plausibel und übersichtlich gezeichnete Entwicklung ab Augustus gefunden werden.