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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

887 f

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Cancik, Hubert u. Helmuth Schneider [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. I: A–Ari.

Verlag:

Stuttgart-Weimar: Metzler 1996. LIII, 1154 Sp. 4°. ISBN 3-476-01471-1.

Rezensent:

Marius Reiser

Der Neue Pauly ist die Neubearbeitung des Kleinen Pauly. Er soll etwa den doppelten Umfang erhalten und durch drei Bände "Rezeption" ergänzt werden. Dieses Reallexikon der Antike "soll dem alltäglichen Gebrauch dienen, auch denen, die wie einst unsere Klassiker Herder, Goethe und Schiller ’nur sehr mäßig Griechisch wissen’ (W. v. Humboldt, 1795)" (Vorwort). Diese Absicht hat zu einigen löblichen Änderungen gegenüber dem Vorgängerwerk geführt: Die Artikel sind jetzt übersichtlich gegliedert und viel lesbarer geworden, da Hinweise auf Sekundärliteratur im Artikelkorpus seltener und nur in formalisierter Gestalt gegeben werden. Außerdem ist gegebenenfalls ein Abschnitt über Rezeptions- und Wirkungsgeschichte angefügt.

Auch Karten, Schemata und Abbildungen (schwarz-weiß) sind neu; man hätte sich noch mehr davon gewünscht. Gute Artikel des Vorgängerwerks (etwa die Tier-Artikel) wurden nur leicht überarbeitet, andere stärker (z. B. Agnostos Theos, Aisopos, Akademeia, Alchemie). Warum Artikel wie Ackerbau, Aion und Apotheosis ganz weggefallen sind, ist unklar.

In neuen Stichworten und Ergänzungen alter Artikel machen sich neue Schwerpunkte bemerkbar. Dazu gehört die stärkere Einbeziehung des Alten Orients und der Byzantinistik, der Sozial- und Alltagsgeschichte. Auch Wirtschaft und Kunst (z. B. Vasenmalerei) sind stärker berücksichtigt. Unter den kleineren Artikeln sind zahlreiche neue Orts- und Eigennamen (z. B. Ahura Mazda-, Ahiqar, Aï Chanum, Alalah, Aleria, Amarna, Andreas, Araber, Ardaschir). Unter den neuen größeren Artikeln sind erfreulicherweise viele Übersichtsartikel. Unter diesen seien folgende Stichworte besonders hervorgehoben: Abkürzungen (19-25), Abschrift (34-39), Ästhetik, Anthropogonie, Anthropologie, Anthropomorphismus, Architekt/Architektur (überarb.)/Architekturtheorie (1003-1021), Aristotelismus (1147-1152). Da aber auch die übrigen neu aufgenommenen Artikel größeren Umfangs von Bedeutung sind, seien sie hier aufgeführt: Abtreibung, Achilleus Tatios, Adam, Adel, Aderlaß, Adoptivkaiser, Ägäische Koine (143-156), Ägyptisch, Ägyptisches Recht, Ären, Äthiopisch, Agrargesetze, Agrarschriftsteller, Agrarstruktur, Ahoros, Aisop-Roman, Aitiologie, Akkadisch, Akzent, Alexandermosaik (mit Abb.), Allegorie, Allegorische Dichtung, Almosen, Alter, Amphorenstempel, Anagnorisis, Anonymus-Artikel, Antiquare, Aphorismos, Apokryphe Literatur, Apophthegma, Apulische Vasen, Archaisierende Schrift, Archaismus, Argumentatio. Dazu kommen folgende stark erweiterte Artikel: Afrika, Agora, Aisopos, Alexanderroman, Allegorese, Altar, Amphitheatrum (mit Abb.), Analogie, Anthologie, Apsis, Ara Pacis Augustae, Architektur. Der Kleine Pauly enthielt die Artikel Arbeit und Arbeitslieder. Diese sind ganz überarbeitet, wobei ein besonders interessanter Abschnitt auf dasThema Frauenarbeit eingeht (967 f.) und durch vier neue Stichworte ergänzt wird: Arbeitslosigkeit, Arbeitsmarkt, Arbeitsvertrag, Arbeitszeit. So ist ein äußerst informativer Abschnitt entstanden (963-973).

Daß auch in der Altertumswissenschaft ein neuer Wind weht, merkt man an vielen Stellen. Der Artikel "Aletheia" im Kleinen Pauly begann mit der Erläuterung: "’die Unverborgenheit’, d. h. Wahrheit". Im Neuen Pauly liest man nur noch: "die ’Wahrheit’". Heidegger, Ade! Beim Stichwort "Aberglaube" findet man keinen Artikel mehr, sondern nur den Verweis auf "Deisidaimonia" und "Superstitio". Man tut sich heute schwer mit dem Aberglauben, und manche wollen ihn unter "Folklore" subsumieren. Im Artikel "Allegorese" liest man: "Hinsichtlich ihres exegetischen Ansatzes dürfte auch Bultmanns Entmythologisierung als (existentiale) A. zu klassifizieren sein" (522). Der Rez. stimmt zu. Diese Tatsache spricht freilich nicht gegen Bultmanns existentiale Interpretation, die ihren ­ allerdings be-schränkten ­ Wert behält. Sie spricht aber vor allem für eine Neubewertung der Allegorese. Und was ist tiefenpsychologische Exegese anderes als Allegorese? Der Artikel "Almosen" erklärt schlicht: "Griechen wie Römern ist ein entsprechender Begriff (wie auch die positive Konnotation) fremd" (529). Dieser Sachverhalt ist für die jüdisch-christliche Sozialethik höchst kennzeichnend. Im Artikel "Apollonios von Tyana" liest man über die Vita Philostrats: "Es handelt sich um reine Hagiographie, bei der Parallelen zum Leben Jesu so offenkundig sind, daß sie beabsichtigt erscheinen können" (887). Das müßten die Neutestamentler mehr bedenken. Freilich, was heißt "reine Hagiographie"?

Die Literaturangaben bemühen sich um Beschränkung auf Wesentliches. Beim Alexanderroman sollte allerdings die einzige zweisprachige Ausgabe angegeben sein (H. van Thiel, Leben und Taten Alexanders von Makedonien, Darmstadt 1974) und auch die Edition der Carmina durch L. Bergson (Stockholm 1989). Bei Apollonios von Tyana dürfte ein Hinweis auf die neueren Arbeiten von M. Dzielska und E. Koskenniemi nicht fehlen. Seit E. L. Bowies ANRW-Artikel von 1978 hat sich doch einiges getan. Die Angaben über "eine frühe Vorform des neuzeitlichen Fußballspiels" im Artikel "Apopudobalia" wird hoffentlich niemand ernst nehmen

Das Buch ist großzügig und leserfreundlich gedruckt. Bedauerlich ist freilich, daß erst ein Band des Gesamtwerks vorliegt.

Die langsame Produktion von umfangreicheren Lexika scheint eine deutsche Eigenart zu sein. Im selben Jahr 1996, in dem der erste Band des Neuen Pauly erschien, erschien auch die 3. Überarbeitung des Oxford Classical Dictionary mit einer langen Liste neuer Stichworte, die eigens aufgeführt wird. Dies sei nur als Ansporn für alle Beteiligten angemerkt und mit dem Wunsch um ein zügiges Erscheinen der Folgebände verbunden. Ein so ausgezeichnetes Hilfsmittel hätte man gern bald vollständig zur Hand.