Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/1997

Spalte:

1075 f

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Schreiner, Martin

Titel/Untertitel:

Im Spielraum der Freiheit. Evangelische Schulen als Lernorte christlicher Weltverantwortung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 455 S. gr.8° = Arbeiten zur Religionspädagogik, 13. Kart. DM 92,­. ISBN 3-525-61463-2.

Rezensent:

Christoph Th. Scheilke

"Schulen in evangelischer Trägerschaft ­ ein vergessenes Kapitel", stellte K. E. Nipkow noch 1990 fest. "In der Religionspädagogik wie in der Gemeindepädagogik schweigen sich Handbücher, Kompendien und Grundrisse über sie aus" (1990, 496). Und damit hatte er Recht, denn selbst der Artikel von W. Molinski über freie Schulen in kirchlicher Trägerschaft (Handbuch der Religionspädagogik, Bd. 3.) geht nur ganz am Rande auf evangelische Schulen ein. So haben in der Tat die Praktische Theologie wie Religionspädagogik in Deutschland dieses umstrittene und wichtige Feld evangelischer Bildungsverantwortung lange Zeit stiefmütterlich behandelt, im Unterschied zu beispielsweise England (z. B. J. Astley, L. Francis, D. Lankshear) oder den Niederlanden (S. Miedema, D. de Ruyter), aber auch zur katholischen Seite (v. a. das Handbuch Katholische Schule, 5 Bde. Köln 1992 ff.).

Neben vor allem den Arbeiten von K. E. Nipkow selbst gab es bis dahin nur D. v. Heymanns theologische Dissertation über evangelische Gymnasien (Göttingen 1971) und G. H. Mellinghoffs historische Dissertation über die Entwicklung evangelischer Schulen in Berlin-West 1945-1970 (Erlangen 1983). Selbst die allgemeine Schulpädagogik hat in den letzten Jahren ein vermehrtes Interesse an evangelischen Schulen gezeigt (v. a. der Marburger Pädagoge H. Chr. Berg und der Essener Schulpädagoge F. Bohnsack).

In dieser Situation markiert die vorliegende Münchner Habilitationsschrift einen neuen Anfang. Die Arbeit ist historisch-systematisch geschickt angelegt. Nach einem knappen Eingangskapitel, das den Untersuchungsgegenstand fragend präzisiert ­ nicht alle genannten Fragen können freilich historisch-systematisch beantwortet werden ­ sowie theologischen und pädagogischen Forschungsstand, Quellenlage und eigenes Vorgehen skizziert, bietet das Hauptkapitel in acht Abschnitten (330 Seiten) einen chronologischen Durchgang durch die Geschichte des evangelischen Schulwesens. Jeweils vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund schulischer und gesellschaftlicher Entwicklungen werden ein breit gestreutes Quellenmaterial sowie ausgewählte Beispiele von Schulen in evangelischer Trägerschaft dargestellt. Das dritte Kapitel präsentiert und kommentiert Stellungnahmen der EKD zu den evangelischen Schulen (unter Einschluß der Schuldenkschrift der Bekennenden Kirche von 1943), bevor dann systematisch der historische Befund unter vier theologischen und drei kirchlichen Aspekten kategorialer Begründung evangelischer Schulen in freier Trägerschaft systematisch reflektiert wird.

Trotz einer Beschränkung auf allgemeinbildende Schulen ­ Schulen für Behinderte und berufsbildende Schulen in evangelischer Trägerschaft werden kaum berücksichtigt, obwohl sie zahlenmäßig die Mehrheit stellen; diese durchaus verständliche Entscheidung wird aber nicht inhaltlich begründet ­ mußte ein umfangreiches und schwierig zu interpretierendes Quellenmaterial aufbereitet werden (einzelne Akten in kirchlichen bzw. kommunalen Archiven, Schulakten, Synodenprotokolle, kirchliche Jahrbücher, Selbstdarstellungen in Schul[fest]schriften, Artikel in Verbandszeitschriften bzw. von Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft der evangelischen Schulbünde). Um so wichtiger ist es zu betonen, daß die Arbeit mit tatkräftiger Unterstützung letzterer entstanden ist, da ihnen an einer kritischen theologisch-pädagogischen Erhellung des eigenen Arbeitsfeldes sehr gelegen ist.

Die historischen Studien können hier nur pauschal gewürdigt werden. Mit Bezug auf die Quellen kehren sie mit Einfühlungsvermögen und in sorgfältig-kritischer Analyse die Besonderheiten der 28 ausgewählten Schulgründungen hervor und beschreiben ­ besonders aufschlußreich ­ den Streit um evangelische Schulgründungen in Schleswig-Holstein und Hessen.

Gerne hätte man erfahren, wie und warum gerade die vorgestellten aus ca. 150 allgemeinbildenden Schulen ausgewählt wurden. Nehmen sie in besonders typischer Weise die Schulprobleme ihrer Zeit auf? Belegen sie vor allem bestimmte "Traditionsströme" bzw. variieren sie sie in interessanter Form? Sollten ­ entsprechend der These von der Vielfalt des protestantischen Schulwesens bzw. der jeweiligen historischen Singularität der Schulen als dem entscheidenden Kennzeichen von Schule in evangelischer Verantwortung ­ eher die Differenzen oder ­ durch die Differenzen hindurch ­ eher die Gemeinsamkeiten evangelischer Schulen besonders herausgearbeitet werden?

Letztere liegen nach Sch. in der Auseinandersetzung einer jeden Schule mit der Verhältnisbestimmung von Glauben und Werken. In einer pluralen, auf Anerkennung von Differenz gegründeten Gesellschaft scheint mir dabei die Überlegung des Autors, "ob nicht gerade evangelische Schulen in freier Trägerschaft exemplarische Erfahrungsorte sein könnten hinsichtlich der traditionellen Unterscheidung zwischen fides qua creditur und fides quae creditur ..." (383), von besonderer Tragweite. Diesen Unterschied erfahren und diese Erfahrung reflektieren zu können, dafür sind Schulen in evangelischer Trägerschaft einzigartige Lernumwelten. Weitere systematisch-theologische Gemeinsamkeiten der Schulen liegen in der Auseinandersetzung mit der "Zwei-Reiche-Lehre" und mit der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Auch hier ergeben sich aus der systematischen Durchdringung wichtige Hinweise zu Begründungszusammenhängen und Handlungsperspektiven evangelischer Schulen heute.

Deshalb dürfte Sch.s Arbeit für die Schulen selbst von nicht geringem Nutzen sein, verhilft sie doch mit ihrem umsichtigen Überblick zur Orientierung angesichts der Vielfalt von Traditionen und zeigt zentrale theologische Ansatzpunkte für gegenwärtige Propriumsdiskurse auf. Denen, die in Kirchenleitungen und Synoden, in Elternkreisen und Gemeinden gegenwärtig Neugründungen überlegen, gibt Sch. kompakt und differenziert Hinweise zur Präzisierung der jeweiligen theologischen Begründungsmöglichkeiten. Sodann belegt die Arbeit anschaulich und eindrucksvoll, was der Vf. abschließend betont: "Die evangelischen Schulen in freier Trägerschaft bieten der Theologie einen großen Acker voller ungehobener Schätze" (407). Diesem Urteil, vor allem aber auch der Warnung des Autors, es würden "wertvolle Chancen der Erneuerung des reformatorischen Bündnisses von evangelischer Gemeinde, neuzeitlicher Wissenschaft und humanistischer Pädagogik nicht wahrgenommen"(407), wenn Theologinnen und Religionspädagogen nicht intensiver diesen Acker pflügen und pflegen, kann man angesichts der hier schon gehobenen Schätze nur zustimmen.

Die dem Verkündigungsauftrag entspringenden Bildungsaufgaben der Christen erschöpfen sich gegenüber den Jüngeren beileibe nicht in Kindergottesdienst, Religionsunterricht, Christenlehre oder Konfirmandenunterricht. Gerade weil Christen auf Bildung angewiesen sind, um die Gute Nachricht selbständig zu kommunizieren und zu leben, sollten sie, ihre Kirchen und Theologie heute verstärkt das Augenmerk auf Schulen in evangelischer Trägerschaft richten.

Sch.s Überlegungen zur bildungspolitischen Dimension weisen zudem auf den wichtigen Dienst hin, den diese Schulen leisten. "Sie befähigen ... die Kirche, auf das staatliche Schulwesen, seine weitere Gestaltung und Entwicklung an für die Kirche wichtigen Punkten einzuwirken. Sie sichern als exemplarische, institutionelle Erfahrungsräume der Kirche bildungs- und schulpolitische Kompetenz und ermöglichen eine realitätsbezogenere und glaubwürdigere Wahrnehmung gesamtgesellschaftlicher Bildungsverantwortung von Kirche und Diakonie" (405). Deshalb stellt die gut lesbare Arbeit auch für allgemein an Schule Interessierte und für Schulen Verantwortliche außerhalb der christlichen Kirchen eine wahre Fundgrube dar.