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Ausgabe:

März/1999

Spalte:

286–288

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Roth, S. John

Titel/Untertitel:

The Blind, the Lame, and the Poor. Character Types in Luke-Acts.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 1997. 253 S. gr.8 = Journal for the Study of the New Testament, Suppl. Series 144. Lw. £ 37.50. ISBN 1-85075-667-8.

Rezensent:

Petr Pokorny

Es handelt sich bei dem vorliegenden Buch um eine leicht revidierte Dissertation, die der Autor an der Vanderbilt University im Jahre 1994 verteidigt hat. - In der Einleitung, in der R. auch eine Literaturübersicht und kenntnisreiche sowie gut lesbare Informationen über seine Methode und über die leserorientierte Textinterpretation (in Deutschland vor allem durch W. Iser vertreten) überhaupt bietet, finden wir vor allem die These der Arbeit: Der Verfasser der beiden Bücher (Luk und Apg), die in ihrer literarischen Absicht eine Ganzes bilden (29 u. 217, Anm. 6), setzt bei seinen Lesern die Kenntnis der griechischen Bibel (LXX) voraus. Das bedeutet, daß sie die Zerschlagenen, die Armen, Blinden, Lahmen, Aussätzigen, Tauben und (auch) die Toten als eine Einheit, als eine Gruppe der negativ Privilegierten begreifen, mit welcher sie sympathisieren. Die Sünder und die Zöllner bilden in dem lukanischen Werk eine andere Gruppe, die sich von der ersten deutlich abhebt. Die Zielsetzung der Arbeit ist die Untersuchung der verschiedenen Funktionen dieser beiden Gruppen in der Pragmatik des Textes.

In Kap. 2 resümiert R. die bisherige Forschungsgeschichte und in Kap. 3 schildert er ausführlich die Ergebnisse der Behandlung der antiken Texte, die er bei seiner Untersuchung voraussetzen kann, vor allem der Analyse der Zusammenarbeit der Leser, die der Verfasser erwartet und die vor allem eine Art aktive Intertextualität bedeutet: Die Leser verstehen den von ihm generierten Text im Lichte anderer ihnen vertrauter Texte und benutzen die dort erwähnten Menschentypen paradigmatisch (nicht individuell) als Ausdruck der im Text angebotenen Möglichkeiten der Orientierung. Dann (Kap. 5) bestätigt er die These von der positiven und typisierenden Auffassung der ersten Gruppe (die "Armen") als derjenigen, die nur auf die Hilfe Gottes angewiesen sind, durch Untersuchung der diesbezüglichen Septuagintastellen. Im Kap. 6 und 7 folgt der meines Erachtens bedeutendste Abschnitt der Arbeit, nämlich eine sukzessive Exegese aller Texteinheiten, die in Luk/Apg von den Menschen aus beiden oben genannten Gruppen erzählen.

In der Zusammenfassung (Kap. 8) wird die am Anfang gestellte Frage beantwortet: Der Vf. benuzt die Sympathien der Leser, zeigt ihnen Jesus als Retter der Armen, Zerschlagenen usw. (einschließlich der Toten), um sie zur Hilfe für solche Menschen in ihrer Gegend und ihrer Zeit zu motivieren und um gleichzeitig ihre negative, durch Aussagen wie Ps 1,1-2 motivierte Einstellung zu den Sündern zu ändern. Die eindeutig positive Einschätzung der Armen in ihrer durch die Septuaginta gestalteten Wertstufe soll ihnen die Aufnahme des christlichen Heilands erleichtern, der nicht nur der Retter der Armen, sondern auch Freund der Sünder war.

Wie ich schon erwähnt habe, sind die wertvollsten Abschnitte diejenigen, die dem Leser dieser Monographie die einzelnen Erträge der leserorientierten Textinterpretationen präsentieren, vor allem die zwei exegetischen Kapitel, die mehrere nützliche Einzelbeobachtungen enthalten. Allerdings wäre es auch hier angezeigt gewesen, die Arbeit für die Publikation zu kürzen, denn einige Operationen, wie (Kap. 5) die fast stereotypen Berichte über die einzelnen Septuagintastellen, könnten leicht zusammengefaßt werden. Das ist allerdings nicht R.s Schuld.

Problematischer scheint mir seine leserorientierte Methode, die konsequent mit Intertextualität arbeitet. R. kommt zu dem Ergebnis, daß Lukas bei seinen Lesern die Kenntnis der Septuaginta voraussetzt. Der Befund ist jedoch so einheitlich, daß er gerade in seiner Eindeutigkeit auf verschiedene Weisen interpretiert werden kann.

Erstens bedeutet er, daß der Verfasser die Septuaginta gut gekannt hat. Zweitens, daß es seine Absicht war, gerade durch die vielen LXX-Zitate und Anspielungen bei seinen Lesern eine ähnliche Grundeinstellung der hilfsbereiten Zuneigung zu den Armen zu erwecken, wie er sie aus der Jesustradition und aus der Schrift kannte. In dieser Hinsicht hat die vorliegende Arbeit in der lukanischen Forschung zwei Parallelen: die in derselben Reihe erschienene Dissertation von Kyoung-Jin Kim, Stewardship and Almsgiving in Luke’s Theology (JSNT SS 155, 1998) und die kurze Studie des erfahrenen Exegeten Heinz Joachim Held, Den Reichen wird das Evangelium gepredigt (Neukirchen 1997). Drittens scheint mir, daß die Zitate aus der Schrift, den Propheten und Psalmen auch auf den (offensichtlich größeren) Kreis der mit der Bibel nicht vertrauten "authorial readers" ganz konkret wirken konnten, und zwar als Unterstützung seiner Erzählung und seines Zeugnisses aus einem alten Text, wie es damals recht üblich war und wie es Lukas auch mit anderen Texten gemacht hat (Apg 17,28 f.). Die Weise, auf welche er mit den zum allgemeinen Kulturgut gehörigen Wahrheiten arbeitet (z.B. mit dem sokratischen Spruch "man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen" - Apg 5,29; 4,19), um das "Wort" der christlichen Predigt den Lesern als Erfüllung der besten und höchsten Werte menschlicher Kultur zu präsentieren, unterstützt diese zweite alternative Deutung des Befundes.

Hier zeigen sich die Grenzen der (nur) leserorientierten Hermeneutik - z. B. bei der Untersuchung der Aussagen, die sich auf die Toten beziehen, hat der Vf. die älteren christlichen Bekenntnisse als Interpretationsmittel nicht beachtet. Kurzum: Eine nützliche, sympathische, methodisch allerdings mit Mängeln behaftete Arbeit.