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Ausgabe:

November/1997

Spalte:

1068–1072

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Wagner, Falk

Titel/Untertitel:

Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus. 2. Aufl.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1995. 212 S. 8°. Kart. DM 28,­. ISBN 3-579-00249-X.

Rezensent:

Hermann Fischer

Will der Protestantismus als soziologische Ausformung einer geschichtlich bestimmten Gestalt des Christentums überleben, so muß er nach dem neuen, 1995 schon in 2. Auflage erschienenen Buch von Falk Wagner, eine Umformung seiner selbst vollziehen, die die substantiellen Gehalte derjenigen Umformung, aus der der neuzeitliche Protestantismus von Schleiermacher bis zu Troeltsch, Tillich und Hirsch hervorgegangen ist, noch weit hinter sich läßt.

Der von W. mit spitzer Feder, scharfsinnigen Argumentationen, harschen Abgrenzungen und pointierten, zuweilen rüden Polemiken angesteuerte Protestantismus muß nicht nur den "reflexions- und erkenntnisvergessenen Offenbarungspositivismus" (51) der "neuevangelischen Wendetheologie des Wortes Gottes" (52) Karl Barths und seiner Schüler mit ihrer "mythisch-mythologisch hochbefrachteten Rede vom Worte Gottes" (49) hinter sich lassen, er muß sich im Blick auf das Gottesverständnis auch verabschieden von einem "transzendente(n) Supranaturalismus einer allein über den Ausdruck ’Gott’, somit sprachlich-vorstellungshaft zugänglichen Gott-Hypostase", die "gebildeten und aufgeklärten Zeitgenossen als Figur aus einer vergangenen Mythen- oder Märchenwelt oder als der sprichtwörtliche deus ex machina des Theaterdonners" erscheint (15). Ähnliches gilt für das christliche Verständnis Gottes als des Schöpfers (89-113). Der Schöpfungsglaube ist nicht nur deshalb obsolet geworden, weil er sich über Jahrhunderte hinweg mit naturwissenschaftlich-kosmologischen Vorstellungen und Erklärungsmodellen zu Synthesen verbunden hat, die unter Voraussetzung der neuzeitlichen Wissenschaft unhaltbar geworden sind (89), sondern vor allem deshalb, weil sich im Glauben an Gott den Schöpfer ein "asymmetrisches" Verhältnis von göttlicher Selbständigkeit und welthafter Abhängigkeit bekundet (109), das in religiöser und moralischer Hinsicht "empörend" ist, weil es dem altrömischen Grundsatz entspricht: "Quod licet Iovi, non licet bovi" (61; 73; 131). Nach W. vermag der Glaube an Gott als allmächtigen Schöpfer schon aus Gründen theologischer Logik nicht zu überzeugen, weil dieser Glaube die Vorstellung von der unmittelbaren Selbstbestimmung und Selbstmacht Gottes einschließt (108 f. u. ö.), also Elemente, die im Blick auf den Menschen als "Sünde" beurteilt werden (61).

Unter solchen Verstehensvoraussetzungen gerät auch die an Paulus und Luther orientierte "sogenannte Rechtfertigungslehre" ins Zielfeuer der Kritik (60-63). Die Rechtfertigungsfreiheit als Quintessenz der Rechtfertigungslehre ist "auf doppelte Weise aporetisch. Denn sie konzentriert sich erstens (a) auf das der spätmittelalterlichen Situation entstammende Syndrom von Sünde und Heil, um damit zweitens (b) den einseitig passivischen Charakter der den Menschen zuteil werdenden Freiheit zu verbinden" (61). Das in solchen Zusammenhängen entfaltete Sündenverständnis ist zurückzuweisen, weil es sich an der (falschen) Logik der "absolutunmittelbaren Selbstbestimmung und Selbstdurchsetzung Gottes" orientiert und dementsprechend (ebenso falsch) die menschliche Freiheit als unmittelbardirekte Selbstbestimmung und Selbstdurchsetzung interpretiert und als sündhaft disqualifiziert. Deshalb muß "die unmittelbare Selbstbestimmung Gottes und die des Menschen gleichermaßen kritisiert werden" (61).

Weiter: Auch die Orientierung an der Heiligen Schrift gehört zu den unverarbeiteten vormodernen Restbeständen der protestantischen Theologie auf dem Weg zu ihrer neuzeitlichen Verfassung (68-88). Mit der Rückbindung der Argumentationen an die Hl. Schrift kultiviert die Theologie eine "mythische Ursprungsvorstellung". Das ist um so verwunderlicher, als die protestantische Theologie "von dem einmaligen historischen Faktum des Auftretens Jesu von Nazareth" ausgeht und damit einem nicht-mythischen Ansatz folgt. "Gleichwohl hält die christliche Theologie nicht nur im Hinblick auf einzelne Vorstellungen, sondern grundsätzlich an der Funktion des Mythos fest. Sie hypostasiert nämlich die neutestamentlichen als die zeitlich frühesten Schriften als ’Urchristentum’, um diesen einen normativen Geltungsanspruch für alle späteren Zeiten aufzubürden. Durch die historisch-kritische Forschung werden zwar die neutestamentlichen Kerygmata und die kirchlichen Dogmen aufgrund ihrer raumzeitlichen Entstehungsbedingungen immer wieder relativiert. Doch hält die Theologie an der Fiktion eines für alle Zeiten normativen Urchristentums fest. Mittels dieser Gängelung durch den Mythos des Urchristentums wird die protestantische Frömmigkeit gehindert, ein adäquates Bewußtsein ihrer eigenen Gegenwart auszubilden" (60). Das sind einige der kritischen Thesen, die W. in seiner neuesten Veröffentlichung vertritt, begründet, entfaltet und kritisch absichert.

Das Buch wird eingeleitet mit einem "Vorwort", in dem sich eigentümlicherweise nicht der Vf., sondern Richard Ziegert als Herausgeber zu Wort meldet. Warum so verfahren wird, erfährt der Leser nicht, auch nicht, warum das hier angekündigte "ausführliche Nachwort des Herausgebers" dann ausbleibt. Es findet sich aber der Hinweis, daß in dem Band Vorträge dokumentiert sind, die W. für Tagungen der Evangelischen Akademie der Pfalz beigesteuert hat. Insgesamt handelt es sich um acht Abhandlungen, von denen die ersten vier mehr theologisch-dogmatische, die letzten vier überwiegend ethische Themen in den Blick nehmen.

Der erste Beitrag "Die religiöse Lage der Gegenwart zwischen zweideutiger Moderne und pluralen Religionskulturen" (11-46) behandelt einige grundlegende Probleme des Protestantismus unter den Bedingungen der Neuzeit, die im zweiten Beitrag "Die Zukunft des Protestantismus zwischen religionslosem Glaubensdogmatismus und undogmatischer Religion" um weitere kritische Aspekte angereichert und verschärft werden (47-67). Der dritte Aufsatz "Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips" (68-88) leuchtet eine spezifische Schwerpunktsetzung protestantischer Theologie aus, während der vierte Beitrag "Gott ­ Der Schöpfer der Welt? Eine philosophisch-theologische Grundbesinnung" (89-113) im Zuge einer kritischen Destruktion des christlichen Schöpfungsglaubens eine radikale Kritik des überlieferten Gottesverständnisses vorträgt. Wie schon in den bisherigen Beiträgen überwiegt auch in den folgenden vier Aufsätzen mehr ethischen Charakters die kritische Abgrenzung gegenüber den in der theologischen Tradition ausgearbeiteten Lösungsversuchen; Ansätze zu Neuformulierungen oder gar zur Überwindung der Krise gelangen über das Stadium stark erläuterungsbedürftiger Andeutungen und programmatischer Hinweise kaum hinaus. Folgende Themen stehen hier zur Diskussion: "Religion und Recht in der Sicht protestantischer Theologie" (114-136), "Recht und Moral in der theologischen Ethik" (137-157), "Protestantische Kirchen zwischen Demokratie und Demokratisierung" (158-179). Der letzte Beitrag "Die gebildeten Verächter der Religion oder Kirchen und kritische Intellektuelle" (180-205) erörtert nur noch sehr locker ethische Fragen; er wendet sich unter den Aspekten von Bildung und intellektueller Kritik noch einmal grundsätzlichen Fragen zu.

Mit den vorliegenden Abhandlungen bietet W. eine durch einzelne Aufsätze schon vorbereitete neue Lesart religionsphilosophischer und theologischer Probleme. Hatte er in seinen bisherigen Publikationen ­ im Medium theologiegeschichtlicher Durchblicke und Destruktionen ­ die Möglichkeiten einer Theorie des Absoluten erkundet, so erörtert er das Thema der Religion im allgemeinen und des Protestantismus im besonderen jetzt auf der empirisch-religionssoziologischen Ebene, fragt nach der sozialen Leistungskraft der Religion und verknüpft mit der Theologie "lebensweltpraktische und soziokulturelle Erwartungen" (so in einem Aufsatz von 1993).

Der Wechsel der Fragestellung äußert sich schon im Titel der Aufsatz-Sammlung. Wie ist die "gegenwärtige Lage des Protestantismus" einzuschätzen? Welche Bedeutung und Funktion kann der Religion angesichts der neuzeitlichen Modernisierungsprozesse noch zugesprochen werden? W. gelangt zu einer im Ergebnis desaströsen Diagnose. Denn das entscheidende Problem der christlichen Religion in der Moderne besteht W. zufolge darin, daß sie mit dem Glauben an Gott auf einem Fundament beruht, das sich nach ihrem Selbstverständnis jeder menschlichen Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung entzieht. Das aber vermag in der Moderne, die sich auf Autonomie gründet, nicht mehr zu überzeugen. "Nicht irgendetwas an der Religion ist somit problematisch geworden, sondern ihr Kardinalanspruch, mit dem Gottesbewußtsein den menschlicher Selbsttätigkeit entzogenen, weil ihr vorausliegenden Grund des menschlichen Daseins zu thematisieren, verpufft in der Regel resonanz- und folgenlos" (14).

Die christliche Religion ist in eine "Situation des öffentlich-allgemeinen Plausibilitätsverlusts" geraten (14), der sich durch Rückgriff auf alte Formeln und Denkmuster nicht wieder korrigieren läßt, und den W., wie eingangs angedeutet, an überlieferten dogmatischen Lehrbeständen, aber auch an der gottesdienstlichen Praxis (65 f.) unter Beweis zu stellen sucht. Dabei werden alle Register der Kritik gezogen und "die ihrem Glaubens-Tendenz-Betrieb" verpflichteten "Berufstheologen" (15, 49 u. ö.) und das "kirchliche Personal" (53) ebenso wie die "religiösen Praktikanten" (31, 57, 106 u. ö.) mit Kübeln von Spott und Hohn überschüttet. W. will den Protestantismus entschlacken und ihn auf der Linie soziokultureller Argumentation als sozialen Ort profilieren, "an dem das Bewußtsein der Spannung zwischen personaler und sozialer Freiheit gepflegt werden kann". Nur in solcher Gestalt hätte der Protestantismus in der Moderne eine Lebens- und Überlebenschance (67).

Neben dieser empirisch-religionssoziologischen Perspektive argumentiert W. aber weiterhin auf einer religionsphilosophischen bzw. strikt systematisch-theologischen Ebene, und hier halten sich Elemente der früher angestrebten spekulativen Theorie des Absoluten durch, ohne daß deutlich würde, wie sich das eine mit dem anderen stringent verknüpfen ließe. W. stimmt der These der radikalen Religionskritik zu, derzufolge der glaubende Mensch, der sich im göttlichen Grund gegründet und von ihm abhängig weiß, einer Selbsttäuschung erliege, da dieser Grund in Wahrheit nichts anderes sei als eine phantastisch-fiktive Einbildung, ein Produkt des religiösen Subjektes selbst (28f.). W. schreibt seine bisherige Fundamentalkritik an Schleiermacher fest und fort, wenn er urteilt: "Der Grund der Abhängigkeit, von dem das menschliche Dasein zu dependieren wähnt, verkehrt sich in die Abhängigkeit des Grundes von eben diesem Dasein. Der Versuch, zu anthropologischen Einführungsbedingungen für das Reden von Gott zu gelangen, bricht also zusammen, weil der gemeinte göttliche Grund von Gnaden des Begründeten ist" (46. Vgl. auch 105). W. formuliert diese Sätze in Auseinandersetzung mit Lübbes Religionstheorie, aber genau dieses Argument hat er seit eh und je gegen Schleiermachers Religionstheorie vorgebracht. Und überdies: Welchen Sinn macht es, diese Einführungsbedingungen nur unter der Voraussetzung gelten zu lassen, daß sie "notwendigerweise nach einer den Gottesbezug einschließenden religiösen Deutung verlangen" (39)? Sollte das heißen: Nur unter Voraussetzung eines anthropologischen Gottesbeweises?

Angenommen, die Kritik am religiösen Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit wäre wirklich stichhaltig: Wie ist aus dem circulus vitiosus herauszukommen? Wie ließe sich der göttliche Grund in seiner nicht nur vermeintlichen Absolutheit, sondern als echte Absolutheit konsistent denken? Nach W. so, daß "vom Gedanken des selbständig Unbedingten auszugehen (wäre), um von ihm aus zugleich die Abhängigkeit welthaftmenschlicher Gegebenheiten mitzubegründen". Aber W. formuliert zu Recht gleich als Selbsteinwand, daß solch ein Verfahren ebenfalls undurchführbar zu sein scheine, da "der Gedanke des selbständig Unbedingten nicht dieses selber sei" (46). Damit bliebe aber auch dieser Ansatz schutzlos dem gegen Schleiermacher vorgebrachten religionskritischen Einwand ausgesetzt. Das Absolute als Gedachtes läßt sich gegen den Verdacht der Illusion und Fiktion nicht sichern. Und: Wie sollte dem in seine Relativitäten und seine endliche Freiheit eingebundenen Menschen das Absolute denkerisch zu Gebote stehen? Es ist bezeichnend, daß W. solch eine Theorie "des selbständig Absoluten" in seinem Buch nicht weiter verfolgt.

Das gilt auch für die Erwägungen zum Gottesgedanken, die W. insbesondere in seiner philosophisch-theologischen Grundbesinnung über "Gott ­ der Schöpfer der Welt?" vorträgt (89-113). Hier setzt er mit der lapidaren Behauptung ein, "daß der Glaube an Gott, den Schöpfer der Welt, fast ausschließlich nur noch eine binnenreligiöse und binnentheologische Rede von Gläubigen für Gläubige darstellt". Im Alltag unserer säkularisierten Gesellschaft spielt er keine Rolle mehr (91); unter empirisch-religionssoziologischem Vorzeichen scheint er überflüssig zu sein. Daran ändern nach W. auch theologische Bemühungen nichts, die Schöpfungsvorstellung dadurch zu reaktivieren, daß man sie entweder aus aller Verbindung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnisansprüchen löst (95-98: Schleiermacher; inkonsequent K. Barth) oder sie gerade umgekehrt auf dem Felde naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu bewähren sucht (98 f.: Pannenberg).

Die Versuche überzeugen nicht. Sie können es auch gar nicht, wie nun in strikt philosophisch-theologischer Argumentation entwickelt wird, weil sich nach dem bekannten Diktum Fichtes eine Schöpfung gar "nicht ordentlich denken" lasse (vgl. 107). Denn das bei der Schöpfung als "ursächliche Macht" vorausgesetzte göttliche Subjekt bedarf immer schon des anderen seiner selbst, um sich als Macht zu erweisen. Damit aber bricht die "Asymmetrie" von göttlicher Selbst- bzw. Allmacht und welthaftem Anderssein zusammen: "Der Gedanke des als unmittelbare Selbstmacht sich selbst offenbarenden Gottes, der als die Asymmetrie des Verhältnisses von Selbständigkeit und Abhängigkeit, Aktivität und Passivität, Herrschaft und Knechtschaft gedacht wird, scheitert ... Die Differenz zwischen Gott und Mensch fällt" (108 f.)!

Diese Aufhebung der asymmetrischen Verhältnisbestimmung macht nach W. "den logischen Anfang des Christentums aus: Gott wird Mensch" (109). Diese "Revolutionierung des Gottesgedankens" (110, 61) gilt es in den Mittelpunkt einer Neuinterpretation der christlichen Religion und des Protestantismus zu stellen. Sie folge nicht nur aus der Logik des Gedankens der Menschwerdung Gottes, sondern ebenso aus "der des trinitarischen Gottesgedankens" (61).

Man staunt nicht wenig: Die Schöpfungsvorstellung hat sich nach W. überlebt, aber der Gedanke der Trinität, den er wie den Blitz aus heiterem Himmel unbegründet und unexpliziert einführt, scheint für jedermann, insbesondere auch für den säkularen Zeitgenossen (!!), in seinem Sinn offen zutage zu liegen. Und mit ihm dann wohl auch die umstandslose Folgerung: "Durch diese Revolutionierung wird die Entmythologisierung und Entsupranaturalisierung des Gottesgedankens als dessen Entsubstantialisierung fortgesetzt. Der als unmittelbar-selbständiges und allmächtiges Wesen vorgestellte Gott scheitert" (61; vgl. auch 65). Den Gewinn dieser Kritik sieht W. in einem zweifachen, nicht mehr auf "Asymmetrie", sondern "Symmetrie" beruhenden Freiheitsverständnis. "Das revolutionierte göttlichmenschliche Verhältnis ist das der wechselseitigen Anerkennung, das sich als Geist der Freiheit bezeichnen läßt. Wechselseitige Anerkennung beruht auf einem symmetrischen Verhältnis von Selbständigen" (62).

Die naheliegende Vermutung, daß mit der Entmythologisierung, Entsupranaturalisierung und Entsubstantialisierung auch kaum noch eine symbolische Ausdrucksweise möglich zu sein und damit die Vorstellung Gottes jeden Sinn verloren zu haben scheint, beschwert W. nicht. Aber: Wozu bedarf es für den Prozeß wechselseitiger Anerkennung unter vernünftigen Subjekten noch der Gottesidee? Und solch ein gereinigter, auf einige spekulative Theologumena zugespitzter und durch einen planen Soziologismus auf Anpassungsfähigkeit hin getrimmter Protestantismus sollte sich dem modernen kritischen Bewußtsein empfehlen? W. scheint selbst daran zu zweifeln. Einerseits versucht er dem Protestantismus eine Funktion für die Kultivierung des Spannungsverhältnisses von individueller und sozialer Freiheit zuzuweisen (67). Andererseits (107) heißt es im Blick auf das soziale Handeln des Menschen, es bedürfe "keiner zusätzlichen religiösen oder theologischen Abstützung, weil es eigenen­ autonomen ­ Zielsetzungen oder Normen folgt". Damit scheint W.s Versuch aber schon an der Schwelle ins Leere zu laufen.

W. sieht den "gegenwärtigen Protestantismus" in einer verheerend-desolaten Lage. Er formuliert berechtigte kritische Anfragen gegenüber Fehlentwicklungen in der protestantischen Theologie, ohne freilich auch nur ansatzweise nach den Gründen solcher Entwicklung zu fragen und sie von daher verständlich zu machen. ­ Vor allem aber belastet er seine Erwägungen mit ungebremsten Überzeichnungen, schiefen Alternativen und hämischer, auch vor Primitivismen nicht zurückscheuender Kritik (vgl. u. a. 107 f., 197), so daß der Anstoß des Buches kaum eine konstruktive Diskussion auslösen wird. Mit der Reduktion der christlich-religiösen Substanz auf die ­ ohnehin nur angedeuteten ­ blassen Konstrukte einer spekulativ gedachten Trinitätslehre und einer um alle Bezüge zur Figur des historischen Jesus gekappten und ebenso spekulativ angesetzten Christologie (83-85) wird hier der Protestantismus in Grund und Boden saniert. Und wenn W. vorgibt, sich mit solcher Sanierung in Übereinstimmung mit dem neuprotestantischen Frömmigkeitsverständnis (64: "von Schleiermacher über Richard Rothe und Albrecht Ritschl bis Ernst Troeltsch") zu befinden, muß das als Irreführung zurückgewiesen werden. Klarer als mit Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit als dem "Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit" konnte der Gedanke der "Asymmetrie" schwerlich zum Ausdruck gebracht werden. Daß Schleiermachers Theologie von spekulativen Interessen an der Trintitätslehre und Christologie meilenweit entfernt ist, braucht man einem gelehrten Theologen und Philosophen wie W. nicht erst zu versichern. Diese Distanz, vor allem gegenüber der Trinitätslehre, gilt übrigens auch für die anderen genannten Theologen; zu R. Rothe zitiert W. selbst die einschlägige Äußerung, daß "die athanasianische oder irgendwelche wirkliche Trinitätslehre ... platterdings unmöglich" sei (191. Hervorhebung von H. F.)! Und wenn W. sich für seine Kritik am Umgang der protestantischen Theologie mit der Hl. Schrift auf den Schleiermacher der "Reden" bezieht, dann hätte er ruhig hinzufügen können, daß nach dem Schleiermacher der Glaubenslehre die Hl. Schrift zu den "wesentlichen und unveränderlichen Grundzügen der Kirche" gehört. Solche Einschätzung braucht den kritischen Umgang mit der Hl. Schrift nicht auszuschließen und tut es bei Schleiermacher auch nicht, wie W. selbst weiß .

Durch die schroffen und schiefen Alternativen, die er hier (Ursprungsmythos!) wie anderswo aufbaut, wird das reiche Erbe nicht produktiv weitergeführt, sondern verspielt. Viel eher könnte man an Tillichs Theologie, den W. erst ganz zum Schluß ins Spiel bringt (200), studieren, wie sich der zu Recht angemahnte Umformungsprozeß unter gewandelten Bedingungen fortführen ließe. Aber im Unterschied zur liberalen Offenheit Tillichs, der schon methodisch durch das Prinzip der Korrelation weite Verstehens- und Interpretationshorizonte eröffnet, exekutiert W. einen eisernen Doktrinarismus, der alles als "ungebildet" niederwalzt, was sich ihm in den Weg stellt. Wer, philosophisch gesprochen, Rezeptivität nur als verdeckte Spontaneität in den Blick bringt, wer, theologisch gesprochen, das Verständnis Gottes als des Schöpfers nur als selbstschöpferische Fiktion des religiösen Subjektes oder umgekehrt als Angriff auf die menschliche Freiheit zu entlarven vermag, dem scheinen auch für Elementarphänomene der christlichen Religion wie Heil, Gnade, Rechtfertigung, Erlösung und Segen die Verstehens- und Interpretationsmöglichkeiten zu fehlen. Es ist schwer einzusehen, wie sich die im Gegenzug angebotenen, freilich nur andeutungsweise vorgetragenen religionsphilosophischen Konstrukte in lebensfähige empirisch-soziokulturelle Verhaltensmuster sollten umsetzen lassen können. Und daß damit ein substantieller Beitrag zur Erneuerung des Protestantismus als geschichtlicher Gestalt und Kultur gelebter Frömmigkeit sollte geleistet sein ­ nach Einschätzung des Rez. eine aberwitzige Vorstellung!