Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/1997

Spalte:

1063–1065

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Seils, Martin

Titel/Untertitel:

Glaube.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1996. 547 S. gr.8° = Handbuch Systematischer Theologie, 13. Kart. DM 198,­. ISBN 3-579-04942-9.

Rezensent:

Hartmut Rosenau

Es ist ein erstaunlicher Befund, daß ausgerechnet in der protestantischen Theologie, die dem "sola fide" der Reformatoren verpflichtet ist, das Thema "Glaube" vergleichsweise selten zum Gegenstand einer umfassenden monographischen Erörterung gewählt wird (403). Vielleicht liegt das auch daran, daß zur Klärung gerade dieses theologischen Grundbegriffs ein kaum noch zu überblickender Horizont historischer wie systematischer Problemstellungen mitbedacht werden muß, ohne den eine angemessene Erörterung nicht möglich ist. Martin Seils, emeritierter Dogmatiker an der Universität Jena, bringt die dazu erforderliche Kompetenz unbestritten mit und geht in seinem vorliegenden Buch kenntnisreich und quellenkundig den Entwicklungen und Verwicklungen des Verständnisses von "Glaube" ­ entsprechend der bekannten Anlage der Reihe "Handbuch Systematischer Theologie" ­ von der Reformation bis zur Gegenwart nach.

Obwohl nach den Vorgaben der Reihe den Reformatoren, hier vor allem Luther (21-90), dann aber auch den "Klassikern" des 20. Jh.s, hier vor allem Tillich (241-295), ein exemplarischer Schwerpunkt zukommt, geht S. aber auch auf das sich immer weiter ausdifferenzierende Glaubensverständnis zwischen diesen beiden Epochen ein, das sich zunehmend auch der Infragestellung durch die Religionskritik intra et extra muros ecclesiae stellen muß und somit die Diskussion bis heute noch mitbestimmt (360-402). Ebenso wirft S. Seitenblicke auf repräsentative philosophische und katholische Positionen zum Thema "Glaube" im 19. und 20. Jh.(403-463), bevor er dann im Anschluß an eine Diskussion der Beiträge von Brunner, Ebeling und Pannenberg (464-505) ein eigenes Verständnis von "Glaube" skizziert (506-540).

Da aber die Abfolge der Kapitel hier nicht immer der historischen entspricht, kommt es bei der Anlage des insgesamt sehr informativen Buches jedoch häufiger sowohl zu Gedankensprüngen als auch zu entbehrlichen Wiederholungen. Im Duktus und Stil handelt es sich weitgehend um eine eher thetische als argumentativ entwickelnde Rekonstruktion einzelner Positionen, deren quantitative Gewichtung manchmal nicht dem entsprechenden sachlichen Ertrag und der systematischen Bedeutung entspricht: gemessen an der relativen Ausführlichkeit, mit der z. B. Elert und Althaus behandelt werden (296-336), kommen Schleiermacher, Kierkegaard und vor allem Bultmann erheblich zu kurz, auch wenn Kierkegaards Formel vom Glauben als einem im Selbstverhältnis implizierten Gottesverhältnis programmatisch das letzte Wort der Zusammenfassung zukommt (540).

Vor allem mit Luther betont S. den personalen ("ganzheitlichen") und soteriologischen Charakter des christlichen Glaubens (525; 532) sowohl gegenüber einer schon mit Melanchthon ansetzenden und gegenwärtig vor allem bei Pannenberg vorzufindenden Tendenz zu einer intellektualistischen Engführung (564) als auch gegenüber einer ontologischen Ausweitung, wie sie z. B. Tillich vornimmt, wenn er den Glauben als Bezug zum Unbedingten verstehen will (521). Doch mit der Betonung der personalen Struktur des Glaubens bleibt es schwierig, den neuzeitlichen und modernen skeptischen Einwänden gegen den Glauben zu begegnen, die ja nicht unbedingt bestreiten, daß der Glaube als ein daseinsbestimmendes Vertrauen verstanden werden kann, sondern eher, daß es gerade der christliche Glaube sein soll, der diese Struktur adäquat erfüllt.

Zu diesem Problem geht S. mit Recht immer wieder auf die Konstitutionsbedingungen des Glaubens in der nach wie vor ungelösten Spannung zwischen einem passiven Widerfahrnis (Glaube als Geschenk) und einem aktiven Ergreifen (Glaube als Zustimmung) im Hinblick auf die intendierte Heilsgewißheit trotz aller dem Glauben inhärierenden "Anfechtung" ein. Hier liegt in der Tat ein "Schlüsselproblem" des protestantischen Glaubensverständnisses (57), da hier das "sola fide" entgegen dem neuzeitlichen Ideal der Selbstbestimmung mit dem "sola gratia" zur Deckung gebracht werden muß, ohne freilich die Personalität des Glaubenden aufzuheben (302). Zu zeigen wäre an dieser Stelle, daß und inwiefern der Glaube nicht etwas ist, was eine Person ergreift oder ihr widerfährt, sondern daß sich Personalität allererst im Glauben als Relationsgefüge konstituiert (126) ­ oder mit Blick auf Calvin formuliert, "daß im Erkennen des Glaubens das Überzeugtsein dem Begreifen immer voraus ist" (181). Doch gegenüber einem romantisch-heroischen Verständnis von Glaube als "Wagnis" (284) ist sich S. nüchtern darüber im klaren, daß Glaube sich immer nur in einem bestimmten vorgegebenen "Sprachraum" (506) und "Denkraum" (510) vollzieht, der nicht eo ipso "allgemeine Anerkennung" beanspruchen kann (514).

Dieser Sprach- und Denkraum ist im Blick auf die christliche Tradition nach S. vor allem durch die alt- und neutestamentliche Überlieferung bestimmt (506 ff.). Dabei scheint mir gerade das hermeneutische Potential des Alten Testaments auch hinsichtlich der gegenwärtigen Krise des Glaubens als praktischer Lebensentwurf noch nicht hinreichend ausgeschöpft zu sein. Wenn S. die interessante Frage aufwirft, warum eigentlich in der jüdisch-christlichen Tradition das Thema "Glaube" eine solch eminente Bedeutung hat (519), so könnte man auch für eine mögliche Konvergenz zwischen einem philosophischen und theologischen Glaubensverständnis auf die alttestamentliche "Weisheit" rekurrieren, um den oft ebenso überfrachteten wie unterschätzten Glauben als ein sapientales Denken zu verstehen. Von hier aus wäre es reizvoll, bei der Erörterung dieses schwierigen Themas, zu dem S. mit seiner Monographie einen zweifellos großartigen Beitrag geleistet hat, nicht erst mit der Reformation einzusetzen, sondern auch die Traditionen der Kirchenväter und der mittelalterlichen Theologie nicht aus den Augen zu verlieren.

Eine weitere Anregung, die das Buch von S. damit über das von ihm souverän präsentierte und aufgearbeitete Material hinaus vermittelt, könnte darin bestehen, über das religiöse Phänomen des Glaubens auch im interreligiösen und interkulturellen Kontext nachzudenken. Denn daß der Glaube nicht nur als daseinsbestimmendes Vertrauen, sondern auch als Gefährdung gesellschaftlicher Lebensstrukturen wahrgenommen wird und als solcher im öffentlichen Bewußtsein präsent ist, unterstreicht die Bedeutung gerade dieses theologischen Themas, das S. aus der Binnenperspektive protestantischer Theologie aufgegriffen hat.