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Ausgabe:

Mai/2008

Spalte:

581–582

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Söbbeke-Krajewski, Markus

Titel/Untertitel:

Der religionsrechtliche Acquis Communautaire der Europäischen Union. Ansätze eines systematischen Religionsrechts der EU unter EU-Vertrag, EG-Vertrag und EU-Verfassungsvertrag.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2006. 397 S. gr.8° = Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft, 168. Kart. EUR 76,00. ISBN 3-428-12120-1.

Rezensent:

Helmut Goerlich

Die Dissertation von Markus Söbbeke-Krajewski, die bei Dirk Ehlers in Münster entstand, befasst sich mit einem Rechtsbestand, der erst allmählich ins Bewusstsein der Wissenschaft dringt, aber bei Gericht schon auf dem Tisch liegt: Die EU kann nicht vermeiden, Recht zu schaffen, das sich religionsrechtlich auswirkt. Daher reicht ihr Recht allmählich in Bezirke, die sie gar nicht zu erreichen suchte. Während dies im Falle der EMRK durch die in ihr gewährleistete Religionsfreiheit und ein auch religiöse Anknüpfungspunkte erfassendes Diskriminierungsverbot einleuchtet und dort die Rechtsprechung des Gerichtshofs in Straßburg den unterworfenen Staaten – unter dem Stichwort »margin of appreciation« – möglichst viel Spielraum zu lassen sucht, liegt es unter dem Recht der EU etwas anders. Ihr Recht setzt sich nämlich gegen nationales Recht unmittelbar durch, bedarf also nicht der ergänzenden Um­setzung durch Rechtsakte der Mitgliedstaaten. Daher müssen die nationalen Gerichte es meist auch unmittelbar anwenden, können sich also nicht zurücklehnen und auf eine nationale Gesetzgebung, die es umsetzt, warten. Deshalb wird nun in einigen Varianten des Kopftuchstreits europäisches Antidiskriminierungsrecht praktisch.
Die Arbeit befasst sich nach einer Einführung insbesondere mit folgenden Aspekten, die dann nicht nur aus den geltenden Verträgen erschlossen, sondern auch im Licht des sie fortführenden Vertrages über eine Verfassung für Europa betrachtet werden: Zu­nächst geht der Vf. auf die Ermächtigung der EG zur Regelung religionsrechtlicher Sachverhalte ein. Grundsätzlich gilt das Prinzip der begrenzten Einzelfallermächtigung. In diesem Rahmen haben die Mitgliedstaaten religionsrechtliche Befugnisse weder früher auf die Gemeinschaft noch heute auf die Union übertragen. Indes stieß man schon bei Gründung von Gemeinschaft und Union auf die Religionsfreiheit der EMRK und es bestand seit der ersten Fassung der europäischen Verträge eine Abrundungskompetenz der europäischen Ebene; zudem entwickelte die Rechtsprechung auch die Figur der Zuständigkeit kraft Sachzusammenhanges im Sinne einer implied-powers-Lehre und einer Annexkompetenz. Das führte dazu, dass religionsrechtliche Regelungen nicht mehr ausgeschlossen waren. Sie erreichten jedoch nicht die »staatskirchenrechtliche« Ebene der grundsätzlichen Gestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Religionsgesellschaften. Das veranlasst die Untersuchung, den Begriff des Religionsrechts in Abgrenzung zu jener Ebene einzuführen und zu etablieren. Alsdann entfaltet sie die Religionsfreiheit als ungeschriebenes Grundrecht des Gemeinschaftsrechts, das seine volle Ausprägung in EuGRCH und Verfassungsvertrag erfährt, wobei die Charta als nicht nur er­klärter, sondern schon – insbesondere im Sinne einer Rechts­erkennt­nis­quelle– maßgeblicher Rechtsbestand begriffen wird, wäh­rend der Verfassungsvertrag als förmliches Dokument ge­scheitert ist und selbst dem Gehalt nach nun zu scheitern droht. Dabei findet eine Zuordnung von EMRK und Unionsrecht statt, welche die Rezeption des unter der EMRK erreichten Schutzniveaus sicherstellt und auch einen weitergehenden Schutz zulässt, wie näher gezeigt wird. Das führt dann zum Status von Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften nach dem Verfassungsvertrag, der allerdings schon heute durch ein Vertragsprotokoll vorgezeichnet ist. Auch wird die Achtung der Vielfalt der Religionen gemäß Art. 22 EuGRCH dargestellt, was dann zu vertragsrechtlichen Antidiskriminierungsregeln führt, die schon geltendes Recht sind. Hinzu tritt sodann, allerdings in kaum griffiger Weise, der Schutz des nationalen Religionsrechts durch den Grundsatz der Wahrung der nationalen Identität in Gemeinschaft und Union. Dabei ergänzt diesen Schutz in ähnlicher Weise das europäische Subsidiaritätsprinzip, wonach die niedrigere Regelungsebene der höheren gegenüber vorrangig zuständig bleibt, wenn sie zu effektiven Regelungen in der Lage ist und keine Veranlassung für einheitliche Regelungen besteht.
Dieses Prinzip greift bisher kaum. In effektiverer Weise schützt hingegen der unionsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vor Zugriffen. Religionsrecht als Teil der Regelungsmaterie »Kultur« hat allerdings keine spezifisch wirtschaftliche Orientierung, berührt sich aber gelegentlich mit wirtschaftsrechtlichen Regelungen, etwa wenn es um die Rücksichtnahme auf religiös bedingte Verhaltensweisen am Arbeitsplatz oder bei der Produktion von Waren geht. Für Kultur als solche besteht keine europä­ische Kompetenz. Ausnahmen ergeben sich in Fällen, in denen wirtschaftliche Tatbestände zugleich erfasst sind. In diesen Fällen aber bedürfen Entscheidungen der Zustimmung aller Mitgliedstaaten. Am Ende der Arbeit steht eine eingehende Darstellung des Antidiskriminierungsrechts, für dessen Verabschiedung der europäischen Ebene eine vertraglich geschaffene Befugnis eingeräumt wurde, die inzwischen genutzt und umgesetzt ist. Dieses europä­ische Recht enthält indes Ausnahmetatbestände zu Gunsten der Kirchen, insbesondere die das Dienst- und Arbeitsrecht erfassenden Tendenzschutzklauseln. Sie ist ergänzt durch Ansätze von Regelungen auf kollektiver Ebene, die zu einem generellen Tendenzschutz führen können.
Schließlich fasst die Arbeit ihre Ergebnisse in 29 Thesen verständlich auf wenigen Seiten zusammen. Sie ist gut geschrieben und durch ein Stichwortverzeichnis neben einer detaillierten Gliederung zugänglich gemacht. Wer sich ein Bild darüber machen möchte, in welchem Maße eine Europäisierung und damit hier zugleich europäische Konstitutionalisierung des Religionsrechts schon fortgeschritten ist, der wird auf diese Arbeit stoßen, auf sie zugreifen und diese alsbald lesen. Sie zeigt auch, dass die Europäisierung der Religionsfreiheit schon jetzt dazu führt, dass jedenfalls in der EU nur ein im engeren Sinne europäischer, d. h. die Gleichheit aller Religionen und Weltanschauungen berücksichtigender, sie aber nicht aus der Öffentlichkeit ins Private abdrängender Laizismus möglich erscheinen kann. Das mag unter dem Regime allein der EMRK noch anders sein, da sie Staatskirchen in stärkerem Maße duldet. Dabei zeigt dies den Unterschied zwischen einem bloß völkerrechtlichen und einem integrativ-bündisch gestalteten Rechtsregime sehr deutlich. Letzteres führt zu einer sehr viel stärkeren Verdrängung des nationalen Rechts und – in Teilen – der nationalen Verfassungskultur, ohne sie vollständig auszuhebeln. Daher sind dann die Juristen gefragt, um das delikate Verhältnis einer adäquaten Zuordnung dieser Rechte herbeizuführen, ohne einer Seite zu viel einzuräumen. Derlei ist aber nicht nur im Religionsrecht geboten, sondern auch in anderen kulturellen Bereichen; man denke nur an das Rundfunk-, Medien- und Filmförderungs- oder Kulturgüterrecht. Hier gelangt das inzwischen er­schlossene europäische Religionsrecht eher in eine führende Rolle, welche das Bewusstsein für die Komplexität der Rechts- und Sachlagen schärft. Auch dazu beigetragen zu haben, ist ein wesentlicher Verdienst der angezeigten Arbeit.