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Ausgabe:

Mai/2008

Spalte:

579–580

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Rathke, Carola

Titel/Untertitel:

Öffentliches Schulwesen und religiöse Vielfalt. Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 7 Abs. 1 GG und der staatlichen Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2005. 387 S. gr.8° = Schriften zum Öffentlichen Recht, 1005. Kart. EUR 86,00. ISBN 3-428-10204-5.

Rezensent:

Helmut Goerlich

Die nunmehr anzuzeigende, schon ältere Schrift von Carola Rathke – ausgelöst auch durch die Kopftuch-Debatte – wurde im Winter 1999/ 2000 in Freiburg als Dissertation angenommen; sie ist bei Rainer Wahl entstanden. Die jüngere Entwicklung zum Thema behandelt ein Nachtrag. Die amerikanische Judikatur und Diskussion sind einbezogen. Noch fehlt aber die Rezeption des Rechts der Europäischen Union im engeren Sinne, also besonders des Antidiskriminierungsrechts. Dennoch ist das Buch eindeutig von Interesse.
Gegenwärtig scheinen im Kopftuchstreit zwei Regelungsmodelle auf dem Prüfstand zu stehen: Das eine ist das baden-württembergische Regelungsmodell, das eine rollenorientierte Lösung sucht, d.h. dem Staat aufgibt, sich zu orientieren und die Maßstäbe zu setzen. Diese Konzeption führte zu der jüngsten Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte, die – angeführt vom Bundesverwaltungsgericht – abstrakt-generelle Regelungen in Frage stellen, die im Ergebnis nicht-christliche Kleidung unabhängig von der Wirkung im konkreten Fall in der Schule diskriminieren. Zuletzt hat das Verwaltungsgericht Stuttgart europarechtlich im Licht von Art. 14 EMRK und der Antidiskriminierungsrichtlinien der EU diese Konzeption des Landes diskreditiert. Sie steht nun zur Prüfung beim Verwaltungsgerichtshof in Mannheim, die Berufung ist zugelassen (siehe VG Stuttgart, Urt. v. 1.7.2006 – 18 K 3562/05 – abgedruckt in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2006, 1444 ff.; auch in: Zeitschrift für Beamtenrecht 2007, 135 ff. mit Anm. v. H. Wißmann). Dem steht das bayerische Regelungsmodell gegenüber, das von der Wirkung ausgeht, also einzelfallorientiert zu Lösungen kommen kann. Besitzt ein Kleidungsstück eine fundamentalistisch-konfliktauslösende Ausstrahlung, wird diese wahrgenommen und ist latent streitstiftend, so ist es unzulässig, anderenfalls nicht. Diese Konzeption stand zur Prüfung vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof, die Entscheidung liegt nun vor (vgl. BayVerfGH, Entsch. v. 15. Januar 2007 – Vf. 11-VII-05; zu dieser und zur zuvor zitierten Entscheidung vgl. H. Goerlich, Integration als Aufgabe – oder die Rechtsprechung auf dem Weg zu einem Religionsrecht in gleicher öffentlicher Freiheit, in: B. Pieroth u. a. [Hrsg.], Freundesgabe für Friedrich Müller, i. E.).
Die hier angezeigte Untersuchung befasst sich indes nicht nur mit dem Kopftuch, sie setzt sich auch mit der älteren Debatte um das Kreuz in der Schule und die Teilnahme am Sportunterricht bzw. an der Klassenfahrt auseinander. Sie sucht nach einem verallgemeinerungsfähigen Konzept für die staatliche Rolle, die den Streit abstrakt-generell abfangen könnte, lässt sich also zunächst nicht auf das Risiko ein, der religiösen Entfaltung größeren Raum zu lassen und erst im Fall eines konkreten Konflikts die Ausübung der Religionsfreiheit einzuschränken, um die Auseinandersetzung zu entschärfen. Die Modelle, für welche die Schrift dann ihre Lanze bricht, beruhen auf einer Rücknahme der staatlichen Präsenz im schulischen Bereich bis hin zu Privatschulen und einem Zertifikatssystem, das Bildungsgutscheine vergibt, die in ganz unterschiedlichen Einrichtungen eingelöst werden können und so die Vielfalt fördern. In solchen Modellen schwindet die Präsenz des Staates im Sinne seiner abstrakt-normativen Neutralität. Dieses Modell ist allerdings nur in urbanen Lebensformen voll verwirklichbar, auf dem Lande bringt es erhebliche Schwierigkeiten mit sich. Auch wird es Minderheiten und weniger mobile soziale Schichten aus verschiedenen Gründen unterschiedlich treffen, es sei denn, es werden ergänzende und stützende Maßnahmen zugleich und konsequent ergriffen. Verfolgt man dieses Modell stringent, so gibt man die integrative Funktion des Staates selbst preis, jedenfalls in den Formen, die bisher die kulturelle Tradition des Humboldtschen Ideals und die unmittelbar republikanischen Bildungstraditionen in Frankreich und Nordamerika ausgezeichnet haben. Dort sind sie längst durch ein entwickeltes Privatschulwesen unterlaufen. Hier steht dies wohl nun bevor. Die Schrift bezieht sich allerdings insbesondere auf das holländische Modell des Rückzugs des Staates, das indes dann näher zu untersuchen wäre.
Zu solchen Ergebnissen kommt die Untersuchung auf folgendem Wege: Nach einer Einleitung, die den perennierenden Charakter der Schwierigkeit des Verhältnisses von Religion und Staat, wie schon das Vorwort betont, und die politische Philosophie nicht ausklammert, findet man die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG dargelegt. Es folgt eine Erörterung des staatlichen Aufsichtsrechts über das Schulwesen nach Art. 7 Abs. 1 GG. Anschließend werden die im Grundgesetz zu Grunde gelegten Schultypen untersucht. Dann öffnet sich das Feld für Literatur- und Rechtsprechungsanalysen, einerseits zur Integration religiöser Elemente in den schulischen Bereich, andererseits für insbesondere religiös bedingte Einwände gegenüber einer »neutralen« Schulverwaltung. Danach erschließt die Untersuchung sich den Blick auf das »Spannungsverhältnis« zwischen Religionsfreiheit und Schule in den USA sowie für die neuere politische Philosophie, insbesondere unter der Trias »Liberalismus – Kommunitarismus – Republikanismus«. Alsdann werden diese Analysen zum Spiegel, in dem die »verfassungsrechtlichen Vorgaben«, insbesondere auch verfassungsvergleichend, neu ins Bild rücken. Das ergibt weitere Ebenen für rechtsdogmatische Analysen zu Freiheit und Neutralität unter dem Grundgesetz, die in ihrer individual- und auch staatskirchenrechtlichen Fundierung nicht nur dargelegt, sondern geradezu durchdrungen werden. Dann sucht die Arbeit insbesondere nach Partizipations- und Verfahrensmodellen zwischen Staat und Gesellschaft, Eltern und Einrichtungen sowie – last but not least – Schülern und Lehrern, welche – vor einem übereilten Griff zu privatschulorientierten Modellen – die Rechtspositionen der Beteiligten und des »Staates« als Gesetzgebung, Verwaltung und erziehungsbefugtem Diener der Verfassung angemessen zu vermit­teln suchen. Daraus ergeben sich Konfliktlösungsmodelle, welche gerade für die immer wieder aktuellen Fragen die Folie langfristiger Lösungen abgeben können, insbesondere wenn die Rechtsprechung ergibt, dass es darauf ankommt, nicht abstrakt-generelle Lö­sungen – insbesondere durch Verbote und Pflichtigkeiten – anzusteuern, sondern konkret-individuelle Abarbeitungsmodelle für kon­fliktträchtige Verhaltensmuster auf allen Seiten zu finden. Der Etatismus abstrakt-genereller Regelungen hat zwar den Charme der auf den ersten Blick griffigen Durchsetzbarkeit. Er eröffnet aber nicht den Raum, zu dem die Freiheiten der Verfassungen und Rechteerklärungen Zutritt verschaffen. Und zudem vermag jener Etatismus Wandlungen der Gesellschaft nicht abzufedern. Die Anstrengung vermittelnder Streitauflösung und Befriedung wird dann allerdings abverlangt. Unterbleibt sie, besteht in der Tat die Gefahr einer Ausdifferenzierung des Schulwesens in eine Vielfalt mit dem Ergebnis einer Fragmentierung der Gesellschaft, die in ein Gemeinwesen schwerlich zu reintegrieren sein wird.
Der große Vorzug der Arbeit liegt gerade darin, die Rechtsgrundlagen einer solchen Entwicklung näher ausgeleuchtet und fortgebildet zu haben. Durch ihre verzögerte Veröffentlichung und die vordergründige Szenerie des immer wieder belebten Kopftuchstreites droht derlei verdrängt zu werden. Indes verdient die weiterführende Perspektive der Arbeit besondere Beachtung.